Welche Fehler auch ich gemacht habe und was du vielleicht für dich daraus ableiten kannst

veröffentlicht im September 2020


In das Leben mit einem autistischen Kind werden die meisten von uns ganz unmittelbar hineingeworfen. Entweder merken wir bereits von Geburt an, dass sich unsere Kinder anders entwickeln oder wir spüren im Laufe der Jahre, dass etwas anders ist. Auf jeden Fall ist „Autismus“ etwas, mit dem wir uns plötzlich auseinandersetzen müssen.

Niklas und ich in Norwegen

Dabei ist vor allem die andere Entwicklung und das nach außen hin sichtbare Verhalten anfangs das, was uns und auch unserem Umfeld auffällt. Dass sich dahinter Gründe verbergen, die die andere Entwicklung und das andere Verhalten unserer Kinder erklärbar machen, wissen wir anfangs nicht.
Wir lernen gemeinsam mit unseren Kindern und dabei machen wir natürlich auch nicht alles richtig. Ich möchte euch heute von meinen größten Fehlern erzählen.

Ich möchte das tun, um denjenigen unter euch, die noch ganz am Anfang stehen, zu zeigen, dass sie nicht alleine sind und dass es ok ist, dass wir nach und nach dazu lernen.
Und ich möchte es erzählen, damit ihr manche Fehler nicht machen müsst.
Ich möchte es hier auch schreiben, um denjenigen unter euch, die schon ältere Kinder haben und rückblickend wissen, dass sie nicht immer alles richtig gemacht haben, Schuldgefühle zu nehmen.

Zu viel Förderung

Es ist ganz normal und es ist auch richtig, dass wir unsere Kinder fördern. Wir wollen als Eltern das Beste für unsere Kinder und dazu gehört natürlich auch, dass wir sie unterstützen, wenn sie Hilfestellung in Teilbereichen brauchen.
Auch bei uns war das natürlich so. Niklas konnte erst mit 5 Jahren laufen, da war v.a. auch physiotherapeutische Förderung nötig. Inzwischen rennt er jedem davon (was wieder eine andere Herausforderung ist), aber er erkämpfte sich den Weg hin zum aufrechten Gehen in seinem Tempo.
Niklas spricht nicht und daher bekam er auch Logopädie, viele Jahre lang, bis uns die Logoädin sagte, dass sie nicht weiter weiß und dass wir den Weg weitergehen sollten, den Niklas uns selbst im Kindergarten angeboten hat – die Gebärdensprache. Das taten wir dann ja auch (HIER nachzulesen).

Psychomotorik und Ergotherapie, Musiktherapie, Reittherapie – ich überlege gerade, ob das alles war? – ja, diese Therapieformen schlossen sich an, ergänzten einander und lösten sich auch wieder ab.
Irgendwann war es allerdings so, dass es zu viele Termine gab und das war alles andere als gut – weder für Niklas, noch für uns als Familie.

Ich glaube, dass wir als Eltern häufiger überdenken sollten, welche Therapien in welcher Intensität wirklich notwendig sind. Wie schon gesagt, Förderung ist wichtig und sie zu vernachlässigen, wäre verantwortungslos. Aber es muss angemessen sein. Und sie darf nicht zum Ziel haben, einen nichtautistischen, „normalen“ Menschen aus unseren Kindern zu machen.
Nicht dass ich dieses Ziel jemals verfolgt hätte, aber ich hatte phasenweise aus den Augen verloren, dass es viel mehr Zeiten ohne Therapien geben muss und dass nicht jede Aktion, die wir mit unseren Kindern machen, ein Ziel verfolgen muss.
Wir dürfen auch einfach mal nur sein mit unseren Kindern. Ganz ohne schlechtes Gewissen. Oft geben sie uns das Tempo ihrer Entwicklung vor und wir können vieles nicht verbessern, indem wir daran „ziehen“ und Druck ausüben. Wir können unterstützen, begleiten und am Ende sollte eine Verbesserung der Lebensqualität unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse stehen.

Klar, man kann vieles erst hinterher beurteilen. Aber ich möchte dich ermutigen, auch jetzt schon einiges zu hinterfragen. Gerade für den Therapiebereich wären diese Therapiekriterien eine gute Möglichkeit dafür.

Hohe Erwartung an andere

Ich hatte lange Zeit, sehr hohe Erwartungen an andere. Ich war ungeduldig mit denen, die nicht verstanden, worum es in unserem Leben geht und verbitterte eine Zeit lang, weil ich mich alleine und unverstanden fühlte.
Irgendwann gefiel ich mir selbst nicht mehr in dieser Rolle.

Und es ist ja in der Tat so, dass wir Eltern und auch unsere Kinder vielen Menschen begegnen, die ignorant sind und sich nicht einmal bemühen, uns zu verstehen und sich auf unsere Kinder einzustellen.
Was ich im Laufe der Jahre gelernt habe: es lohnt sich nicht, sich allzu sehr darüber aufzuregen. Wenn uns Menschen am Herzen liegen und wir ihnen, dann werden sie zuhören und versuchen, zu verstehen. Wenn dies nicht sofort gelingt, dann dürfen wir auch geduldig sein und auch unserem Umfeld etwas mehr Zeit einräumen, um sich auf unsere neue Situation einzustellen.
Und es ist auch in Ordnung, wenn nicht jeder all das gedanklich so intensiv durchdringt, wie wir selbst. Wenn wir hohe Erwartungen an uns selbst haben, dürfen wir das nicht auf andere übertragen (ein besonders schwieriges Kapitel für mich).

Aber wenn manche Menschen nicht mehr in unser Leben passen, dann dürfen wir uns auch von ihnen verabschieden. Es bringt meistens nichts, an Personen festzuhalten, die eigentlich kein Interesse mehr an uns und unseren Kindern haben. Manchmal passt es einfach nicht mehr, das ist auch ohne ein behindertes Kind zu haben, oft der Lauf der Dinge, dass sich Menschen auseinander entwickeln. Dafür kommen dann neue Freundschaften dazu.

Reibe dich daher nicht zu sehr an den Personen auf, die nicht verstehen wollen oder können und finde eine Haltung zu ihnen, die es Dir ermöglicht, ohne Verbitterung und mit etwas mehr Gelassenheit auch der Unwissenheit anderer gegenüber zu leben.
Schwierig, ich weiß, ich lerne immer noch….

Mehr dazu findest du auch im Beitrag „Von Menschen, die Deine Energie und Nerven rauben und wie Du Dich von ihnen löst“

Es hat nicht alles mit Autismus zu tun

Als ich in ein Tief rutschte und nicht mehr ein noch aus wusste, dachte ich, dass das alles damit zusammenhängt, dass ich ein autistisches Kind habe. Ihn als Kind machte ich nicht für die Schwierigkeiten verantwortlich, aber alles, was drumherum existierte: Personen in Kindergarten, Schule, TherapeutInnen, Mitmenschen, ÄrztInnen, Ämter, die Krankenkasse, einfach alles. Alles war dafür verantwortlich, dass es mir schlecht ging. Irgendwann war es dann soweit, dass ich eine Psychologische Begleitung in Anspruch nahm, die mir im Verlauf der folgenden Monate die Augen öffnete:
Ja, es gab und gibt natürlich Dinge in meinem Leben, die mit Niklas zusammenhängen und unmittelbar Schwierigkeiten und Sorgen verursachen. Aber es gab und gibt auch noch ganz andere Themen, die ich zur Seite geschoben hatte, die aber gerade weil ich ein autistisches Kind habe, unbedingt gesehen und „bearbeitet“ werden mussten. Es war eine riesengroße Erleichterung für mich, zu erkennen, dass eben nicht alles mit Niklas zusammenhängt, sondern dass es da noch ganz andere Themen gibt.

Diese Arbeit mit meiner Therapeutin war für mich so erhellend, dass ich mich einige Jahre später selbst weiterbildete, um anderen Eltern auf diese Weise helfen zu können.

Overloads und Meltdowns richtig deuten

Das Verhalten unserer Kinder gibt und häufig Rätsel auf. Ich denke, das geht uns allen so. Und auch hier lernen wir mit der Zeit und merken ziemlich schnell, dass althergebrachte Erziehungsratschläge überhaupt nicht zielführend sind.
Ein Grund dafür ist, dass die Overloads und Meltdowns unserer Kinder fälschlicherweise als regulierbare Verhalten angesehen werden. Zu begreifen, dass es um Reizüberflutung geht, darum, dass sich unsere Kinder in diesen Situationen in Not befinden und es darum gehen muss, ihnen zu helfen (so wie sie es sehr individuell dann brauchen) und darum, dass die Verantwortung bei uns liegt, um z.B. Rahmenbedingungen zu verändern, das braucht eine ganze Weile. Und auch ich musste das erst lernen.

Wenn man das begriffen hat, tun sich viele Aha-Effekte und viele Schlüsselmomente auf, in denen wir unsere Kinder womöglich erst richtig verstehen lernen. Wenn du das genauer nachlesen möchtest, dann gerne hier.

Sich mit anderen vergleichen

Das ist sicherlich ein gesamtgesellschaftliches Problem, dass wir uns ständig vergleichen. Vergleiche können ja immer nur einen Teilaspekt abdecken, häufig sehen wir nicht, was es sonst noch alles im Leben der anderen gibt, wie alles zusammenhängt und wo wir lieber nicht tauschen wollten, obwohl es auf den ersten Blick vielleicht ein verlockender Gedanke wäre.

Nicht, dass ich jemals tauschen wollte, aber natürlich gingen auch meine Blicke vergleichend hier und dorthin und oft fand ich mich dann auch bei ungerechten Gedanken wieder wie „Der geht es viel besser als mir“ oder „Der hat ja wohl überhaupt keine Probleme“. Manchmal braucht man solche Gedanken als Ventil und ich habe sie auch noch hin und wieder. Aber ich verliere mich nicht mehr darin, sondern sehe das Positive.

Daher mein Tipp: Gönne Dir hin und wieder auch mal solche Gedanken, aber behalte sie für Dich und betrachte sie als Ventil für Frust, den Du gerade mal loswerden musst.
Aber versuche insgesamt eine positive Haltung zu finden. Eine, die dein Leben eben unvergleichbar macht, weil es dein Leben ist, das du gemeinsam mit deinem autistischen Kind lebst – und kein anderer.

Unterschätze dein Kind nicht

Ich habe Niklas lange unterschätzt. Erst als er die Diagnose mit sechs Jahren bekam, begannen wir zu verstehen, der Blick auf ihn änderte sich, sein Verhalten erklärte sich uns und wir lernten ihn zum Teil nochmal ganz neu kennen.
Auch er merkte das natürlich und endlich agierten wir in vielen Belangen nicht mehr aneinander vorbei, sondern aufeinander zu. Vor allem im Bereich der Kommunikation war das der Fall und ist bis heute mit das wichtigste Thema in unserem Leben. Im ersten Buch zum Blog schreibe ich ausführlicher über diese Zeit.

Was ich hier damit sagen möchte: Wir dürfen unseren Kindern so viel mehr zutrauen, als wir das häufig für möglich halten. Sie bleiben oft hinter ihren Möglichkeiten zurück, weil die Rahmenbedingungen nicht passen oder wir nicht angemessen agieren, nicht genug Zeit geben, die richtige Kommunikationsform noch nicht gefunden haben und vieles mehr. Wir als Eltern stehen in der Verantwortung, unseren Kindern beim Sich-Entfalten-Können zu helfen. Sie können so viel mehr, als andere Personen auch denken und ihnen zugestehen.
Lasst uns helfen, das sichtbar zu machen, was in ihnen steckt.
Und lasst uns dabei stolz sagen können: mein Kind ist autistisch und das ist ok. Es braucht Hilfe und Unterstützung, vielleicht ein Leben lang, aber es bringt so viele bereichernde Eigenschaften mit sich, die es nicht verlernen, nicht abtrainiert bekommen und nicht verheimlichen soll.

Ich wünsche dir von Herzen, dass ihr einen guten Weg miteinander findet und Menschen, die euch zur Seite stehen.
Silke alias Ella

Inzwischen habe ich nach all den Jahren etwas ins Leben gerufen, das ich mir selbst gerade am Anfang gewünscht hätte: das Forum +plus+.
Schau dich gerne mal um, vielleicht ist es das passende Angebot auch für dich:

Zum Weiterlesen:

KOMMENTARE

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  1. Danke für diesen schönen Beitrag, der sehr wichtige Dinge anspricht. Mir – als Angehörige eines inzwischen erwachsenen autistischen Kindes – liegen die Absätze „Zu viel Förderung“ und „Unterschätze dein Kind nicht“ aus der eigenen Lebenserfahrung heraus ganz besonders am Herzen. Manchmal braucht es einfach nur mehr Zeit und Geduld.

    1. Danke für Deine Rückmeldung. Ja – zwei wichtige Themen. Aber so vieles weiß man anfangs einfach nicht und lernt stetig dazu. :-)

  2. Ich habe noch einen ganz anderen Fehler gemacht: ich habe mich manchmal zu schnell abwimmeln und es nur auf meine Erziehung abschieben lassen…

  3. Du sprichst mir mal wieder aus der Seele! Mein Sohn ist ein sehr besonderer junger Mann. Und ich möchte um nichts auf der Welt tauschen. Aber die Probleme, die von außen kommen (Thema Schulpflicht z.B.) machen uns das Leben wirklich schwer. Es tut so gut, hier immer mal wieder zu lesen und zu sehen, dass man nicht alleine ist mit diesen Problemen. Vielen Dank für deinen tollen Blog und vielen Dank, dass du auch meine Sohn schon ermöglicht hast, einen Gastbeitrag auf deinem Blog zu veröffentlichen. Ich finde diesen gemeinsamen Austausch so wichtig für alle Betroffenen und Beteiligten. Es gibt in schweren Zeiten immer wieder Kraft und den Mut, weiter für unsere ganz besonderen Kinder zu kämpfen.

  4. Hallo,

    ich fühle mich in dem Beitrag sehr verstanden. Wir waren auch mal in einer Phase, da saßen wir nur noch in Therapiewartezimmern. Ich hatte irgendwann die Nase voll und habe ALLES gestrichen. Plötzlich konnte sich unser Sohn viel Besser entwickeln. Er hatte Zeit eigene Erfahrungen zu machen. Ab und zu machen wir noch 10 Einheiten Ergotherapie für die Grapfomotorik.

    Auch die Meltdowns und Shutdowns sind so viel besser geworden, nachdem wir riegeros alle Nachmittagsprogramme gestrichen haben. Selbst Hausaufgaben lassen wir aus, wenn unser Sohn „zu voll“ ist.

    Danke für deine Worte

  5. Danke für diesen Beitrag, indem ich vieles von uns wiedergefunden habe. Es ist oft nicht einfach, vor allem wenn man alleine da steht. Aber auch ich habe gelernt, die Dinge anzunehmen wie sie sind.

  6. Ich habe jetzt endlich seit einem guten Viertel Jahr für meinen Sohn die Diagnose ASS. Er ist jetzt 18 1/2 Jahre alt und hat sechs/sieben Diagnostiken hinter sich l, die erste mit 5 Jahren. Es war ein Martyrium, jede Menge zusätzlichen Stress und soooo viel verschenkte Zeit,die nicht mehr aufgeholt werden kann. Nicht ein spezifisches Angebot/Förderung, immer wieder neuer Kampf wegen Schulbegleitungen (unqualifizierte) weil kein Gutachten. Überall betteln, kämpfen, langen Atem für minimale Unterstützung. Immer ein en halben Schritt vor und zwei zurück, das nur im Äußeren, als gäbe es im häuslichen nicht Probleme, Schwierigkeiten, Hindernisse genug..
    Ich bräuchte mir auf jdn Fall keine Gedanken um Ergo, Reittherapie, Logo, Spieltherapie, Gruppen- Einzelangebote oder sonst was machen. Es ging ums Überleben, ihn iwie an Schule halten und es zu Hause weiter zu ermöglichen.
    Ich glaube, es könnte keiner wirklich verstehen, wie anstrengend es oft war und ist und Phasenweise fast nicht zu schaffen ist.

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