Woran man im Leben mit einem behinderten oder autistischen Kind wachsen kann

veröffentlicht im August 2020


Ein behindertes oder autistisches Kind großzuziehen, kann eine große Herausforderung sein. Was eine solche Lebenssituation mit sich bringt, kann allerdings nicht verallgemeinert werden, weil sich die Kinder und ihre Bedürfnisse erheblich voneinander unterscheiden und auch weil Eltern ganz verschiedene Ressourcen, Kenntnisse und Eigenschaften mitbringen.

©Silke Bauerfeind

Häufig werde ich gefragt: „Wie schaffst Du das nur alles?“
Oder es wird gesagt: „Ich könnte das ja nicht.“

Gerade dieser letzte Satz macht mich schon traurig, weil es die Situation, ein behindertes oder autistisches Kind zu haben, auf dessen Defizite und die Schwierigkeiten reduziert. Es wird beiseite gewischt, dass es auch sehr schöne Momente mit sich bringt und es wird als völlig abwegig angenommen, dass man sich mit seinem Kind und einer neuen Lebenssituation mitentwickeln könnte.

Gerade heute erst sagte ein Assistent meines Sohnes zu mir: „Geduldiger und gelassener zu sein, hat Niklas mir beigebracht. Das hilft mir auch sehr in anderen Lebenssituationen, die gar nichts mit ihm zu tun haben.“
Ist das nicht schön? Mir geht das Herz auf, wenn ich sowas höre.

Seine ehemalige Schulbegleiterin sagte zu mir: „Durch Niklas habe ich überhaupt erst begriffen, was wichtig im Leben ist. Und durch ihn war ich in der Lage, endlich eine Berufsentscheidung zu treffen, die sinnvoll ist und die mich auch nach meinem Job als Schulbegleiterin erfüllen wird.“

Ein anderer ehemaliger Assistent sagte mal zu mir: „Niklas wird immer wie ein Bruder für mich sein. Wir haben gestritten und uns miteinander gefreut. Wir haben voneinander gelernt und brauchten zwischenzeitlich auch mal Abstand. Aber ich bin ihm dankbar für vieles und werde ihn nie vergessen.“

Und auch ich selbst habe sehr viel durch und mit meinem Sohn gelernt:

  • Geduld und die Überzeugung, dass es nicht immer schnell, schnell gehen muss
  • Warten auf das, was sich in meinem Gegenüber gerade bewegt und auf das, was er mir sagen oder zeigen möchte
  • Freude an ganz kleinen Dingen und Fortschritten
  • den Blick auf echte und weniger echte Freundschaften und den Mut, getrennte Wege zu gehen, wenn es nicht mehr passt
  • Dankbarkeit für alles, was wir gemeinsam an Freude und Unbeschwertheit erleben dürfen
  • Freude über die besonderen Menschen, die wir treffen und kennenlernen durften, weil es Niklas gibt
  • Reflektieren meines eigenen Verhaltens, was früher häufig auf der Strecke blieb
  • Relativieren von allgemeingültigen Zielen und dem allgemeinen Fortschrittsdenken
  • das Öffnen meiner Sinne für andere Formen der Kommunikation, von Emotionen und Wegen, diese auszudrücken
  • das Absenken von Ansprüchen, die einen Tag zu einem guten machen
  • das Verbessern und Ausbilden von Antennen für Menschen mit einer anderen Wahrnehmung (auch ganz unabhängig vom Thema Autismus)
  • das Erkennen von Details, die unsere Welt schöner machen
  • Bewunderung für meinen Sohn, seinen starken Willen und sein Kämpferherz
  • das Erlernen von Gebärdensprache, was meinen Horizont erweiterte
  • das Kennenlernen eines ganz speziellen Humors
  • das Schätzen von Ruhe und Stunden mit mir alleine
  • akribisches Planen und Organisieren, obwohl ich weiß, dass manches einfach geschieht
  • das Infragestellen von angeblich unumstößlichen Fachmeinungen
  • Reue und Scham über oberflächliche und intolerante Momente in meinem früheren Leben
  • die Lehre, dass „anders“ nicht schlechter, sondern bereichernd ist und dass man dies nicht nur als Floskel daher sagt, sondern wirklich meint
  • dass anderen Menschen zu helfen, sehr erfüllend sein kann und ich meine Zeit früher häufig verschwendet habe
  • dass man sein Leben zu jeder Zeit ändern kann und dies auch manchmal muss

Wenn also jemand zu mir sagt: „Ich könnte das nicht“, dann antworte ich:
„Das ist sehr schade, denn Du solltest es versuchen, um nicht all das Erfüllende und Schöne zu verpassen, das dieser neue Weg mit sich bringt.“

Natürlich gibt es Tage, an denen man diese positiven Dinge nicht sehen kann, weil alles zu viel wird und die Sorgen überhand nehmen. Das geht mir nicht anders.
Aber es schadet nicht, sich all diese Dinge mal aufzuschreiben und gerade an schlechten Tagen in die Hand zu nehmen und durchzulesen. Vielleicht geht es Dir dann besser, vielleicht setzt es Kräfte frei, vielleicht macht es Dich zuversichtlicher.

Und es ist auch wunderbar, eine Gemeinschaft zu haben, in der man all diese Dinge austauschen kann. Für viele von uns ist es sehr schwierig, diese vor Ort zu finden, daher schau dich doch gerne mal im Forum +plus+ um.

Zum Weiterlesen:

KOMMENTARE

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  1. Liebe Silke !
    Ein großartiger Text, mit dem ich ganz dabei bin . Meine Tochter ist 15 und Asperger Autistin.
    Ich habe gelernt, das schneller, höher und weiter nicht das Maß aller Dinge ist. Konzentration auf das wesentliche und erreichbare ist da eher unser Maßstab. Es gelingt mir nicht immer, die Dinge entspannt zu sehen, besonders die schulischen. Aber ich versuche es immer wieder mich runterzuholen und wieder lockerer zu werden und darauf zu vertrauen, das meine Tochter ihren Weg findet und gehen wird. ?‍♀️?
    LG Manuela

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