Autismus und Gebärdensprache – wie alles begann

veröffentlicht im Oktober 2017


Niklas bekam mit sechs Jahren die Diagnose „Frühkindlicher Autismus + ADHS“.
Das war vor etwa zwölf Jahren. Er verfügt bis heute über keine Verbalsprache, ist aber nach eigenen Aussagen und der Bestätigung vieler anderer zum „Gebärdenweltmeister“ geworden :-)

Ich bin der Überzeugung, dass die Gebärdensprache für viele nicht-sprechende Kinder eine großartige Form der Kommunikation sein kann und daher möchte ich hier gerne den Weg skizzieren, den Niklas mit dem Erlernen von Gebärden ging.

Unser Weg zur Gebärdensprache

bunte Hände

Die Idee, sich über Gebärden mitzuteilen, hatte Niklas selbst, als er noch in den Kindergarten ging. Mit etwa vier Jahren dachte er sich sein erstes Zeichen aus, das ein Universalzeichen für alles Mögliche war: Wenn er mit dem Zeigefinger der rechten Hand in die Handfläche der linken Hand tippte, bedeutete das, dass etwas geschehen sollte. Was genau, das musste in detektivischer Kleinstarbeit herausgefunden werden. Erst wenn wir das Richtige erraten hatten, war er zufrieden.
Das war natürlich ziemlich mühselig und oftmals auch unbefriedigend für Niklas, wenn das Ratespielchen zu lange dauerte. Und so dachte er sich ein paar weitere  Zeichen aus.

Als wir merkten, dass er an dieser Art zu kommunizieren immer mehr Gefallen fand, beschlossen wir, dass die von ihm verwendeten Zeichen allgemeingültige Gebärden sein sollten, damit er nicht eine Geheimsprache entwickelt, die dann neue Bezugspersonen nicht verstehen können.
Und so besuchte ich an der Volkshochschule Kurse in „Deutscher Gebärdensprache“ und vermittelte Niklas und seinen Erzieherinnen im Kindergarten und später den MitarbeiterInnen in der Schule die Gebärden, die für unseren Alltag wichtig sind.
Wir legten auch ein Gebärdenbuch an, das er fast immer dabei hatte, damit jeder nachschlagen konnte, was er meinte.

Die ersten Gebärden – mit Ausdauer und Geduld

Im ersten Jahr dauerte es manchmal mehrere Monate bis Niklas eine Gebärde so imitierte, wie wir sie ihm vormachten. Später wurden die Zeiträume kürzer. Dabei ereigneten sich erstaunliche Dinge:

Manchmal benutzten wir immer und immer wieder eine Gebärde, um sie in seinen aktiven Wortschatz zu integrieren. Es kam keine Imitation, keine Wiederholung von Niklas.
Das ging anfangs zum Teil mehrere Wochen so, in denen wir aber unbeirrt weiter gebärdeten. Dann geschah es vielfach, dass er plötzlich, in einem Moment, in dem wir etwas ganz anderes taten, diejenige Gebärde verwendete, von der wir bisher dachten, dass sie vollkommen uninteressant für ihn zu sein schien.

Manchmal schien es so, als würde er gar nicht hinsehen, wenn wir ihm eine Gebärde zeigten, er sah in eine ganz andere Richtung und wir dachten: Naja, wir werden das später nochmal wiederholen.
Aber das war gar nicht nötig, denn er setzte die Gebärde von selbst einige Minuten später ein – eine Gebärde, die er ohne Blickkontakt aufzunehmen gelernt hatte, weil er einen ganz anderen Radius und Horizont beim Sehen hat – einen, den wir neurotypischen Menschen eben nicht haben.

Wir machten anfangs also immer nur Angebote, wiederholten und ließen die Gebärden in unseren Alltag einfließen, ohne dass Niklas immer sofort aktiv mitmachte.
Er war ein aufmerksamer Beobachter, wie sich herausstellte. Ein Beobachter, den wir als solchen anfangs gar nicht wahrnahmen, weil er anders beobachtet – eher mit peripherem Sehen als über direkten Blickkontakt.

Mit steigendem Erfolg über aktives Gebärden, was das Mitteilen von Bedürfnissen und Wünschen oder auch Missfallen anging, stieg auch der Wunsch bei Niklas weitere Gebärden zu lernen. Auch die Intervalle zwischen Vor- und Nachmachen wurden stetig kürzer.
Inzwischen ist es meistens so, dass Niklas sofort nachgebärdet, wenn er ein neues Wort lernt. Manchmal schaut er direkt auf die Hände seines Gegenübers, um zu sehen, wie die Gebärde funktioniert. Manchmal sieht er sich die Gebärde auf eine Art und Weise an, die sich uns nicht erschließt. Wir überlassen es ihm, wie er das handhaben möchte.

Das Erlernen von Gebärden nicht an Bedingungen knüpfen

Ich wünsche mir, dass das Verwenden von Gebärden auch bei non-verbalen Kindern, die nicht gehörlos sind, selbstverständlich angeboten wird.
Dabei sollte man nicht nach ein paar Wochen wieder abbrechen, wenn es kein „Echo“ zu geben scheint, sondern spielerisch weitermachen. Es kann viele Monate dauern bis sich ein aktiver Gebärdenwortschatz anbahnt und nachhaltig aufbaut.

Man braucht dafür großes Interesse an dem Erlernen einer neuen Sprache, denn die Famlien sollte natürlich mitlernen. Es geht nicht darum, einige Ausdrücke per Handzeichen anzutrainieren, sondern darum, gemeinsam einen neuen Weg der Kommunikation zu beschreiten.
Dafür braucht es Begeisterung bei allen Beteiligten, aber auch Geduld und das Erlernen ohne Druck und Bestechung (nicht etwa „gebärde erst, dann bekommst du…“)
Nach unserer Erfahrung kann das gemeinsame Leben mit der Gebärdensprache gelingen, wenn man es den Kindern vorlebt und die Gebärdensprache nicht nur als einfaches Hilfsmittel betrachtet, das ausschließlich vom Kind praktiziert wird.
Einen spielerischen Einstieg kann man über Bücher mit Gebärden oder Videofilme mit Gebärdensprache versuchen und mal sehen, ob das Kind sich angesprochen fühlt.

Und so ganz nebenbei macht es wirklich Spaß zu gebärden – auch Geschwisterkinder finden es meisten „cool“, wenn sie die Gebärdensprache mitlernen.
Und ein großer Vorteil vom Gebärden ist, dass man immer alles dabei hat. Man braucht keine Schreibtafeln, keinen Talker und keine Bildkarten.

Gebärdensprache als „Türöffner“

Collage Gebärdensprache
©Collage von Silke Bauerfeind

Für Niklas ist das Gebärden „DER Türöffner“ hin zu anderen Menschen geworden. Sowohl von seiner Seite aus, wenn er etwas mitteilen möchte und es inzwischen auch kann. Aber auch von der anderen Seite aus. Denn wenn jemand auf ihn zugeht und z.B. sagt: „Du Niklas, ich habe gehört, Du kannst Gebärdensprache. Ich kann das leider nicht, aber zeig mir doch mal bitte, wie die Gebärde für Schule geht“, dann ist das Eis gebrochen und er freut sich, dass sich jemand auf seine Art zu kommunizieren einlässt.

Niklas machte mit der Zeit so tolle Fortschritte, dass wir eine kontinuierliche und qualifizierte Förderung in der Schule für ihn anstrebten. Mehr dazu in DIESEM Beitrag.

Zum Weiterlesen:

KOMMENTARE

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  1. Liebe Silke,
    ich bin so dankbar dafür, deine Seite vor einigen Monaten gefunden zu haben. Deine Schilderungen zum Thema Gebärdensprache haben mich inspiriert, es mit unserem nichtsprechenden autistischen Sohn auch zu versuchen. Natürlich sind wir noch lange nicht so weit, wie du und dein Niklas, aber mein Sveni ist auch erst sechs Jahre alt ;-) Es macht Spaß und es ist so verbindend und hilfreich. Danke danke, ich freue mich auf den Workshop.
    Dani

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