Gastbeitrag:
Bei mir ist es so, dass ich je nach Situation mehr oder weniger Schmerzempfinden habe.
Als Kind wollte ich meiner Mutter zwei kleine Sträußchen Blumen bringen, ich hielt eins in der linken Hand und eines in der rechten und rannte auf meine Mutter zu als ich stolperte. Um die Blumen zu schützen, hielt ich beide Arme weit nach hinten weg. Und ich habe keine Schmerzen gehabt als ich auf dem Brustkorb gelandet bin. Ich war eher verwirrt, es hatte sich angefühlt wie wenn man mit der Hand auf ein Kissen drückt (nicht schlägt, vermutlich läuft in meinem Gehirn da soviel ab, dass eine Art Zeitlupenaufnahme entsteht).
Dann habe ich gemerkt, irgendwas stimmt nicht (ich hatte nicht realisiert, dass ich nicht atmete), weil meine Mutter kreidebleich war und mich in den Arm nahm. Ich habe keine Erinnerung daran, was um mich herum passiert ist zwischen dem Sturz und dem Bewusstwerden, dass meine Mutter mich im Arm hielt (davor stand sie mindestens 30 Meter weit weg von mir). Dann habe ich eingeatmet und erst dann kam der Schmerz.
Ich war darüber so erschrocken, dass ich nicht ausgeatmet habe, sondern erst mit Verzögerung, und dabei auch gleich schrie wie am Spieß.
Meine Mutter hat mich sofort zum Kinderarzt getragen (der war nicht weit weg). Der hat mich dann untersucht (eine von den seltenen Gelegenheiten, wo das ohne „Theater“ ging).
Meine Mutter hat mir vor einiger Zeit erzählt, wie sie das damals erlebt hat. Ich war wohl ganz kalt geworden und hatte blaue Lippen (der Arzt hatte ihr dann wohl auch erklärt, dass ich mir das Herz geprellt hätte). Jedenfalls hat sie damals wohl gedacht, ich wäre dem Sterben nahe.
Ich habe ihr versucht zu erklären, warum mir die Blumen so wichtig waren, dass ich sie unbedingt schützen musste, das hat sie aber nicht wirklich verstanden. Dann habe ich darüber nachgedacht und jetzt ist mir klar, dass sie es vermutlich gar nicht verstehen kann, weil sie den natürlichen Reflex hat, sich mit den Händen abzufangen, wenn sie fällt. Bei mir ist das aber eine bewusste Entscheidung. Das war jetzt die Beschreibung für eine Zeitlupen Erfahrung.
Wenn ich Zahnschmerzen habe, ist das für mich richtig doof, da kann ich oft weder sagen, ob das im Ober oder Unterkiefer ist, noch welchen Zahn es betrifft, zudem kommt es auch vor, dass mir die Ohren anstelle des Zahnes weh tun.
Weil ich auch noch Angst vor Zahnarztbesuchen habe, merke ich meistens aber schon mit der Zunge, wo das Problem liegt, bevor ich zum Zahnarzt gehe (meistens zu spät).
Vor einigen Jahren hatte ich immer ein Gefühl, als ob mir etwas von unten in die Nase sticht, wenig später habe ich beim Zähneputzen bemerkt, dass ich eine kleine weiße Beule am Zahnfleisch hatte. Das habe ich dann aber erstmal nicht weiter wichtig gefunden. Als das dann aber größer wurde, hat es mich gestört. Ich habe es mit einer steril gemachten Nadel geöffnet und ausgedrückt, und mit einer antiseptischen Kräuterpaste behandelt.
Vor einem Jahr hat mich meine Zahnärztin darauf angesprochen, nachdem ich wegen erneutem Auftreten der Schwellung hingegangen bin, dass der Zahn nur noch die Hälfte von einer Wurzel habe und der Kieferknochen ein Loch hat, und die Entzündung wohl ursprünglich von einer gebrochenen Zahnwurzel käme, ob ich denn nicht früher hätte kommen können, die Schmerzen müssten doch nicht auszuhalten sein.
Als ich ihr von der „Selbstbehandlung“, damals lag die schon 5 Jahre zurück, erzählt habe, war sie glaube ich etwas beleidigt, hat jedenfalls gesagt, bevor ich sowas noch einmal mache, soll ich lieber zu ihr kommen (ich weiß bis jetzt noch nicht, wovor ich mehr Angst habe). Solange ich denke, dass ich etwas selber in Ordnung bringen kann, ist (fast) alles erträglich.
Ab einem gewissen Grad scheinen sich Reize bei mir nicht mehr zu steigern.
Ich kann dann nur noch nach „hell“ und „dunkel“ unterscheiden. Ich habe das eine Weile beobachtet und bemerkt, dass alle Reize wie Temperatur/ Licht/Hautverletzungen/Migräne/Geräusche in hohen Frequenzen in die „helle“ Kategorie fallen (das bedeutet, dass ich sie ungefähr fühle wie einen Eiswürfel, den man sich auf die Haut legt oder wenn man ungeschützt in Richtung Sonne schaut).
Die „dunkle“ Kategorie sind Sachen, die ich gebündelt im Bauch (bis hin zum Brechen) fühle, „normale“ Kopfschmerzen/wenn ich mich an einem abgerundeten Gegenstand gestoßen habe / Husten / Bronchitis/ Hirnerschütterung/ wenn ich mir lange Sorgen mache / wenn ich traurig bin …
Und dann gibt es noch eine dritte Kategorie (ist mir grade erst aufgefallen, weil meine Nachbarin an die Scheibe geklopft hat). Es gibt Sachen, die fühlen sich an wie ein Stromschlag in den Füßen, das sind aber fast alles Sachen, die mit meiner Innenwelt zusammenhängen, Erschrecken/ akute Angst/ und wenn ich sehr auf etwas Warte.
Vielleicht hat mir das mit den Kategorien geholfen, meine Eindrücke anderen mitzuteilen, aber die Kategorien versagen leider grade dann, wenn es wirklich ernstlich wird.
Ab einer bestimmten Intensität fühlt sich nämlich alles an wie der vorher erwähnte Eiswürfel , nur eher flüssig, weil es dann ist als ob das Gefühl über meinen ganzen Körper läuft, durch ihn durchkriecht und wieder von vorne anfängt, (ich weiß nicht wie, ich es jetzt beschreiben soll, aber das Wellenartige daran erinnert mich an den Warpkern in Star Treck TNG gemischt mit diesem Windows Bildschirmschoner mit den Linien, die immer rumgewandert sind und die Form und Farbe gewechselt haben).
Dann ist aber auch alles zu viel, da braucht mich keiner etwas fragen oder mir etwas sagen, da bin ich in meiner Innenwelt gefangen, kümmere mich darum irgend wie dieses Problem auszuschalten, möglichst ohne Tränen, ohne dabei zu laut zu werden oder durch für Andere nicht nachvollziehbare Handlungen aufzufallen (es kann passieren, dass ich sinnlos hin und her oder im Kreis laufe und dabei sehr tief durchatme, um nicht in Tränen auszubrechen, daran arbeite ich noch) , so etwas ist mir nämlich selbst dann noch sehr peinlich.
Ich habe lange nicht verstanden, warum manchmal Kleinigkeiten so weh tun und andere Sachen, die eigentlich viel schlimmer sind eher nicht zu spüren sind.
Und wenn das damals jemand bemerkt hätte, wäre es sicherlich als auto-aggressives Verhalten verstanden worden. Es ist schon seltsam, wenn es weh tut, wenn man vom Arzt in den Finger gestochen wird, man fast immer kollabiert, wenn man Blut abgenommen bekommt, aber wenn man beim Schnitzen abrutscht und sich das Knie wirklich tief auf schneidet, ist da kein Schmerz, nur interessiertes Hinschauen und der Gedankengang ist dann: „Oh, ich habe mich geschnitten, das sieht interessant aus, es blutet ja gar nicht, aber das ist fast ein Centimeter und muss genäht werden, ich muss Hilfe holen“, und dann läuft man mit dem aufgeschnittenen Bein los um sich Hilfe zu organisieren.
Mich freut wenn ich anderen weiterhelfen kann, mir geht es hauptsächlich auch darum, dass Menschen die nicht im Spektrum sind, verstehen warum Reaktionen manchmal vermutlich sehr seltsam erscheinen (zumindest für andere Leute).
Mein jüngster Bruder könnte sich (jedenfalls jetzt noch) nicht über solche Themen mitteilen. Wenn er nicht weiß, was er sagen soll, rezitiert er Dialoge aus Star Treck, es wirkt merkwürdig auf Leute, die ihn nicht kennen, wenn er Datas Mimik und Gestik imitiert und dabei von Blutwein und glorreichen Schlachten schwärmt.
Ich habe bemerkt, dass das seine Art ist Gefühle, die er nicht benennen kann, auszudrücken, er schlüpft in eine Rolle, in der er diesem Gefühl nicht ausgeliefert wäre, wenn er sich „wie das fünfte Rad am Wagen“ fühlt, droht er als Borg der gesamten Menschheit die Assimilation an…
Liebe Eveline, ich danke Dir sehr für diesen intensiven Einblick in Dein Empfinden. Ich bin sicher, dass das vielen helfen wird, besser zu verstehen.
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Zum Weiterlesen:
Maria ist Autistin: „Mein Schmerzempfinden tritt mit Verzögerung ein.“
Liebe Frau Bauerfeind, ich finde die Beiträge immer wieder sehr berührend und aufschlussreich für meine Arbeit mit Menschen mit Autismus! Ich Danke Ihnen für ihre wertvolle Arbeit!!!!
Zuletzt haben mich die Bilder und das Interview von Heiko Powell sehr angesprochen. ;-) Herzliche Grüße, Anna Kappes