Die laute Silvesternacht liegt nun schon mehr als zwei Wochen zurück, aber Thema ist sie bei uns immer noch, nicht zuletzt, weil gestern, am 16. Januar, unverbesserliche Menschen meinten, nochmal Raketen zünden zu müssen.
Ich wollte das Thema eigentlich nicht überstrapazieren, aber nach den Erlebnissen der letzten Wochen ist mir doch wichtig, noch ein paar Sätze zur Reizüberflutung der Silvesternacht und den Tagen danach zu schreiben.
©Quelle: pixabay, User geralt, vielen Dank!
Unsere Silvesterstrategie gegen lautes Geknalle
Wenn du hier schon eine Weile mitliest, weißt du, dass Niklas` Strategie seit einiger Zeit ist, um Mitternacht an Silvester in den Keller zu flüchten. Dort verbringen wir dann mindestens eine Stunde auf der Gefriertruhe, die in einem fensterlosen und damit dem schalldichtesten Raum des Hauses steht.
Seit Niklas weiß, dass er beim Feuerwerk dorthin ausweichen kann, händelt er den Krach um Mitternacht eigentlich ganz tapfer. Schwitzen, Ohren zuhalten, Zusammenzucken und Entsetzen bei besonders lauten Böllern dennoch inklusive.
In den vergangenen Jahren brauchte Niklas den folgenden Tag, um sich von der Aufregung zu erholen und dann war es meistens wieder ok.
Rücksichtslosigkeit und Folgen in diesem Jahr
Dieses Mal war es anders – bis heute (Mitte Januar) haben wir mit den Folgen zu kämpfen, weil es so viele ignorante Menschen gibt, die abends immer noch herumböllern, als sei Silvester noch nicht vorüber. Das unvermittelte Knallen und Raketen zünden, auf das er sich nicht vorbereiten kann, weil niemand weiß, ob es gleich wieder losgeht, führt zu Verzweiflung.
Am 1. Januar und auch am 2. Januar meinten einige Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung, dass sie weiter Silvester feiern und demonstrieren können, dass sie immer noch Feuerwerk zu zünden haben. Was das unter anderem mit Menschen wie Niklas macht – und es gibt ja weitere Personengruppen, Tiere und die Umwelt, die ebenso darunter leiden – darüber macht man sich keine Gedanken.
Niklas wird bis heute kalkweiß im Gesicht und beginnt zu zittern, wenn abends die Raketen hoch gehen. Sobald es dämmert, ist er in Habachtstellung, weil es wieder losgehen könnte. So schlimm wie dieses Jahr war es mit der Rücksichtslosigkeit bestimmter Personen noch nie, jedenfals nicht bei uns.
Das wollte ich nochmal loswerden, weil es immer noch nicht vorüber ist und vielleicht eine minimale Chance besteht, dass Menschen hier mitlesen, die sich darüber mal Gedanken machen sollten.
Was es darüber hinaus zeigt: Reizüberflutung wirkt lange nach
Häufig zeigen unsere autistischen Kinder, Jugendlichen oder bereits erwachsen gewordenen autistischen Kinder auch in anderen Situationen, dass ihnen Reizüberflutung und damit verbundene Ängste noch länger nachhängen.
Wir NichtautistInnen tendieren häufig dazu, schwierige Situationen allzu schnell abzuhaken und zur Tagesordnung überzugehen. Dabei sind diese Herausforderungen für Autistinnen und Autisten noch lange nicht abgeschlossen. Ich merke es immer wieder, dass Niklas gedanklich noch sehr lange an Situationen arbeitet, darüber grübelt, sich Sorgen macht und Bedenken hat, sie könnten wiederkehren.
Dazu kommt, dass je nach Intensität der Reizüberflutung – des Overloads oder Meltdowns – die damit verbunden war, bestimmte Trigger noch tage-, wochen-, manchmal jahrelang nachwirken.
Ersichtlich ist es zum Beispiel, wenn bestimmte Geräusche zu hören sind, aktuell wenn die Dämmerung einsetzt oder auch wenn von aktuellen Unfällen erzählt wird, die er sofort mit Ereignissen der Vergangenheit in Verbindung bringt, sie mit Reizüberflutung assoziiert und dann von uns sehr behutsam aus seinen Gedanken- und Sorgenschleifen begleitet werden muss.
Wenn diese Trigger während einer Erholungsphase ständig neu erfolgen, kann es sich zu neuer Verzweiflung hochschaukeln und die Erholung dauert anschließend ungleich länger.
Vielleicht ist es bei deinem Kind bzw. autistischen Angehörigen oder Betreuten ähnlich, dass bestimmte Auslöser an belastende, reizüberflutende Momente erinnern und dann Verhaltensmuster greifen, die wir ohne das Wissen um das Vergangene nicht verstehen können. Umso wichtiger ist es, anderen Bezugspersonen mitzuteilen, welche Trigger das sind, um diese schon im Vorfeld zu verhindern (sofern möglich) und angemessen und verständnisvoll deeskalieren zu können.
Sätze wie „das ist doch schon so lange her“ und „jetzt solltest du das aber mal verarbeitet haben“ und ähnliches sind wenig zielführend. Auch wenn du dir womöglich vorkommst, als würdest du eine Schallplatte mit den immer gleichen Erklärungen abspielen – es ist notwendig, weil viele Autistinnen und Autisten jedes Mal wieder neu mit ihrer belastenden Erfahrung konfrontiert werden und die jeweiligen Situationen nicht unbedingt gegeneinander abgrenzen können. Manches verschwimmt und zeitliche Ebenen werden irrelevant – was dann im Vordergrund steht ist die Wahrnehmung, dass etwas noch lange nachhängt oder ein Trigger bereits gemachte Erfahrungen wieder hervorholt.
Meine Tipps dazu
Wir hatten vor allem mit dem dritten Punkt große Probleme, was das Silvestererlebnis angeht. Denn nachdem alles vorüber zu sein schien, erklärten wir Niklas, dass er es geschafft hat und dass es nun vorbei ist. Das Geböllere des Umfelds über mehrere Tage strafte unsere Worte Lügen und das machte es nur noch schlimmer bzw. trug dazu bei, dass die Entspannung erst sehr viel später einsetzen kann.
Diese Aspekte lassen sich auch auf andere Situationen übertragen, wie oben beschrieben. Deshalb hat es neben der Enttäuschung und Verbitterung, was bestimmte Mitmenschen angeht, vielleicht auch etwas Gutes, diese Vorgänge hier noch einmal aufgeschrieben zu haben und dafür zu sensibilisieren.
Und wir werden Silvester nächstes Jahr wahrscheinlich an einem ganz anderen Ort verbringen.
Zum Weiterlesen:
Overload, Meltdown, Shutdown – was ist das?
Liebe Silke,
die Chance daß unter den Lesern Deiner Beiträge hier jmd dabei ist der ohne Rücksicht böllert – und von diesem Artikel zum Nachdenken angeregt wird – ist wahrscheinlich wirklich gering.
Aber mich hat das Lesen grad dazu angeregt darüber nachzudenken wie ich persönlich mein Umfeld für das Thema sensibilisieren könnte: Vll einen Elternbrief im Kindergarten verteilen, die Schule bitten es in den Klassen anzusprechen, einen Leserbrief ans Gemeindeblättchen schreiben…
Das gäbe sicherlich auch das gute Gefühl etwas ‚dagegen tun‘ zu können, und dem Ganzen nicht – wie zB mein junger autistischer Sohn in der Zeit um Silvester herum – ausgeliefert zu sein.
Das ist eine tolle Idee. Finde ich super! Wahrscheinlich macht es Sinn, das dann erst wieder im November oder Dezember umzusetzen, sonst gerät es bis dahin wieder in Vergessenheit.
LG ♥
ich finde die Idee auch gut. wenn es was erreicht, wäre das ein Schritt. Mein Junge hat heute noch mit der knallerei zu kämpfen weil in unserer Gegend immer noch Knaller gezündet werden. Dazu kommt noch das in unserem Haus permanent gehandwerkelt wird, bohren, hämmern Sachen fallen lassen. wir wohnen in einen Mehrfamilien Haus das sehr hellhörig ist. um in den Keller zu flüchten müssten wir durchs Treppen Haus wenn da was knallt. „holla die Waldfee“ Mein Junge schläft dann schon mit kopfhörern wenn es zu viel wird. und das ist nicht gerade bequem, wo er eh schon Schlafstörungen hat. Ich finde die Rücksichtslosigkeit der Menschen unglaublich und es macht mich wütend. Ich bin einfach nicht mehr so gelassen und ausgeglichen wie früher.
Das Geböllere war auch echt nervig hier.
Hallo,
Ich bin selber Autistin und finde Silvester auch ganz furchtbar. Mir helfen die Ohrenstöpsel aus der Apotheke, die eigentlich zum Schwimmen gedacht sind. Wenn man die drin hat, hört man gar nichts (was die ersten 1-2 Minuten auch immer etwas merkwürdig ist). Vielleicht wäre das was für Niklas?
VG
Danke, liebe Lisa. Leider verweigert Niklas jegliche Hilfsmittel, setzt auch keine Mützen auf, trägt keine Schals und Handschuhe. Kopfhörer und Ohrstöpsel gehen leider auch nicht.
Aber vielen Dank für den Hinweis, anderen wird er sicherlich helfen.