Warum Aufklärung über Autismus mit Perspektive, Expertise und Kontext zu tun hat und du sie kritisch hinterfragen darfst

veröffentlicht im Februar 2023


Hey, Silke, ich habe neulich gehört, dass man Autismus überwinden kann. Das ist doch eine super Nachricht für Niklas……

Hey, Silke, ich habe neulich gehört, dass Autisten mit der richtigen Atemtechnik, Massagepraktiken und anderen naturheilkundlichen Verfahren weniger herausforderndes Verhalten zeigen….

Hey Silke, hast Du schon gehört? Wenn man es richtig anstellt und einfach mal gelassen ist, dann wird das schon werden. Du wirst sehen, Niklas wird man seinen Autismus in ein paar Jahren gar nicht mehr anmerken.

Hey Silke, ich habe jetzt schon so viele Beiträge über Autisten gesehen, die studieren oder sich selbständig gemacht haben – warum kann Niklas das eigentlich nicht? Ist er überhaupt Autist?

Das ist eine kleine Auswahl an sinngemäßen Aussagen, die mich allein in den letzten Tagen erreichte und ich kann euch gar nicht sagen, ob ich lieber weinen oder schreien möchte.

Auf meine Nachfragen hin wurde mir erklärt, dass das gewisse Personen xyz gesagt oder geschrieben hätten und dass doch dann was Wahres dran sein müsste. Aber bitte Vorsicht: nicht jede Person, die sich öffentlich äußert, ist ExpertIn. Ich würde zum Beispiel niemals sagen, dass ich eine Autismus-Expertin bin – das käme mir anmaßend vor. Wenn überhaupt, bin ich eine Expertin, was die Elternperspektive angeht. Eine Expertise, die das Thema Autismus vollständig abdeckt, gibt es meiner Meinung nach nicht. Bitte seid immer vorsichtig, wenn jemand behauptet, alles zu wissen.

Bild mit einzelnen Steinen

Wie Aufklärung beschädigt wird

Es gibt so viele wunderbare Autistinnen, Autisten, Eltern und auch Fachleute, die wertschätzend und verbal gewaltfrei aus ihrer jeweiligen Perspektive aufklären – ehrenamtlich oder beruflich. Diese wertvolle Aufklärung wird beschädigt,

  • wenn man sich bei Aufklärung auf nur einen Teil des Spektrums konzentriert und den Teil, der nicht oder kaum für sich selbst sprechen kann, außer Acht lässt.
  • wenn man ignoriert, dass Autismus selbstverständlich eine Behinderung sein kann, die per se Leidensdruck auslösen kann und nicht einfach mal so mit viel Disziplin und Anpassung überwunden wird
  • wenn man mit zweifelhafter Teilexpertise von sich oder wenigen Erfahrungswerten auf alle Autistinnen und Autisten schließt und dies auch noch als Weisheit in die Welt hinaus trägt
  • wenn man Eltern erzählt, sie müssten nur gelassen sein und wenn nötig, dann eben doch auch mal Druck ausüben – vor allem bei den „schweren Fällen“ sei ja ABA zum Beispiel durchaus vertretbar
  • wenn man gängige Klischees bedient, um Aufmerksamkeit zu pushen
  • wenn man direkt oder subtil Methoden verkauft, die auf Anpassung und Kompensation zielen, damit das Kind möglichst nicht mehr auffällt und alle drumherum zufrieden sind
  • wenn behauptet oder so getan wird, dass AutistInnen, die „tiefer im Spektrum sind“ die bedauernswerte Minderheit ausmachen

Bitte hinterfragt Aufklärung über Autismus

Bitte schaut euch genau an, wer euch was erzählt und welche Absichten dahinter stecken, welche Expertise dem zugrunde liegt, in welchem Kontext etwas geäußert wird und ob ihr dem Vertrauen schenken möchtet.

Ich werde nicht müde, immer wieder zu betonen, dass auch ich nur eine Facette der Aufklärungslandschaft bin und viel mehr dazu gehört, als nur eine Perspektive (in meinem Fall die Elternperpektive eines betreuungsintensiven, nonverbalen Autisten) zu kennen.
Jede und jeder, der behauptet, die alleinige Aufkärungs- und Deutungshoheit zu haben und für das gesamte Spektrum und alle Perspektiven sprechen zu können, ist per se schon in Zweifel zu ziehen.

Zu einer verantwortungsvollen Aufklärungsarbeit gehört immer dazu, transparent zu machen, womöglich nur für einen Teil des Spektrums sprechen zu können. Das ist dann auch ok, muss aber unbedingt gesagt werden, weil alles andere ein falsches Gesamtbild erzeugt und elementare Bedürfnisse weiterer Personen aus dem Autismus-Spektrum und diese Personen als solche ignoriert.

Und liebe Eltern, bitte lasst euch nicht einreden, dass ihr nur die richtige Haltung haben müsst, dann der Autismus eures Kindes nach und nach verschwinden wird und wenn dem nicht so sein sollte, ihr Schuld daran seid.
Natürlich ist die Haltung sehr wichtig, sogar absolut zentral, aber sie ändert nichts daran, dass eure Kinder AutistInnen sind und da könnt ihr noch so viel „herumzaubern“, der Autismus bleibt, auch wenn es in manchen Lebensphasen womöglich nicht (mehr) so offensichtlich ist.

Was wir tun können

Was allerdings passieren kann und was ich euch und euren Kindern sehr wünsche und wofür wir etwas tun können und auch müssen: angemessene Rahmenbedingungen herstellen und ein Umfeld schaffen, in dem aufgeklärte und wertschätzende Menschen eure Kinder, Jugendlichen oder bereits erwachsen gewordenen Kinder begleiten. Das ist eine lebenslange Aufgabe, weil sich diese Faktoren immer wieder ändern und es uns nicht immer leicht gemacht wird. Aber es kann gelingen und das ist der Weg hin zu mehr Lebensqualität, weil sich das Umfeld damit unseren AutistInnen anpasst und nicht umgekehrt.

Ich bin eine große Freundin davon, dass wir selbstbestimmt und mündig Entscheidungen treffen und genau das auch unseren Kindern ermöglichen. Das bedeutet aber auch, immer wieder zu hinterfragen, was uns an Input vorgesetzt wird, es mit unserem Erfahrungswissen in Zusammenhang zu bringen und nicht zuletzt mit unseren Werten abzugleichen. Zieht dafür vor allem auch die Menschen zu Rate, denen ihr aus gutem Grund vertraut.

Bitte konsumiert kritisch – auch meine Zeilen.

Ach ja – wer sich jetzt hier auf den Schlips getreten fühlt (rw), was die Beschädigung wertvoller Aufklärung betrifft, darf sich gerne fragen, warum sie oder er sich angesprochen fühlt.

Zum Weiterlesen:
Kritik an ABA

Autismus und Therapie – wie Eltern zu kompetenten Entscheidern werden

„Kann er sich nicht mal überwinden?“ – „Nein, kann er nicht. Und muss er auch nicht.“

Zum Weiterlesen:

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