Dass der Bereich Wahrnehmung grundlegend für das Thema Autismus ist, wissen die meisten. Was ich manchen Menschen dann noch zusätzlich erkläre, verblüfft dann allerdings doch einige.
Imagination von Reizen
Niklas ist sehr geräuschempfindlich und reagiert entsprechend impulsiv, wenn ihn ein Klang schmerzt oder erschreckt.
Aber es reicht auch aus, wenn er sich das bestimmte Geräusch oder die Geräuschquelle vorstellt, um Schmerzen bei ihm auszulösen. Es ist nicht nur die Panik davor, dass etwas passieren könnte, was das Geräusch auslöst, sondern allein die Vorstellung dessen führt dazu, dass er sich die Ohren zuhält und „Schmerz“ gebärdet.
Da man in dem Moment ja nicht weiß, was er sich gerade vorgestellt hat, sind diese Reaktionen erstmal völlig zusammenhanglos für Außenstehende und zu Beginn war es das auch für mich. Aber inzwischen wissen wir, dass er entweder etwas gehört hat, was ich frequentiell nicht aufnehmen kann oder dass er sich etwas vorgestellt hat, mit dem er eine schlechte Erfahrung verknüpft. Das konnte er im Laufe der Zeit per Gebärden erklären und so wurde es mir auch schon von anderen Autisten vermittelt.
Die Geschichte mit dem Luftballon
Das betrifft auch andere Wahrnehmungsbereiche, wie zum Beispiel das Schmecken. In seiner Kindergartenzeit konnten wir uns das sogar zunutze machen, als er einmal im Wald Pilze und anderes verspeiste, von dem nicht sicher war, ob es genießbar war. Ich bekam einen ängstlichen Anruf vom Kindergarten, was denn nun zu tun sei und ich sagte, dass ich komme und mit ihm zum Arzt fahre, aber dass sie ihm schon mal einen Luftballon zeigen sollten.
Im Kleinkindalter musste Niklas nur aus der Ferne einen Luftballon sehen, um sich übergeben zu müssen. Er hatte einmal daran geleckt und fand es so gruselig und das Material so ekelhaft, dass er danach würgen musste, wenn wir das Wort „Luftballon“ nur sagten. Da hilft dann nur, schnell das Thema auf etwas anderes lenken, um den Würgereiz vergessen zu machen.
Das mit dem Luftballon im Kindergarten klappte übrigens perfekt. Niklas sah den Luftballon, stellte sich offenbar vor, wie es wäre, daran zu lecken und schwupps kam alles raus und beim Arzt war dann auch alles ok.
Weitere Beispiele
Eine Autistin erzählte mir, dass sie alleine bei der Vorstellung, dass ein heißes Wochenende bevorsteht, bereits schwitzt. Ihre Wohnung sei normal temperiert, aber die Imagination dessen, was kommen wird, führt dazu, dass sie sich „wie im tropischen Regenwald fühlt“ (Zitat).
Paul ist Autist und erzählte mir, dass er von manchen Personen auf keinen Fall berührt werden möchte. Wenn eine dieser Personen den Raum betritt und er sich nur vorstellt, sie könnte sich ihm nähern und zum Beispiel den Arm um ihn legen, hat er Schmerzen an den Schultern, die stechend bis in die Ellenbogen ausstrahlen.
Jedes Verhalten hat einen Grund
Seit wir wissen, dass alleine schon die Vorstellung von Reizen ausreicht, einen Schmerz auszulösen, der mit Weglauftendenz und Impulsen wie Schreien, Treten und Schlagen verbunden ist, können manche Situationen viel besser aufgelöst werden.
Es ist immer wichtig, den Auslöser für Verhalten zu suchen, um die Reaktion verstehen zu können. Jedes Verhalten hat einen Grund und nicht immer ist es möglich, den Auslöser zu finden. Aber mit dem Wissen, dass die Imagination von Reizen, das reine Sichvorstellen von negativen Geruchs-, Geschmacks- oder Berührungserlebnissen ausreicht, um zum Beispiel sogenanntes herausforderndes Verhalten auszulösen, haben wir eine Möglichkeit mehr im Kopf, um den Grund zu finden. Dann kann man ihn ggf. beseitigen und Verständnis entwickeln.
Vielleicht hilft es auch Euch dabei, das Verhaltensrepertoir Eurer Kinder noch besser zu entschlüsseln.
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Jetzt ist mir endlich klar, warum mir manchmal schon die Tränen kommen, wenn ich mir eine traurige oder stressige Situation nur vorstelle, und warum mir genau die entsprechende Körperstelle wehtut, wenn jemand über eine Verletzung oder schmerhafte medizinische Behandlung spricht…
Danke, liebe Silke, für ein weiteres Puzzleteichen :-)