Wenn wir heute über den Weltautismustag sprechen, kommen wir an einem Thema nicht vorbei: die Farbwahl, die diesen Tag prägt. Jahrelang und immer noch ist es Blau, das im Mittelpunkt steht – eine Farbe, die eine Welle der Kontroverse in der Autismus-Gemeinschaft ausgelöst hat.
Der Hauptkritikpunkt? Die starke Verbindung von Blau mit der Organisation Autism Speaks, die für ihre polarisierenden Ansichten und Praktiken in Bezug auf Autismus bekannt ist. Zu den Kritikpunkten gehören unter anderem die Darstellung von Autismus als Krankheit und die fokussierte Investition in Ursachenforschung sowie potenzielle Heilungen, die zulasten direkter Unterstützungen gehen. Hinzu kommen die Befürwortung von ABA-Trainings und das Nicht-Einbeziehen von Autistinnen und Autisten in Diskussionen und Entscheidungen.
Trotz dieser Kritik hat sich die Farbe Blau durch ihre frühe und breite Verwendung in Kampagnen fest im Bewusstsein verankert, wenn es um den Weltautismustag geht. (Dies zeigt, wie mächtig Marketing und Branding sein können.)
Die Debatte um die Farbe Blau und die Bemühungen, alternative Symbole wie Gold für die Neurodiversitätsbewegung zu fördern, unterstreichen die wachsende Vielfalt innerhalb der Gemeinschaft.
Es ist mir ein Anliegen, mit diesen einleitenden Zeilen Bewusstsein für die Bedeutung hinter der Farbwahl zu schaffen. Die leider verbreitete Annahme, dass die Hintergründe der Farbwahl „blau“ ohnehin niemandem bekannt sind und nicht relevant seien, unterschätzt nicht nur das Interesse und die Fähigkeit der Menschen, informiert werden zu wollen, sondern verpasst auch eine wichtige Gelegenheit, für Inklusion und Respekt zu sensibilisieren.
©pixabay, User Machetoloache, vielen Dank!
Verstehen und verstanden werden
Für Autistinnen, Autisten und deren Familien ist echtes Verständnis essentiell – es geht weit über das bloße Nicken oder oberflächliche Akzeptanz hinaus. Sie wünschen sich, dass ihre einzigartige Wahrnehmung und ihre individuellen Bedürfnisse nicht nur wahrgenommen, sondern auch wirklich verstanden und respektiert werden. Das bedeutet auch, Stärken, die sie in die Gemeinschaft einbringen, zu schätzen. Diese Stärken werden leider viel zu oft nur bei den sog. hochfunktionalen AutistInnen gesucht, aber auch nichtsprechende Autistinnen und Autisten mit ggf. weniger Handlungskompetenz können uns vieles lehren.
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Für Autistinnen und Autisten ist es wichtig, dass ihre Umwelt ihre manchmal unkonventionellen Wege der Kommunikation und Interaktion anerkennt und wertschätzt, denn manchmal können auch wir NichtautistInnen daraus lernen. Dieses Verständnis ermöglicht es, sich nicht ständig anpassen und damit Teile der eigenen Persönlichkeit verstecken zu müssen.
Familien, insbesondere Eltern autistischer Kinder, stehen oft vor zusätzlichen Herausforderungen. Sie benötigen ebenfalls mehr Verständnis. Dieses beinhaltet die Anerkennung der Anstrengungen, die Eltern tagtäglich unternehmen, um ihre Kindern zu unterstützen und zu fördern und die Rahmenbedingungen entsprechend anzupassen. Dafür ist häufig ein Spießroutenlauf mit etlichen Personen und Behörden notwendig. Es geht darum, wohlwollender miteinander umzugehen und in schwierigen Zeiten solidarisch zusammenzustehen.
Ein solches umfassendes Verständnis erfordert ein Bewusstsein für die zusätzliche Energie, die sowohl Autistinnen und Autisten als auch ihre Familien aufwenden müssen, um sich in einer Welt zurechtzufinden, die nicht immer auf ihre Bedürfnisse abgestimmt ist. Dieses Verstehen schafft eine Basis für echte zwischenmenschliche Beziehungen und fördert eine inklusive Gesellschaft, in der jeder Einzelne sich akzeptiert und wertgeschätzt fühlt und nicht unnötige weitere Hürden aufgebaut werden.
Weitere Wünsche von AutistInnen und deren Familien
Von Toleranz zu echter Wertschätzung
Toleranz ist der erste Schritt, keine Frage. Aber wie wäre es, wenn wir diesen Schritt zu einem Sprung in Richtung echter Wertschätzung machen? Stell dir eine Welt vor, in der Vielfalt nicht nur geduldet, sondern als echte Bereicherung gefeiert wird. Wo der Austausch von Blickwinkeln zu neuen Erkenntnissen führt und das Anderssein als Geschenk betrachtet wird.
Akzeptanz ist der Schlüssel
Akzeptanz ist nicht nur ein Wort, das gut klingt. Es ist der Schlüssel zu einem Leben in Fülle. Es bedeutet, jeden so zu nehmen, wie er ist, und ihm die Möglichkeit zu geben, sich zu entfalten. Autistinnen, Autisten und ihre Familien wünschen sich keine Anpassung an das vermeintlich Normale, sondern die Freiheit, sie selbst zu sein – mit all ihren Facetten.
Respekt: Die Kunst, wirklich zuzuhören
Respekt zeigt sich nicht in leeren Worten, sondern im aktiven Zuhören und im Einbeziehen in die Gespräche. Es geht darum, auf Augenhöhe zu kommunizieren, konstruktive Kritik zu üben und gleichzeitig den Wert jedes Einzelnen zu erkennen – in jede Richtung. Auch wenn die Worte vielleicht fehlen, hat jede und jeder eine Stimme, die es zu hören gilt.
Selbstbestimmung: Der Weg zur echten Teilhabe
Selbstbestimmung bedeutet, sein eigenes Leben zu gestalten, Unterstützung zu bekommen, ohne bevormundet zu werden. Es ist der Wunsch nach einem Leben, in dem man trotz Herausforderungen das Steuer selbst in der Hand hält. Das betrifft auch Menschen, die viel Assistenz benötigen: gerade dann sollte umso mehr auch auf Selbstbestimmung geachtet werden.
Aufklärung: Das Fundament für Verständnis
Aufklärung ist das A und O. Sie baut Brücken, schafft Verständnis und räumt mit Vorurteilen auf. Es geht darum, Stärken und Herausforderungen gleichermaßen zu zeigen. Und ja, es geht auch darum, zu verstehen, dass Autismus keine Frage der Erziehung ist.
von Blau zu Bunt: Wege einer vielfältigen Gemeinschaft
Diese anfänglichen Überlegungen zur Farbe Blau waren mehr als ein Einstieg – sie sind eine Einladung an uns alle, gewohnte Pfade zu verlassen und einen neuen, inklusiveren Dialog zu beginnen.
Autistinnen und Autisten sind Experten ihrer eigenen Erfahrungen, und dies gilt auch für diejenigen, die nicht sprechen oder weniger Handlungskompetenzen haben. Es ist essentiell, dass wir uns auch bemühen, nonverbale Kommunikationsformen zu verstehen und anzuerkennen. Indem wir uns die Zeit nehmen, auf die vielfältigen Ausdrucksweisen von Autistinnen und Autisten zu achten und sie in unseren Dialog miteinzubeziehen, können wir sicherstellen, dass kein Aspekt des Spektrums unbeachtet bleibt. So kann jede Stimme, unabhängig von ihrer Lautstärke oder Form oder Veranstaltungen Gehör finden und geschätzt werden.
Eltern und Angehörige sind unermüdliche Befürworter ihrer Kinder. Ihr Engagement schafft ganz oft ein starkes Fundament, auf dem ihre Kinder sich entwickeln können. Sie sind aber auch Brückenbauer in Schulen, Einrichtungen und zu Menschen, die ihnen überall begegnen. Indem wir unsere Geschichten teilen und für die Bedürfnisse und Stärken unserer Angehörigen eintreten, fördern wir ein tieferes Verständnis.
Fachleute bieten Autistinnen, Autisten und deren Familien bestmögliche Unterstützung. Doch darüber hinaus können sie als Multiplikatoren für Inklusion und Verständnis agieren. Durch fortwährende Bildung, Sensibilisierung und das Hinterfragen bestehender Praktiken können sie wesentlich dazu beitragen, die Landschaft der Förderung und Bildung zu verändern und damit Lebensqualität aller Beteiligten zu verbessern.
Lasst uns gemeinsam dafür einstehen, dass diese Vision einer inklusiven Welt, in der Vielfalt als Bereicherung verstanden wird, nicht nur ein Ideal bleibt. Durch konkrete Aktionen in unseren Familien, Berufsfeldern und Organisationen können wir Schritt für Schritt eine Umgebung schaffen, in der jeder Mensch, unabhängig von seinen Fähigkeiten oder Herausforderungen, seinen Platz findet und wertgeschätzt wird. Denn es ist die Vielfalt unserer Gemeinschaft, die das Leben reich und farbenfroh gestaltet – weit über das Blau des Weltautismustages hinaus.
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Auch ich bedauere, dass „Autism Speaks“ den Weltautismustag so für sich vereinnahmt und regelrecht gekapert hat. Trotzdem wünsche ich mir, dass der Weltautismustag nicht zu einem Tag wird, an dem verschiedene Bewegungen und Gegenbewegungen um die Deutungshoheit kämpfen. Um das Thema Autismus gibt es schon so viele Machtkämpfe und politische Richtungsstreitigkeiten, bei denen oft sehr unschön miteinander umgegangen wird. Mich hat das immer eher abgeschreckt als angezogen.
Gerade am Weltautismustag sollte es darum gehen, dass Autistinnen und Autisten sie selbst sein können und eben nicht von irgendwem der irgendwas vereinnahmt werden. Auch ob man Autismus zum Beispiel als Behinderung ansieht oder als Variante der Neurodiversität, das sollte jeder ganz für sich alleine entscheiden und vertreten dürfen ‒ ohne unter dem Druck zu stehen, irgendwelchen vermeintlich höheren Interessen gerecht werden müssen. (Vielleicht liest sich das kryptisch für Menschen, die noch nicht in nautischen Communities unterwegs waren, aber diesen Druck gibt es, sobald man sich als Autist in der Öffentlichkeit bewegt.)
Ein gut formulierter Text, eine super Zusammenfassung die mich heute SEHR motiviert hat, an der riesigen gesellschaftlichen Aufgabe der Inklusion mitzuwirken, indem ich meinen Sohn bestmöglich unterstütze und fördere!
Danke, liebe Silke, für diesen wertvollen Impuls zum WAT.
Ich wundere mich auch immer wieder, wie unwissend viele sind und auch wenn es um die Sache und um Inhalte geht, die du hier auf den Punkt bringst, muss man einfach auch auf die Hintergründe hinweisen.
Danke dafür.
Mo
Hallo Silke,
ich danke dir für die Aufklärung.
Du verbindest das Inhaltliche mit dem Hintergrund, den jeder wissen sollte. Das bewundere ich immer, wie du die Dinge auf den Punkt bringst. Man lernt einfach immer was und fühlt sich niemals belehrt.
Besten Dank und viele Grüße
Silvio
Einmal mehr danke.
Ich habe den WAT gestern mit anderen Augen gesehen. Mit wachsamen und ich danke dir für deine unermüdliche Aufklärungsarbeit und das du uns Eltern nicht im Regen stehen lässt.
Alles Gute für dich – Anja