Dr. Eric Schopler wurde 1927 im mittelfränkischen Fürth geboren und wanderte während des Zweiten Weltkrieges mit seiner Familie in die USA aus. Dort promovierte er als Erwachsener zum klinischen Kinderpsychologen und entwickelte an der Universität von North Carolina das TEACCH-Programm zur Förderung autistischer Menschen.
Mit seiner Arbeit veränderte Schopler den Blick auf Autistinnen und Autisten und befähigte sie und ihre Familien zu mehr Selbstbestimmung, Handlungsvielfalt und Orientierung. Mit seinem Ansatz lassen sich bis heute die Lebensqualität vieler Autistinnen und Autisten sowie deren Familien verbessern.
Was genau ist TEACCH?
TEACCH ist die Abkürzung für“Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped Children“, auf Deutsch: „Behandlung und pädagogische Förderung autistischer und in ähnlicher Weise kommunikationsbeeinträchtigter Kinder“.
Ich beschloss, eine Expertin genauer darüber zu befragen und konnte mit Frau Susanne Wagener-Jarusch eine der Pionierinnen der Arbeit mit dem TEACCH-Ansatz in Deutschland als Interviewpartnerin gewinnen.
„Es geht in erster Linie um das Verständnis von Autismus. Das Verstehen und Respektieren der Besonderheiten von Autistinnen und Autisten ist grundlegend für TEACCH“, erklärt sie mir.
„Durch Visualisierung und Strukturierung (oft übersetzt als: Strukturiertes Lernen /Structured teaching) soll die individuelle Selbständigkeit erhöht werden, das heißt: die Person soll mit ihren individuellen Fähigkeiten so selbständig wir möglich leben können. Dabei werden ihre individuellen Fähigkeiten gefördert und die Umwelt weitestgehend an ihre Bedürfnisse angepasst. Es wird in allen Bereichen gefördert, die für die betreffende Person wichtig sind: Arbeitsfertigkeiten und Verhalten, Kommunikation, soziale Kompetenzen, Lebenspraxis und Freizeitverhalten“, so die Expertin.
An den Bedürfnissen ansetzen und die Stärken nutzen
Frau Wagener-Jarusch erklärt mir am Telefon, dass es immer um die Bedürfnisse der Autistin oder des Autisten geht. Es geht nicht darum, sich mit den Schwächen zu befassen, sondern an den Stärken anzusetzen, um diese zu nutzen und weiter auszubauen.“
Bei dem komplexen TEACCH-Programm, das es in North-Carolina gibt, handelt es sich um umfangreiche Angebote rund um das Thema Autismus: Wohnprojekte, Arbeitsangebote, Jobcoaching, Beratung, Therapien und Autismus-Diagnosen werden in den TEACCH-Zentren gestellt. Es ist ein staatenweites Programm, das eng mit der Universität verknüpft ist und dort weiterentwickelt wird.
„Das Programm in der Form haben wir in Deutschland nicht“, so Wagener-Jarusch, „aber wir arbeiten nach dem TEACCH-Ansatz und verstehen darunter das strukturierte Lernen, also das Nutzen von visuellen Hilfsmitteln und Struktur.“
Die Hilfsmittel sind ein Leben lang nutzbar, je nachdem, was individuell gebraucht wird und auch unabhängig davon, ob jemand spricht oder nicht.
Strukturen zu schaffen per TEACCH
- gibt Sicherheit für neue Abläufe
- veranschaulicht Strecken oder Räume
- macht wiederkehrende Tagespläne verlässlich
- kann die Angst vor langfristig geplanten Veränderungen nehmen (zum Beispiel den Übergang von der Schule in die Förderstätte oder ins Arbeiten)
- kann kleinschrittig komplexe Handlungen erklären
- visualisiert räumliche Barrieren und Bereiche
- visualisiert Abläufe und Strukturen, die sich dadurch besser einprägen
- ermöglicht Kommunikation per Visualisierung
- veranschaulicht zeitliche Abläufe mit Pausen
- kann auf neue Menschen/Mitarbeiter im Umfeld vorbereiten
- …
Wer profitiert also von TEACCH?
„Alle Menschen aus dem Autismus-Spektrum, ihre Angehörigen, aber auch alle anderen begleitenden Personen in Kindergarten, Schule, bei der Arbeit und in weiteren Einrichtungen“, erklärt Frau Wagener-Jarusch.
Mit der Visualisierung von Abläufen und Vorgängen wird direkt an der Stärke von vielen Autistinnen und Autistinnen angesetzt, nämlich an dem häufig ausgeprägten Blick für Details. Diese Details werden über den TEACCH-Ansatz zu einem Kontext zusammengeführt. Damit wird es vielen Autistinnen und Autisten möglich, Zusammenhänge zu verstehen. Das wiederum führt zu Struktur und Sicherheit, die in einer chaotischen Welt so dringend notwendig ist. Viele Missverständnisse können vermieden werden und Kommunikation wird in verlässliche Bahnen gelenkt.
„Wir haben mit einem Kind zu tun, das anders denkt, deshalb müssen wir auch anders denken.“
Dieses Aussage der Expertin hat mir besonders gut gefallen, da sie ausdrückt, dass es eben nicht darum geht, Autistinnen und Autisten anzupassen, sondern darum, die Rahmenbedingungen so zu verändern, dass ein gutes Miteinander möglich wird.
Es geht um eine andere Art des Denkens, eine andere Art der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung, das was Frau Wagener-Jarusch als „andere Kultur“ bezeichnet.
„TEACCH-Berater wie ich sind wie Reiseleiter in einer anderen Kultur“, erklärt sie mir. „Indem wir Eltern und Bezugspersonen anleiten, über den TEACCH-Ansatz eine Struktur zu schaffen, mit der ihre autistischen Angehörigen sich besser zurechtfinden, lernen sie automatisch über das Autismus-Spektrum dazu.“
Wie sieht eine Einzelförderung mit TEACCH aus?
„Am Anfang steht die Anamnese durch ein Interview oder einen vorbereitenden Informationsbogen. Es werden möglichst viele Informationen zu dem Klienten zusammengetragen. Dann wird eine Förderdiagnostik durchgeführt (PEP-3 oder TT-AP).
Zusammen mit den Eltern bzw. dem Klienten und den Testergebnissen werden Förderziele festgelegt.
Die Förderung findet in einer individuell strukturierten Situation statt. Die Eltern haben jederzeit die Möglichkeit dabei zu sein, um so in der Therapie Gesehenes in die eigene Arbeit mit dem Kind zu übertragen“, erzählt Frau Wagener-Jarusch von ihrer selbständigen Arbeit als TEACCH-Expertin (TEACCH℠ Certified Advanced Consultant).
Beispiel: Auf dem Strukturbild oben sieht man ein einfaches Rezept für Hühnersuppe. Die Zutaten sind bereits abgemessen, Dosen sind bereits geöffnet. Mit Hilfe der Anordnung kann der/die Autist/in nun die Zutaten der Reihe nach zusammengeben und umrühren.
TEACCH und herausforderndes Verhalten: „Häufig geht es darum, dass wir unser eigenes Verhalten ändern, damit das Kind sein Verhalten ändern kann.“
Sogenanntes herausforderndes Verhalten entsteht meistens, wenn Kommunikation nicht gelingt, Missverständnisse entstehen, eine Reizüberflutung stattfindet und Bedürfnisse übersehen werden.
„Visualisierung über den TEACCH-Ansatz vermittelt Struktur und Sicherheit“, erklärt Frau Wagener-Jarusch. „Abläufe werden klarer und verlässlicher. Anders als das gesprochene Wort bleibt eine Visualisierung sichtbar und kann dauerhaft angesehen werden. Auch das vermittelt Klarheit. Wenn man mit der Zeit herausfindet, welche Situationen besonders schwierig für das autistische Kind sind, empfiehlt es sich, gerade für diese Visualisierung und Struktur anzubieten.“
Die Expertin erklärt, dass es dabei äußerst wichtig ist, zu berücksichtigen, was genau die Autistin oder der Autist verstehen und zuordnen kann. Das variiert zwischen Fotos, Bildern, Piktogrammen bis hin zum Schriftverständnis. Alle Variationen sind denkbar, immer in Abhängigkeit davon, was individuell verstanden werden kann und gebraucht wird.
„Wenn AutistInnen auf diese Weise bessere Möglichkeiten haben zu kommunizieren, erhalten sie ein Stück Kontrolle über ihr Leben zurück. Dinge passieren nicht mehr so häufig unvermittelt und ungefragt. Auch das wirkt deeskalierend“, so Frau Wagener-Jarusch.
Für den Umgang mit herausforderndem Verhalten empfiehlt sie außerdem, aufzuschreiben was dem Verhalten vorausging und was anschließend half, um mit der Zeit Auslöser zu finden. Auf „Ellas Blog“ findet Ihr in der Bibiliothek für diese Aufzeichnung ein Muster, das Ihr gerne verwenden könnt.
„Verhaltensveränderung braucht Zeit. Es geht nicht um Funktionieren und darum, einen Schalter umzulegen, sondern darum, störende Auslöser zu finden und Rahmenbedingungen zu verändern. Geduld und Kontinuität sind wichtig.“
Im akuten Fall von herausforderndem Verhalten, wie zum Beispiel einer Selbstverletzung (in die Hand beißen, Kopf an die Wand schlagen,…) hilft es auch nach der Erfahrung von Frau Wagener-Jarusch nichts, das Verhalten einfach zu verbieten. „Wichtig ist, davon abzulenken und eine Alternative anzubieten, also das Verhalten umzulenken und den Fokus zu schwenken. Häufig geht es darum, dass wir unser eigenes Verhalten ändern müssen, damit das Kind sein Verhalten ändern kann.“
Wie man Frau Wagener-Jarusch kontaktieren kann
Susanne Wagener-Jarusch ist Sozialpädagogin und TEACCH℠ Certified Advanced Consultant. Seit 1997 arbeitet sie mit dem TEACCH-Ansatz, davon 15 Jahre lang bei Autea, u.a. auch gemeinsam mit Dr. Anne Häußler.
Gemeinsam mit ihren KollegInnen leistete sie Pionierarbeit für den TEACCH-Ansatz in Deutschland und trug damit auch zu einem Paradigmenwechsel bei, den man inzwischen zwar nicht überall, aber zum Glück an vielen Stellen spürt: weg vom defizitorientierten Ansatz, hin zum Nutzen von Stärken.
Das, was bereits Dr. Eric Schopler so wichtig war, sich an Kompetenzen zu orientieren, Familien zu befähigen Kommunikationsstrukturen zu schaffen und Respekt vor Menschen zu haben, die anders sind und anders denken, war während unseres gesamten Gespräches deutlich zu spüren. Diese wertschätzende Haltung war sehr wohltuend.
Ich glaube, Niklas würde sie mögen :-)
Aber ich wollte Euch ja verraten, wie man die Expertin kontaktieren kann:
Kontakt per Mail ist HIER möglich.
Zum Schluss verrät Frau Wagener-Jarusch mir noch, dass die Arbeit mit Autistinnen und Autisten sie sehr bereichert. Für sich selbst nimmt sie daraus mit, die Welt auch mal mit anderen Augen zu betrachten und Dinge in Frage zu stellen.
Was ist Ihnen sonst noch wichtig zu sagen?
„Danke für ihr Interesse an TEACCH und an meiner Arbeit. Ich freue mich, dass es Ihren Blog gibt und Sie dazu beitragen, dass Informationen weitergegeben werden können.“
Sehr gerne – ich bedanke mich ganz herzlich für die vielen Informationen und den Einblick in Ihre Arbeit. Alles Gute!
Zum Weiterlesen:
Interview mit Sandra, Sonderpädagogin im Bereich Autismus: „Ich gehe jeden Tag gerne zur Arbeit und arbeite mit TEACCH“
Eine gute Idee mit dem Rezept Zutaten der Reihe nach richten! Ich benutze auch Kinder und Studenten Kochbücher weil sie verständliche Formulierungen haben