Gastbeitrag zum Thema Autismus-Diagnose im Erwachsenenalter: „Bunter Hund“ oder „Mein spätes Outing“

veröffentlicht im Mai 2021


Ich habe hier schon einmal als Lehrerin einen Beitrag geschrieben, nun schreibe ich in eigener Sache: „Mein spätes Outing“
Ich bin nun 57 Jahre alt und seit zwei Jahren Asperger-Autistin. Nein, ich bin es natürlich schon mein ganzes Leben lang, aber seit zwei Jahren ist es offiziell.

Ich bin durch meine Kinder darauf gekommen, die beide die Diagnose haben und je mehr ich mich mit den Anzeichen dieses „Andersseins“ beschäftigt habe, umso mehr wurde mir klar, dass auch ich mein ganzes Leben bereits mit diesen (für mich) Widrigkeiten zu kämpfen hatte.
Ja, ich war immer anders als die anderen. Als die anderen Mädchen, als die anderen Klassenkameraden, als meine drei Brüder. Und damals hat noch kein Mensch von Asperger-Autismus oder Hochbegabung gesprochen. Ich litt unter der Lautstärke meiner Umwelt, ich litt unter Ungerechtigkeiten, die mich fast auf die Palme brachten.
Meine Deutlichkeit, bestimmte Dinge auszusprechen machte mir auch nicht immer Freunde. Ich hasste Veränderungen, litt unter einer Hypersensibilität der Haut und verfluchte alle Etiketten in meiner Kleidung, kratzige Strumpfhosen, Strümpfe die spannten, den Gummibund in der Schlafanzughose uvm. Zu Experimenten beim Essen kann man mich nur schwer überreden.

Ich hatte nur wenige Freundinnen, die aber meine interessengeleitete Gestaltung von Freizeit auch nicht immer teilten. Und auch heute nicht teilen. Abhängen, das gab es bei mir nicht. Ich wollte etwas Sinnvolles unternehmen oder aber ich zog mich zurück mit meinen Büchern. Ich konnte schon lesen, bevor ich in die Schule kam und meine Eltern amüsierten sich so sehr, wie schnell ich lesen konnte, dass sie mich aus einem Telefonbuch vorlesen ließen. Ich fand dies allerdings weniger lustig, weil absolut sinnentfremdet.
Wenn ich Dinge besser wusste als die anderen, so habe ich dies stets zum Ausdruck gebracht. Somit waren meine Probleme in hierarchisch geprägten Strukturen vorprogrammiert.

Entscheidungen, ob im Restaurant vor der Speisekarte oder bei der Wahl meines Studiums fielen mir schwer.
Somit habe ich viel ausprobiert, zweierlei Berufe erlernt (Werbetexterin/Lehrerin) und wurde nebenbei als Malerin tätig. Meine nach außen hin toughe Art und meine innere Sensibilität passte und passt für viele Männer, denen ich begegnete und noch begegne überhaupt nicht zusammen. Meine Singlejahre mehren sich, das Alleinesein wird zum ungewollten Lebensentwurf.
Noch habe ich meine Kinder, sie sind Zwillinge (19 Jahre, seit 17 Jahren mit mir allein) und haben auch schon auf Ellas Blog etwas geschrieben. Sie haben nach sehr steinigen Schuljahren (Für hochbegabte Menschen mit Asperger gibt es in diesem Schulsystem immer noch keine adäquaten Bildungsangebote) nächste Woche ihre Abiprüfungen. Unter Corona auch schon wieder eine absolute Herausforderung.
Sie haben ihre letzten 3 Schuljahre in einem Oberstufengymnasium absolviert, das war das Beste, was unser System zu bieten hatte. Und es hat zum Glück funktioniert. Aber was ist dann?

Eine Familie Asperger, fast schon unterhaltsam, wie in unseren Wänden gelebt und diskutiert wird. Ich hoffe, sie verbringen ihre Studienjahre auch noch in Frankfurt bei mir, denn ich fürchte mich davor, ganz alleine zu bleiben.
Ich habe mich mein ganzes Leben lang an die Welt der neurotypischen Menschen angepasst, sodass ich heute eine Schmerzkrankheit habe. Mich wund fühle. Ausgelaugt. Und mir wünschen würde, dass ich nochmal einem Menschen begegne, der meine Andersartigkeit als Bereicherung ansieht und gemeinsam mit mir alt werden will. Ohne vorzeitig zu altern. Denn so gerne ich auch für mich bin und meinen Interessen nachgehe, so sehr sehne ich mich nach Austausch, Verständnis, Zweisamkeit.

Das musste einfach mal raus, denn natürlich glaubt mir kaum ein Mensch in meinem Bekanntenkreis und meinem Kollegium, dass ich Asperger-Autistin bin. Weil sie mich vorher schon kannten und sich selbst aber nicht auskennen. Für sie bin ich zu kommunikativ, zu unternehmungslustig und ja, ich könne ihnen ja schließlich auch in die Augen schauen, lach!
Das waren die Zeilen von jemanden, der erst spät diagnostiziert wurde, nun Erklärungen für die Eigenarten in seiner Biografie hat und dennoch noch damit hadert.

Uta Daniel
Anbei mein Selbstbildnis „Bunter Hund“ … mehr unter: www.lyrikundleinwand-utadaniel.com

©Uta Daniel

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KOMMENTARE

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  1. Vielen Dank für die Offenheit, die sehr gute Beschreibung und ich wünsche Ihnen, dass auch nachdem die Kinder ihre eigenen Wege gehen, ein Leben mit Zufriedenheit folgen kann.
    Das wünsche ich meinem erwachsenen Sohn auch.

    Einblicke wie Ihre, geben mir immer wieder die Möglichkeit, die Details zu verstehen. Jeder Autist ist anders, und doch ergeben alle Erzählungen zusammen ein Bild.
    Vielen Dank dafür.

  2. Hallo. Deinen „bunten Hund“ finde ich ganz super, und die Offenheit, mit der du aus deinem Leben berichtest, beeindruckt mich auch. Verblüfft bin ich immer, wenn ich in solchen Darstellungen neben Gemeinsamkeiten (hier übrigens neben der Altersklasse auch der Job), auch vieles im Detail Unterschiedliche entdecke: Bei der Speisekarte im Restaurant geht es bei mir ganz schnell, weil ich in einfachen Lokalen grundsätzlich Schnitzel-Pommes-Salat bestelle, in Pizzerien immer Pizza Tonno und darüber hinaus nur so weit lese, bis ich etwas habe, das mir zusagt. Etiketten mache ich weg, weniger weil sie mich auf der Haut stören, sondern weil ich irgendwie den Sinn dieser Fähnchen (heute ja oft in sämtlichen Sprachen dieser Welt) nicht verstehe: Stoffe kann ich unterscheiden, und dass man bunte T-Shirts nicht kocht, weiß ich auch. Deshalb: raus mit dem Quatsch. Braucht man nicht.

    Toll finde ich auch, dass du es schaffst dich, dich Freunden und Kolleg:innen gegenüber zu outen. Ich bin da zurückhaltender, nicht zuletzt, weil ich gar nicht weiß, wie ich es anstellen soll. So zwischen dem ersten und dem zweiten Bier mal eben sagen „Ach übrigens, ich hab ne AS-Diagnose“? Puh…

    Jetzt habe ich eigentlich nur rumgequatscht, aber deine Darstellung machte Lust zu reagieren…

  3. Hallo,

    Mein Sohn (18) ist auch Asperger und auch ich sehe parallelen.

    Ich konnte auch vor der Schule lesen und war immer sehr kritisch beim Essen. Ich brauche immer einen Plan für meine Tage und bete diesen fast gebetsmühlenartig runter. Und wenn sich etwas ändert, bringt mich das aus dem Konzept.

    Ich wirke sehr selbstbewusst und humorvoll – bin innerlich aber furchtbar unsicher.

    Emotionen überfordern mich – daher „verkopfe“ ich viel.

    Ich mag keinen nassen Sand an Füßen oder Händen und wenn mich jemand z.B. am Arm streichelt, tut mir das schon nach wenigen Sekunden fast weh.

    Ob ich nun auch Asperger bin? Ich habe keine Ahnung. Da ich keine gute Kindheit hatte, kann vieles auch so psychisch begründet sein.

    Lautstärke und Licht stören mich zum Beispiel nicht wirklich.

    Beim Essen gibt es aber Dinge, die ich allein schon wegen des Essgefühls nicht mag

    Ich werde es wohl nie sicher wissen. Ich habe aber viel Respekt und Verständnis für Menschen aus dem Autismus-Spektrum.

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