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Familienleben mit Autismus in der Pandemie, oder: „Das kommt mir doch irgendwie bekannt vor.“

veröffentlicht von Silke Bauerfeind im April 2020


Als die Zeit des Verzichts begann, der sogenannte Lockdown, als die Kindergärten und Schulen schlossen und man nicht mehr ohne triftigen Grund das Haus verlassen durfte, neue Verhaltens- und Begrüßungsregeln Einzug hielten, plötzlich Abstand statt Nähe geboten war, niemand mehr in den Urlaub fahren durfte, alles durcheinander geriet und niemand wusste und immer noch nicht weiß, wie lange das alles andauern wird, da waren die Reaktionen unter Autistinnen und Autisten und ihren Familien recht unterschiedlich.

Für manche war und ist es eine Erleichterung, dass soziale Distanz plötzlich möglich ist, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Für manche ist es erholsam, dem Druck der Gesellschaft nicht mehr ausgesetzt zu sein und sich in einem weniger reizüberfluteten Alltag wiederzufinden.
Für manche war es aber auch so, als würde ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen, weil sie sehr stark auf gewohnte Strukturen und die damit verbundene Sicherheit angewiesen sind und weil pflegende Angehörige, die ohnehin schon meist am Limit agieren, nun ganz auf sich allein gestellt sind.

In diesem Situations- und Gefühlswirrwarr wurden aber auch andere Stimmen laut wie: „Jetzt sehen die anderen mal wie das ist, wenn man plötzlich nicht mehr so darf, wie man eigentlich möchte.“ – „Jetzt sehen andere Familien mal, wie es ist, wenn das eigene Kind nicht in die Schule gehen darf.“ – „Jetzt sehen andere mal, wie das ist, wenn man nicht in den Urlaub fahren kann.“ – „Jetzt sehen andere auch mal, wie das ist, wenn man sozial isoliert ist.“
Ja, viele Gefühle, die diese Tage beherrschen, kennen Familien mit autistischen Kindern nur allzu gut. Sie spiegeln das wider, was wir schon viele Jahre erleben – mal mehr, mal weniger, mal ganz alltagspraktisch, mal aber auch die eigene Haltung und Zukunftsperspektive prägend.

Ein paar Aspekte möchte ich herauspicken.

Wasserkreisel

Struktur und Sicherheit
Ich habe selten so häufig wie in diesen Tagen gehört, dass Personen, die nichts mit dem Thema Autismus zu tun haben, von Struktur und Routinen sprechen. Der normale Rahmen, den Kitas, Schulen und weitere Einrichtungen vorgeben, ist so selbstverständlich, dass jetzt sichtbar wird, was passiert, wenn er wegbricht.
Für uns Familien mit autistischen Angehörigen ist schon lange klar, wie essentiell (und hier liegt der große Unterschied: essentiell!) wichtig diese Strukturen sind. Nur mit Verlässlichkeit und Sicherheit gelingt es unseren Kindern und erwachsenen Autisten, sich in der reizüberfluteten Umwelt zurechtzufinden. Wenn das genommen wird, bricht weitaus mehr zusammen als ein angenehmer Rahmen, sondern ein notwendiges Gerüst, das Familien und Autisten nicht selten hart erkämpft haben und nicht so eben mitnehmen, weil er ja für alle vorgegeben und eingerichtet ist.

Schließung von Kindergarten, Schule und weiteren Einrichtungen
Damit sind wir beim nächsten Punkt. Der Weg durch die Bildungseinrichtungen – für manche bis ins und durchs Erwachsenenalter hindurch – ist alles andere als einfach – besonders nicht für ein autistisches Kind. Viele wechseln mehrfach die Einrichtungen, bekommen vermittelt, dass ihr Kind nicht willkommen ist oder dass es erstmal für ein paar Wochen und Monate zuhause bleiben soll, bis die Eltern es „in die Spur gebracht“ und „richtig erzogen“ haben. Viele Familien mit autistischen Kindern wissen ganz genau, wie es ist, wenn das Kind nicht mehr kommen darf und ausgeschlossen wird.
Nun kann man das nicht mit der momentanen Situation vergleichen, weil ja alle nicht kommen dürfen und es nicht persönlich zu nehmen ist. Aber genau das verdeutlicht, dass es sonst – und dieses sonst ist der Alltag für viele Familien, über die ich hier schreibe – sehr wohl persönlich ist, und Kinder aus Bildungseinrichtungen ausgeschlossen werden, weil die Rahmenbedingungen für sie nicht passen. Leider ist der Aufschrei dann nicht so groß, obwohl es doch so wichtig ist, jeden Einzelnen zu schützen, wie wir zur Zeit lernen, nicht wahr?
Übrigens gibt es auch einen sogennanten Kreis „Unversorgter“ bei den behinderte Erwachsenen, die nirgendwo hinpassen und zuhause gepflegt werden. Auch das ist den meisten überhaupt nicht bekannt.

Rahmenbedingungen
Plötzlich spricht jeder von der Digitalisierung des Bildungswesens. Viele Autistinnen und Autisten brauchen seit Jahren eine digitale Lernumgebung, um ihr Potential abrufen zu können. Viele stießen in der Vergangenheit auf Unverständnis, jetzt plötzlich geht es.
Kleine Klassen, kleine Gruppen, die weniger Reizüberflutung verursachen, sind eine große Erleichterung für Autistinnen und Autisten. „Wir können doch nicht für jeden eine Extrawurst braten“, mussten sich Familien in der Vergangenheit anhören. Jetzt geht es plötzlich. Jetzt sollen alle daran teilhaben. Sehr schön. Betrifft ja auch eine Mehrheit und nicht mehr die Minderheit. Aber ich dachte, wir sollen jeden Einzelnen schützen und mitnehmen, so hört man doch diese Tage immer wieder. Wird das nach dem Lockdown auch noch so sein?

Kommunikation über digitale Medien kommt Autistinnen und Autisten im Allgemeinen sehr entgegen. Viele baten bereits in der Vergangenheit darum, lieber per Mail mit z.B. Ämtern oder Ärzten kommunizieren zu können. Einige trafen auf Menschen, die dies berücksichtigten. Viele trafen auf Menschen, die auch das als nicht zu realisierende Extrawurst abtaten. Interessant, was plötzlich alles geht, wenn man sich die neue Kommunikationskultur ansieht. Wenn es dazu noch Fragen gibt, sollten Autistinnen und Autisten in den Aufbau neuer Kommunikationswege einbezogen werden, denn sie wissen genau, wie es klappen kann und dabei strukturiert und übersichtlich bleibt.

Körperliche Distanz
Ich muss sagen, dass sogar ich als Nichtautistin es als Wohltat empfinde, nicht mehr ständig berührt zu werden. Wie erleichternd dieser Aspekt gerade für viele Autistinnen und Autisten ist, kann man sich vielleicht ansatzweise vorstellen.
Plötzlich ist es ok, wenn man sich nicht die Hand gibt, sich nicht ständig berührt und Körperkontakt lieber vermeidet. Plötzlich ist das ok und gemeinschaftstauglich, was sonst in manchen Therapien sogar antrainiert werden soll.
Hier sieht man endlich mal, wie sehr die Mehrheit in einer Gesellschaft die Vorgaben macht, nach denen sich dann alle zu richten haben. Was ist, wenn die Mehrheit wieder für körperliche Nähe ist? Sind es dann wieder die Autisten, die sich für das Bevorzugen von Distanz oder nur ausgewählter Nähe rechtfertigen müssen? Vielleicht können da einige mal drüber nachdenken, dass es etwas mit Respekt zu tun hat, dies auch jenseits der Pandemie zu akzeptieren.

Soziale Verzichte
Im Moment muss man verzichten, Kontakte einschränken, kann nicht mehr spontan jemanden treffen oder etwas unternehmen. Das ist schwierig und belastend für alle.
Aber – und ich verrate damit kein Geheimnis – die meisten Familien mit autistischen Kindern haben im Laufe der Jahre gelernt, genau damit zu leben. Mit der  Zeit schränken sich Kontakte ein, weil man mit der Freiheit und Spontanität der anderen einfach nicht mehr mithalten kann. Mit der Zeit schränken sich Kontakte ein, weil man auch müde wird, Besserwissern und Einmischern immer wieder von vorne erklären zu müssen, warum manches in unserem Leben eben ist, wie es ist.
Ich muss sagen, dass dieser Punkt mir persönlich am Wenigsten zu schaffen macht, weil wir sowieso nur sehr ausgewählten persönlichen Kontakt haben und sich das meiste ohnehin per Telefon abspielt. Nur der direkte Kontakt zu meiner engsten Familie, insbesondere zu meiner erwachsenen Tochter, die nicht mehr bei uns zuhause wohnt, geht mir schmerzlich ab.

Wir und andere Familien haben uns daran gewöhnt, weniger Kontakte zu haben, manche leben auch ohne Corona sozial isoliert. Es wäre doch schön, wenn man an diese Familien, die auch jenseits der Pandemie unfreiwillige soziale Distanz leben, denkt, wenn alle anderen wieder so können, wie sie wollen.
Es schrieben mir auch einige erwachsene Autistinnen und Autisten, die zwar auch sonst zurückgezogen leben, aber ausgewählte Freundschaften pflegen. Diese nun auch nicht mehr sehen zu können, bringt sie zur Verzweiflung. Auch das muss hier unbedingt gesagt werden.

Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden
Ich muss zugeben, dass ich da doch vor mich hin schmunzeln muss, wenn ich in den Medien lese oder höre, dass der Lockdown den Menschen helfen kann, sich bewusst zu machen, was sie denn tatsächlich vermissen und was nicht, welche Kontakte sie wiederaufnehmen möchten und welche nicht, was sie „danach“ grundsätzlich anders machen möchten.
Ich muss schmunzeln, weil das etwas ist, was viele Familien wie die unsere schon längst hinter sich haben. Die meisten verabschieden sich mit der Zeit von Energiefressern und den Menschen, die unsere autistischen Angehörigen nicht so akzeptieren, wie sie sind. Die meisten von uns haben längst gelernt, mit ihren Kräften zu haushalten. Natürlich gelingt das mal mehr und mal weniger gut und wir sind keine Profis darin, immer fitt zu sein. Aber wir sind Profis darin, uns in Krisen auf das Wesentliche zu besinnen und uns und unser Leben immer wieder zu hinterfragen – Autistinnen, Autisten und auch ihre Angehörigen.

Behinderte und pflegende Angehörige werden übersehen
Was mich doch wirklich sprachlos macht, ist die Konsequenz, mit der Behinderte und ihre Angehörigen wochenlang übersehen wurden. Es ist nicht einmal so, dass man sagte „Nein, für diese Gruppe tun wir nichts“, sondern es ist so, dass wir überhaupt nicht vorhanden waren. Inzwischen tut sich ein bisschen was.
Auch die Leistung, die pflegende Angehörige täglich auch jenseits von Corona erbringen, und damit das hochgelobte Pflegesystem ergänzen und entscheidend entlasten, wird nicht gesehen. Nach wie vor gibt es keinen Blick dafür, dass Angehörige, die ihre Eltern oder ihre Kinder pflegen, dies 24-Stunden tun, ohne Schichtwechsel, ohne Wochenende und ohne gesicherten Schlaf.
Wir wollen dafür Wertschätzung. Wir wollen gesehen werden. Das enttäuscht mich sehr, muss ich ehrlich zugeben, aber ich schrieb darüber bereits an anderer Stelle ausführlicher.

Fehlende Perspektiven
Das ist eine der häufigsten Fragen, die mir von anderen Eltern gestellt werden, wenn sie die Diagnose „Autismus“ für ihr Kind erhalten: „Wie genau geht es denn weiter?“ – „Wird denn irgendwann alles besser?“ – „Wie wird unsere Zukunft mit der Diagnose aussehen?“
Mit diesen Fragen zu leben, sie immer wieder hin- und herzuwenden, sie neu mit Erfahrungen, Wissen, Wünschen und Plänen auszustatten, eigene Ressourcen daran anzupassen und es auszuhalten, dass trotz aller Umsichtigkeit und trotz allen Kümmerns eine glasklare Perspektive einfach nicht möglich ist, das ist eine der größten Herausforderungen.
Und das sieht man jetzt auch in der Pandemie. Die Unsicherheit, wie lange es dauert, ob Existenzen nachhaltig damit bedroht und vernichtet werden, das ständige Nachjustieren und Jonglieren, das Nichtvorhandensein eines Endpunktes, das setzt vielen äußerst zu.
Keine Perspektive zu haben, nimmt Sicherheit und Kontrolle. Keine Kontrolle zu haben, nimmt sichere Perspektiven.
Das ist etwas, was gerade Familien mit behinderten Kindern und Behinderte selbst immer wieder aushalten müssen. Vielleicht können Familien ohne behinderte Angehörige dieses Gefühl, das sie im Moment wegen der Pandemie haben, ein kleines bisschen konservieren, um sich in anderen Zeiten dann etwas besser in uns hineinzuversetzen.

Dankbarkeit
Auch das ein Gefühl, das mir von vielen Familien mit autistischen Kindern entgegenschlägt. Und seien sie noch so gebeutelt und im Moment am Rande ihrer Kräfte. Die meisten sind dankbar für das, was sie haben. Klar kämpfen wir für die Rechte unserer Kinder, aber die Löwen, die wir nach außen hin geben, die Krallen, die wir zeigen, müssen wir herauskehren, um zu erreichen, was nötig ist.

Wenn sich die Türen hinter uns schließen, sind wir dankbar für unsere Kinder, die uns jeden Tag zeigen, dass man die Welt auch mit ganz anderen Augen sehen kann.

Dieser Text ist aus meiner individuellen Elternperspektive verfasst. Autistinnen und Autisten und auch andere Eltern würden die momentane Situation sicherlich noch anders reflektieren. Es wäre sehr interessant für mich und viele andere, davon zu erfahren. Wenn Ihr mögt, schickt mir gerne einen Gastbeitrag.
Dankeschön :-)

wer hier schreibt

Silke Bauerfeind

Gründerin von Ellas Blog (2013), Buch- und Kurs-Autorin, Kulturwissenschaftlerin, psychologische Beraterin, Referentin. 

"Ich verbinde persönliche Erfahrung mit Wissen rund um Autismus, Teilhabe und Familienrealität. Mein Schwerpunkt liegt auf Autismus mit hohem Pflege- und Unterstützungsbedarf – Themen, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft zu kurz kommen"

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Es ist immer wieder überwältigend, was wir als Eltern autistischer Kinder bedenken, organisieren und verarbeiten müssen. Neben viel Wissen und Erfahrungen, die du hier im Blog findest, ist eine solidarische Gemeinschaft unglaublich hilfreich. Das Forum plus ist ein geschützter Bereich nur für Eltern autistischer Kinder. Hier findest du außer praktischen Tipps viel Verständnis und Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen wie Du.

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