Häusliche Pflege und Systemrelevanz – wie Corona eine nichtvorhandene Lobby sichtbar macht

veröffentlicht im April 2020


Wenn man „häusliche Pflege“ oder „pflegende Angehörige“ in Suchmaschinen eingibt, stößt man fast ausschließlich auf Beiträge, die sich mit der Pflege von betagten und dementen Menschen beschäftigen. Dieser Anteil der Bevölkerung ist groß und noch dazu stark am Wachsen. Die häusliche Pflege in diesem Bereich enorm wichtig.

Aber es gibt auch noch eine andere Gruppe innerhalb dieser Gesellschaft – nämlich die der Eltern, die ihre behinderten Kinder, Jugendlichen und erwachsen gewordenen Kinder betreuen und pflegen. Darüber liest man nahezu nichts.

Quelle: pixabay, User truthseeker08

Anja hat einen 15jährigen Sohn mit Angelman-Syndrom und Autismus. Er hat Pflegegrad 5, schläft nachts nicht durch und braucht Hilfe beim Essen, Trinken, Ankleiden und Waschen. Er muss wegen epileptischer Anfälle rund um die Uhr betreut werden.
Er besucht eine Schule, die nun geschlossen ist. Dank eines ambulanten Pflegedienstes kann Anja einem Teilzeitjob nachgehen und ab und zu etwas für ihre eigene Gesundheit tun, indem sie einen Yogakurs besucht. Auch der Pflegedienst kommt nun nicht mehr.
Betreuung und Pflege liegen jetzt allein bei ihr, da sie alleinerziehend ist. Ihr Beruf als Immobilienmaklerin gilt als nicht systemrelevant, ihr Beruf als pflegende Mutter eines schwerbehinderten Kindes wird nicht als systemrelevant anerkannt. Damit hat sie auch keinen Anspruch auf eine Notbetreuung.

Thomas und Sinje haben eine 10jährige autistische Tochter, die starke Weglauftendenzen hat, sich nicht alleine versorgen kann, bei Veränderungen und dem Wegfall von vertrauten Strukturen in Autoaggressionen verfällt und ihren Kopf an die Wand schlägt. Ihre Schule hat geschlossen.
Da Thomas auch noch seine demente Mutter unterstützt, deren Pflegedienst ebenfalls nicht mehr kommt, ist Sinje die meiste Zeit alleine mit ihrer Tochter.
Thomas und Sinje betreiben ein Café; das ist nicht systemrelevant. Ihre Pflegetätigkeit einer Tochter mit Pflegegrad vier wird nicht als systemrelevant anerkannt.

Das sind nur zwei Beispiele für Familien, die am Ende ihrer Kräfte und im Laufe der Jahre müde geworden sind, zu kämpfen.
„Wir haben einfach keine Lobby“, schreibt mir Sinje. „Immer wird über die Bedeutsamkeit der Pflege gesprochen. Gerade jetzt wird den professionell Pflegenden endlich die Wertschätzung zuteil, die sie verdienen. Aber was ist mit uns? Hat man uns vergessen?

Die aktuelle Situation

Schmerzlich bewusst wird in diesen Tagen, dass die Bevölkerungsgruppe der Behinderten und ihre Angehörigen zunächst einmal nicht gesehen wurden. Förderstätten und Werkstätten wurden nicht beachtet, dann justierte man nach und plötzlich musste alles geschlossen werden.
Aber so geht es eben auch nicht, weil behindert nicht gleich behindert ist und die Bedürfnisse sehr verschieden sind.
Für viele ist es ein MUSS, dass ihre Einrichtungen schließen, um sie wegen Grund- oder Begleiterkrankungen zu schützen.
Für viele wäre es aber ein MUSS, Strukturen aufrecht zu erhalten, weil ihre Behinderung darin liegt, orientierungslos zu sein, Wahrnehmungs- und Verhaltensauffälligkeiten zu haben und rund um die Uhr betreuungsbedürftig zu sein.
Daher sind einige Familien nun absolut überfordert mit der plötzlichen 24-Stunden-Betreuung ihrer (bereits erwachsen gewordenen) Kinder.
Darunter gibt es auch Eltern, die selbst schon betagt sind und nun plötzlich wieder in der Vollzeitpflege stehen.

Die Bedeutung der häuslichen Pflege

Es wird auch jenseits von Corona immer wieder betont, wie wichtig, die ambulante Versorgung von behinderten Menschen sei, wie gut es sei, wenn zuhause gepflegt wird, um die stationären Einrichtungen zu entlasten. Ohne die pflegenden Angehörigen würde das Pflegesystem auch ohne Corona zusammenbrechen, denn sie sind ein unverzichtbarer Pfeiler innerhalb der Pflege- und Versorgungslandschaft insgesamt, da zwei Drittel aller Pflegebedürftigen zuhause versorgt wird. Ohne sie würde das System nicht funktionieren.
Leider führt das nicht dazu, dass pflegende Angehörige als – wie man nun so schön sagt – systemrelevant angesehen werden. Das ist fatal und wäre dringend notwendig

Pflege durch Angehörige hat eine große Bedeutung innerhalb unserer Gesellschaft. Dabei haben die meisten den demografischen Wandel im Blick. Wenn man bedenkt, dass die Bevölkerung prozentual immer älter wird, ist es von großer Wichtigkeit, dass viele zu Pflegende in häuslicher Umgebung bleiben, weil es schlicht zu wenige Pflegeplätze gibt.
Und auch für Familien mit autistischen Kindern ist es sehr schwer, ein auf diese Bedürfnisse eingerichtetes externes Wohnumfeld zu finden. Viele Familien stehen z.B. auf etlichen Wartelisten für Wohnprojekte, um für die Zukunft ihrer Kinder vorzusorgen – denn auch diese Eltern bleiben nicht immer jung und können die Aufgabe nicht ewig bewältigen.

Häusliche Pflege ist eine persönliche und gesellschaftliche Verantwortung, für die uns in Deutschland zum Glück viele Unterstützungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Nicht immer ist es einfach, diese auch zu bekommen, daher ist es häufig nötig, sich die relevanten Leistungen in nervenaufreibenden Prozessen zu erstreiten.
Aber wenn es dann mal geklappt hat, dann bekommt man bestenfalls Pflegegeld, z.T. Landespflegegeld, Verhinderungspflege, Entlastungsleistungen, Kurzzeitpflege und ggf. weiteres.
Nur ist auch dann noch nicht gewährleistet, dass die Hilfe wirklich greift, denn viele haben zwar den Anspruch auf eine Einzelfallhilfe oder Unterstützung durch Verhinderungpflege, finden aber niemanden, der sich diese Aufgabe zutraut oder für wenig Geld bereit ist, sich in dieser Form einzubringen.

An diesem Punkt zeigt sich die Bedeutsamkeit der Wertschätzung von Pflege und der Arbeit mit behinderten Menschen im Allgemeinen.

Denn häusliche Pflege ist oft nur in Zusammenarbeit mit professioneller Pflege möglich. Diese wiederum ist aber nur verfügbar, wenn sie per Wertschätzung, optimale Rahmenbedingungen und nicht zuletzt angemessene Bezahlung als Beruf attraktiv ist. Jeder weiß, dass hier ein gesamtgesellschaftliches Problem liegt.

Zurück zur aktuellen Situation: Die Säule der professionellen ergänzenen Pflege und Betreuung im häuslichen Bereich bricht gerade in Coronazeiten für viele weg. Die bewährten, vertrauten und notwendigen Unterstützungssysteme stehen vielen nicht mehr zur Verfügung – dadurch steigt automatisch der zu bewältigende Anteil der häuslichen Pflege für die Angehörigen über die Grenzen körperlicher und psychischer Belastbarkeit hinaus.
Existenzsichernde Arbeit und häusliche Pflegetätigkeit sind ohnehin schwer miteinander zu vereinbaren, aber gerade jetzt müssen manche ihren Job kündigen, um sich kümmern zu können, weil sie als nicht systemrelevant gelten und keinen Anspruch auf Notfallbetreuung haben.

Was vielen nicht bewusst ist: Für viele Eltern bedeutet es nicht nur aufpassen, beim Lernen unterstützen und beschäftigen oder gar für die nächsten Wochen mal eine „ruhigere Kugel schieben“ und einfach häuslich sein, sondern pflegen, Nachtdienste ohne Aussicht auf Ablöse am nächsten Tag, füttern, windeln auch bei Teenagern, Weglauftendenzen unterbinden, Meltdowns händeln und ggf. sogar noch Homeoffice – allerdings ohne eine Notbetreuung in Anspruch nehmen zu können, weil der Job als pflegender Angehöriger ja nicht systemrelevant sei.

Wieder einmal sieht man in dieser Krise, dass die große Menge an pflegenden Angehörigen, die ihrer Verantwortung liebevoll und still nachkommen, keine Lobby haben. Auch die Gruppe Behinderter, die nicht in der Lage ist, sich selbst für die eigenen Belange einzusetzen, ist darauf angewiesen, dass dies andere tun. Und wer soll das sein, wenn nicht vor allem die pflegenden Angehörigen?
Aber die haben oft schlicht keine Zeit, sich auch noch darum zu kümmern, wenn Sozial- und Pflegedienste wegbrechen, die Betreuung in Kita, Schule und Behinderteneinrichtungen für Pflegeintensive, die nun rund um die Uhr zuhause sind, nicht mehr zur Verfügung stehen.
Wenn der pflegende Angehörige das Glück hat, dennoch einem Beruf nachgehen zu können, dieser aber nicht systemrelevant ist, dann muss er das eben zusätzlich stemmen.

Nachhaltige Lösungsansätze

Es ist eine absolute Ausnahmesituation und es ist auch klar und verständlich, dass nich sofort und alles richtig und vollständig bedacht wurde. Aber was kann man davon ableiten, um es in Zukunft besser zu machen?
Der Begriff der Systemrelevanz ist im Moment in aller Munde und auch ich habe ihn hier einige Male bedient. Ich weiß nicht, inwiefern er sich dauerhaft halten wird, aber wir können daraus ein paar Punkte ableiten, die wünschenswert für die Zukunft sind:

Berufe in der Pflege und in der Betreuung und Begleitung behinderter Menschen brauchen dringend mehr Wertschätzung und bessere Bezahlung.
Das ist keine neue Weisheit, sondern etwas, das schon lange immer wieder angemahnt wird. Wenn sie überhaupt etwas Gutes hat, dann zeigt die momentane Situation deutlich, wie richtig diese Forderung ist.
Sie ist richtig, weil die Berufe in Zukunft auch jenseits von Corona immer mehr Wichtigkeit haben werden. Das ergibt sich allein schon aus dem demografischen Wandel. Nur auf diese Weise kann man es schaffen, dass es auch in Zukunft noch Menschen gibt, die diese Berufe ausüben möchten.
(Selbstverständlich betrifft das auch weitere wichtige Berufsgruppen, die ich hier in diesem Zusammenhang nicht erwähne.)

Pflegende Angehörige sind ein wichtiger Pfeiler unserer Gesellschaft und benötigen daher ebenfalls mehr Unterstützung.
Es kann nicht sein, dass man erst laut „Hallo! Wir sind auch noch da!“ rufen muss, um überhaupt gesehen zu werden. Wir Eltern von behinderten und pflegebedürftigen Kindern sind meistens bescheiden in unseren Wünschen. Niemand fordert Unsinniges oder Unangemessenes. Wir agieren immer zum Wohle unserer Kinder und Betreuten.
Dass viele Bedürfnisse von Außenstehenden nicht gesehen werden, ist hier und da verständlich, weil sich viele einfach nicht in unserer Situation befinden. Aber wenn Bedürfnisse offengelegt und benannt werden, müssen sie ernst genommen werden.

Behinderung ist nicht gleich Behinderung
Menschen mit Behinderung sind so verschieden wir alle anderen Menschen auch. Es gibt keine pauschalen Zuschreibungen und auch in dieser aktuellen Ausnahmesituation keine pauschalen Lösungsstrategien und Notfallpläne. Es ist wichtig, immer individuell hinzuschauen, was der Einzelne braucht und dies auch ernst zu nehmen, zu respektieren und alle wertzuschätzen, die mit und für diese Klientel arbeiten – ob professionell oder als pflegender Angehöriger.
Das gilt jetzt und darüber hinaus natürlich auch, wenn wir diese Krise hoffentlich alle gesund überstanden haben.

Unbedingt Menschen mit Behinderung in Entscheidungsprozesse miteinbeziehen
Ich schreibe hier als Mutter eines jungen Mannes, der sich nicht selbst in dieser Form äußern kann. Wie oben schon angeklungen, setzen wir Eltern uns selbstverständlich für unsere (erwachsen gewordenen) Kindern ein.
Aber natürlich gibt es viele Menschen, die mit besonderen Bedürfnissen und Einschränkungen leben und dafür selbst einstehen wollen und auch müssen. Diese müssen immer gehört werden!

Noch etwas Persönliches:

Ich weiß nicht, was auf uns noch zukommen wird, aber ich bin zuversichtlich, dass wir das schon irgendwie schaffen werden. Uns geht es relativ gut. Wir haben das Glück, mit tollen Menschen zu tun zu haben, die uns verantwortungsvoll und liebevoll unterstützen und denen wir sehr dankbar sind. Ohne diese Unterstützung wäre es mir auch nicht möglich, aktuell meine Arbeit weiterzuführen, denn auch ich habe einen Sohn mit Pflegegrad 5.

Aber viele Familien haben diese Ressourcen nicht und sie stehen vor schier unmöglichen Aufgaben, weil sie als Randgruppe nicht gesehen werden.
Meine Gedanken sind bei ihnen und ich hoffe, dass Ihr Euch durch diesen Beitrag wenigstens ein Stück weit gesehen fühlt, auch wenn meine Worte keine praktische Hilfe bedeuten.
Und natürlich sind meine Gedanken bei denjenigen, die ganz unabhängig von unser aller persönlichen Situation wegen Vorerkrankungen Angst vor einer Infektion haben oder gar Schicksalsschläge verkraften müssen. Wenn man daran denkt, ist es eine Selbstverständlichkeit, alles auf sich zu nehmen, um sie zu schützen.

Zu weiteren Linktipps, Beiträgen und Informationen, die aktuell weiterhelfen können.

Zum Weiterlesen:

KOMMENTARE

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  1. Sehr informativ und mitfühlend geschrieben. Mein Wunsch für die Zukunft: möglichst viele Menschen mit diesem und anderen Beiträgen von hier zu erreichen!!!
    Ich wünsche weiterhin eine gute und besser werdende Zeit.

    Victoria
    Fachkraft für Inklusion

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Es ist immer wieder überwältigend, was wir als Eltern autistischer Kinder bedenken, organisieren und verarbeiten müssen. Neben viel Wissen und Erfahrungen, die du hier im Blog findest, ist eine solidarische Gemeinschaft unglaublich hilfreich. Das Forum plus ist ein geschützter Bereich nur für Eltern autistischer Kinder. Hier findest du außer praktischen Tipps viel Verständnis und Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen wie Du.

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