Autismus und Therapie – wie Eltern zu kompetenten Entscheidern werden

veröffentlicht im Oktober 2022


Mit einem autistischen Kind wird man auch vor die Frage gestellt, welche Therapien angezeigt sind.
Die therapeutische Landschaft ist jedoch nahezu uferlos. Ständig werden neue Angebote geschaffen, von denen man erst einmal nicht weiß, was genau dahinter steckt.

Das macht es nicht gerade einfach, sich für oder gegen eine Therapie zu entscheiden. Dieser Beitrag zeigt, wie Eltern zu kompetenten Entscheidern werden können.

Die Durchführung einer Therapie mit demselben Namen kann von TherapeutIn zu TherapeutIn unterschiedlich sein und ist auch immer von dessen oder deren Haltung und Persönlichkeit abhängig.
Da sich die Angebotslage immer wieder verändert und eine Therapie mit dem Namen „xy“ bei verschiedenen Anbietern möglicherweise unterschiedlich abläuft, kann man selten Pauschalurteile abgeben. Eltern sollten die jeweilige Therapie, die vorgeschlagen wird, selbständig hinterfragen.

Aber wie soll ich entscheiden, ob die Therapie, die angeboten wird, gut ist und mein Kind wirklich fördert und ihm nicht schadet? Wie soll da noch jemand durchblicken?
Das sind Fragen, die mich oft erreichen und die Eltern sich stellen.
Ich denke, dass man hier mehrere Faktoren berücksichtigen muss, um uns Eltern zu befähigen, auf genau diese Fragen Antworten zu finden.
Dabei sollten Eltern sich nicht beirren und einreden lassen, dass sie als Laien nicht beurteilen könnten, was gut und schlecht für ihr Kind sei. Leider kommt dieses Absprechen von Kompetenzen häufiger vor, als man denkt und diesem Umstand sollten Eltern selbstbewusst und gut informiert begegnen können.

Für absolut notwendig erachte ich, die vorgeschlagene Therapie anhand der eigenen Werte zu reflektieren. Wird Zwang ausgeübt? Ist sie physisch und psychisch gewaltfrei? Würde ich selbst so behandelt werden wollen? Usw…. weitere mögliche Fragen, die du dir stellen kannst, findest du weiter unten in den verlinkten Kriterien.

Meiner Meinung nach braucht es für die Entscheidung für oder gegen eine Therapie folgende Bausteine:

Aufklärung über Autismus durch Fachleute

PsychiaterInnen und TherapeutInnen sollten umfassend über das Autismus-Spektrum aus medizinischer Sicht aufklären. Wichtig ist dabei, dass Eltern sofort darüber informiert werden, dass Autismus nach aktuellem Wissensstand angeboren und keine Krankheit ist, die man heilen kann.
Mit dieser Grundinformation ausgestattet ist es sehr viel unwahrscheinlicher, dass man auf Anbieter hereinfällt, die mit der Hoffnung von Eltern spielen und auf unseriöse Weise eine Heilung vom Autismus versprechen.

Eltern sollten auch unbedingt darauf hingewiesen werden, dass es Begleiterkrankungen gibt, die unter Umständen vom Autismus unterschieden, berücksichtigt und ggf. behandelt werden müssen. Ursache und Wirkung müssen hier zwingend auseinandergehalten werden, um nicht nur Symptome zu behandeln, sondern Probleme überhaupt zu verstehen und ihnen nachhaltig auf den Grund zu gehen.

Gleichzeitig sollte Eltern Mut gemacht werden, dass die Diagnose Autismus nicht den Untergang bedeutet, sondern dass man mit angepassten Rahmenbedingungen zuhause, Therapien und Förderung in Kindergarten und Schule viel Positives bewegen kann.
Um den Aufbau einer positiven Haltung zu unterstützen, wäre es äußerst wünschenswert, wenn Ärzte nach Diagnosestellung sofort Kontaktadressen weitergeben, über die andere Eltern und AutistInnen kontaktiert werden können. Die medizinische Aufklärung kann nur ein Baustein bei der Akzeptanz und beim Umgang mit einem autistischen Angehörigen sein. Kontakt zu anderen Familien und AutistInnen ist sehr wichtig für weitere Schritte mit dem eigenen Kind.

Aufklärung über Autismus durch AutistInnen

AutistInnen können eine Dolmetscher- und Vermittlerposition einnehmen. Es ist unverzichtbar, sich anzuhören, wie es sich anfühlt, anders zu kommunizieren und wahrzunehmen, Struktur zu brauchen, etwa einen Overload zu haben und aus erster Hand zu erfahren, was in bestimmten Situationen helfen könnte.
Sicherlich kann niemand zu 100% nachfühlen, wie es einem anderen geht und auch Autisten können das untereinander nicht. Aber es gibt eine große Schnittmenge an Wahrnehmungsbesonderheiten, Befindlichkeiten und Bedürfnissen, die gesehen und gehört werden müssen und die NichtautistInnen einfach nicht wissen können.

Aufklärung über Autismus durch andere Eltern

Auf der Grundlage der Kenntnisse, die Eltern von Fachleuten und anderen AutistInnen erhalten haben, sollten sie sich dann auch Erfahrungswerte und Aufklärung aus der Elternperspektive holen. Diese können authentisch darüber berichten, welche Hilfen es gibt, wie man diese bekommt, welche Hürden man dabei nehmen muss, wie Entwicklungen sich möglicherweise abzeichnen und gestalten, wenn man eine Kind mit einer ganz spezifischen Ausprägung von Autismus (welche auch immer) hat.

Dabei ist es absolut notwendig, auch die Bedürfnisse der Eltern zu sehen, die möglicherweise über Jahrzehnte hinweg nicht ausreichend Schlaf bekommen, mit herausforderndem (ich sage lieber „Hilfe suchendem“) Verhalten ihrer Kinder zu tun haben, sie bis ins Erwachsenenalter hinein wickeln, füttern, waschen und für deren Familien kaum noch gesellschaftliche Teilhabe möglich ist. Es ist wichtig, die Eltern nicht außer Acht zu lassen, sie leisten zum Teil Enormes, auch sie brauchen Hilfe und Unterstützung und das autistische Kind kann auf Dauer nur dann glücklich und wohlbehütet in der Familie leben, wenn die Eltern gesund bleiben.

Auf der Grundlage dieser Informationen können Eltern selbstbestimmt und kompetent therapeutische Angebote hinterfragen.

Dabei dürfen Eltern sich konkrete Inhalte, Konzepte und ethische Standards offenlegen lassen und diese auch kritisch beleuchten.
Fragt nach, was das Ziel der Therapie ist, welche Qualifikation vorliegt und welche Grundhaltung der oder die Therapeut/in Eurem Kind entgegenbringt. Diese Fragen sind nicht unhöflich, sondern notwendig und vollkommen in Ordnung, weil eine Therapie erheblichen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes nehmen wird. Das muss man als Eltern sogar nachfragen dürfen.

Manchmal ergeben sich dadurch auch erstaunliche Einsichten, z.B. wenn ein Therapeut, der intensive Verhaltenstherapie mit 20 Stunden pro Woche am Kind praktiziert, sagt: „Mein eigenes Kind würde ich nicht so behandeln, aber es ist ja auch nicht behindert. Wir lernen bereits in der Ausbildung, uns da abzugrenzen.“
Den Kern einer Haltung findet man häufig nur dann heraus, wenn man nachfragt und das ist auch dein gutes Recht als Elternteil.
Zu diesem konkreten Nachfragen habe ich bereits vor einiger Zeit einen Beitrag verfasst.

Der Leitfaden findet sich HIER.

Individuelle Entscheidungen respektieren

Über umfassende Aufklärung durch Fachleute, AutistInnen und Eltern, sowie konkrete Offenlegung von Konzepten und ethischen Standards, die hinterfragt werden dürfen und sollen, sind Eltern dann in der Regel ausreichend dafür ausgestattet, um selbstbestimmt und mündig darüber zu entscheiden, welche Therapie für ihr Kind möglicherweise angezeigt ist.

weiteres Wissen und Checklisten für dich…

findest du in der Schatzkiste von Ellas Blog.

Zum Weiterlesen:

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