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Autismus und Misophonie

veröffentlicht von Silke Bauerfeind im November 2016


„Aber Niklas ist ja selber laut. Warum sollen wir dann nicht mit dem Löffel klimpern?“, fragt mich der kleine Max und spricht damit aus, was sich schon manch einer gedacht hat.
Denn so ist es in der Tat – für Niklas sind manche Geräusche unerträglich, obwohl sie gar nicht so laut sind wie andere Geräusche, die er zum Teil sogar selber fabriziert. Das ist erstmal schwer zu verstehen.
Wenn man sich mit dem Thema „Misophonie“ beschäftigt, wird es klarer.

Kind hält sich die Ohren zu

Was ist Misophonie?

Das Wort Misophonie bedeutet aus dem Griechischen abgeleitet „Hass auf Geräusche“.
Viele Autistinnen und Autisten sind sehr geräuschempfindlich. Diese Empfindlichkeit geht manchmal weit über das hinaus, was wir gemeinhin unter Geräuschempfindlichkeit verstehen. Das Kratzen von Kreide an der Tafel oder das Quietschen von Reifen findet manch einer unangenehm. Misophonie ist noch einmal ganz anders und gravierender als das Empfinden störender Geräusche.

Dabei ist nicht entscheidend, wie laut ein Geräusch ist. Die Abneigung bis hin zu Schmerzempfinden bezieht sich auf bestimmte Geräusche, unabhängig von deren Lautstärke.
Für manche ist es unerträglich, normale Alltagsgeräusche wie Kauen, Schlucken oder Schlürfen zu hören. Andere stören sich extrem an Atemgeräuschen, aber auch Hundegebell, Glockengeläut, das Klicken von Kugelschreibern, das Klimpern von Besteck, bestimmte Zischgeräusche und vieles mehr können Auslöser für unsäglichen Kopfschmerz, Ekel und sogar Übelkeit, aber auch starker Aggression und immenser Wut sein. Das Geräusch kann partout nicht ertragen werden.

„Wenn jemand aus der Flasche trinkt und danach erschöpft ausatmet, könnte ich davon rennen“, erzählt mir eine Autistin. „Zähne putzen bei anderen ansehen zu müssen, ist eine absolute Qual für mich“, schreibt Paul (alle Namen geändert), ein 13jähriger Autist, „sowas von eklig!“ Und Isabel beschreibt: „Ich musste mich schon einmal übergeben, als jemand mit seinen Fingerknöcheln geknackt hat.“

Diese auslösenden Geräusche bezeichnet man als sogenannte „Trigger“. Der Reiz kann zunächst nur von einer Person ausgehen oder auch nur an einem bestimmten Ort wahrgenommen werden, weitet sich dann aber häufig auf weitere Personen, die ähnliche Geräusche machen, und andere Orte mit vergleichbarer Akustik aus.
In seltenen Fällen setzt auch ein visueller Reiz einen misophonischen Trigger. In diesem Fall reicht es womöglich schon aus, jemanden aus der Ferne beim Essen zuzusehen, um das Kaugeräusch als immens abstoßend zu empfinden.

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Wie entsteht Misophonie?

Es gibt unterschiedliche Theorien zur Entstehung von Misophonie.
Eine besagt, dass dem verhassten Geräusch möglicherweise eine individuelle Erfahrung zugrunde liegt und Betroffene daher mit jedem neuen Geräusch etwas Negatives verbinden.
Manche gehen von einer genetischen Disposition aus, da Misophonie in Familien auch schon gehäuft festgestellt wurde.
Vieles spricht auch für eine andere Wahrnehmungsverarbeitung, eine von der „Norm“ abweichende neurologische Verknüpfung, die sich bei manchen Geräuschen bemerkbar macht.

Wissenschaftler sind sich bisher nicht darüber einig, ob Misophonie eine eigenständige Störung oder ein Symptom einer anderen Störung ist. Bisher kann man hier nur Vermutungen anstellen.
Herausgefunden hat man aber zum Beispiel am „Medical Center in Amsterdam“, dass sich Misophoniker ihre Abneigung nicht einbilden. Das haben EEG-Ableitungen bei Testpersonen gezeigt.

Welche Strategien gibt es, um sich vor schmerzenden Geräuschen zu schützen?

Manche Misophoniker machen bewusst selbst andere Geräusche, um das Ekel, Wut oder Schmerz auslösende Geräusch zu überdecken. Damit sind wir beim Eingangsbeispiel: „Er ist doch selber laut.“
Dieses selber laut sein bei unseren Kinder kann also eine Strategie sein, andere Geräusche zu überdecken: zum einen hört man das misophonische Geräusch dann nicht mehr (so deutlich), zum anderen hat man selbst die Kontrolle über ein neues, selbst verursachtes Geräusch.

Eine weitere Methode, verhassten Geräuschen zu entgehen, ist, bestimmte Orte, von denen man weiß, dass betreffende Geräusche auftreten, meidet. Das kann bedeuten, dass man Plätze in der Öffentlichkeit nicht mehr aufsucht, aber auch, dass man gewisse Ecken oder Zimmer im eigenen Haus meidet. Vielleicht brummt dort ein Lautsprecher oder der Kühlschrank piept oder eine Elektroleitung knistert oder, oder, oder. Das sind in der Regel Geräusche, die Nicht-Misophoniker überhaupt nicht hören oder aber doch hören und sie als gewöhnliches, nicht-störendes Alltagsgeräusch ausfiltern und gar nicht mehr bewusst wahrnehmen.

Eine andere Strategie ist Davonlaufen. Wenn man nicht in der Lage war, die Situation zu vermeiden und sich mittendrin wiederfindet, hilft manchmal nur noch ein „auf und davon“. Ein Verhalten, das nach meiner Erfahrung viele autistische Kinder zeigen.

Es gibt auch therapeutische Ansätze, bei denen Misophoniker gezielt mit verhassten Geräuschen konfrontiert werden und ihnen dabei per kognitiver Verhaltenstherapie geholfen werden soll, die Geräusche auszuhalten und neu positiv zu besetzen.
Fraglich, ob dies bei einer anderen neurologischen Wahrnehmungsverarbeitung, die möglicherweise genetisch bedingt ist, zielführend ist. Wenn etwas schmerzt, dann schmerzt es und muss auch vom Umfeld in Form von Rücksichtnahme respektiert werden. Eine Anpassung und Normalisierung ist hier nicht möglich und kann meiner Meinung nach auch nicht erwartet werden.

Abgrenzung

Vielleicht lest ihr im Zusammenhang mit Besonderheiten beim Hören auch von „Hyperakusis“. Diese bezeichnet ein Problem mit Lautstärke, also eine Überempfindlichkeit gegenüber Schall. Betroffene empfinden Vieles einfach als zu laut, was eigentlich noch im Normbereich von angenehm empfundener Lautstärke liegt.
Manchmal liest man auch von „Phonophobie“. Diese Besonderheit bezeichnet eine Angststörung. Betroffene haben Angst vor bestimmten Geräuschen und erleiden deshalb Angstattacken. Allein die Erwartung eines solchen Geräusches kann bereits Panik auslösen.
Zu diesem Thema gibt es ein Kapitel in meinem Buch „Autistische Kinder brauchen aufgeklärte Eltern“

Autismus und Misophonie

Misophonie ist eine eigenständige Störung, die aus vielfältigen, noch wenig erforschten Gründen auftritt.
Ein Mensch, der geräuschempfindlich ist, ist nicht automatisch Misophoniker.
Ein Misophoniker ist nicht automatisch autistisch, denn Autismus bedeutet, wie wir alle wissen, sehr viel mehr als „nur“ allergisch auf bestimmte Geräusche zu reagieren.

Tatsache ist aber, dass viele Autistinnen und Autisten bestimmte Geräusche extrem schmerzen, wütend und aggressiv machen und Ausmaße einer misophonischen Störung annehmen. Autismus und Misophonie treten also durchaus auch zusammen auf. Das Bewusstmachen einer solchen Besonderheit in der Wahrnehmung, das Verständnis dafür und das Entwickeln von Strategien im Umgang damit, können möglicherweise und hoffentlich helfen.

Viele Autistinnen und Autisten erleben eine hohe Empfindlichkeit gegenüber bestimmten Geräuschen, was oft auf ihre besondere Wahrnehmungsverarbeitung zurückzuführen ist. Viele nehmen ihre Umgebung intensiver wahr als neurotypische Menschen. Diese erhöhte Wahrnehmung kann dazu führen, dass Geräusche, die von anderen Menschen kaum wahrgenommen oder als normal empfunden werden, für Autistinnen und Autisten äußerst unangenehm oder sogar schmerzhaft sind.
Dies kann sich in einer Misophonie manifestieren, wobei bestimmte Geräusche extreme emotionale Reaktionen auslösen und das tägliche Leben erheblich beeinträchtigen.

Auswirkungen von Misophonie bei Autistinnen und Autisten

Für autistische Menschen kann Misophonie besonders belastend sein, weil sie oft Schwierigkeiten haben, ihre Gefühle und Empfindungen zu kommunizieren. Dies kann dazu führen, dass sie als überempfindlich oder „schwierig“ wahrgenommen werden, obwohl sie tatsächlich unter realen, belastenden Reizen leiden.

Daraus folgern sich dann gravierende Probleme im Alltag:

Schule und Arbeitsplatz: Geräusche im Klassenzimmer oder am Arbeitsplatz können unerträglich sein und zu Konzentrationsproblemen, Stress und Vermeidungsverhalten führen. Dies kann die schulische oder berufliche Leistung beeinträchtigen.

Soziale Interaktionen: Soziale Aktivitäten können schwierig sein, wenn laute oder spezifische Geräusche vorkommen, wie beispielsweise bei Familientreffen oder in Restaurants. Dies kann zu sozialer Isolation führen.

Zuhause: Selbst zu Hause können Alltagsgeräusche wie das Summen von Elektrogeräten oder das Kauen von Familienmitgliedern extrem störend sein. Dies kann zu Spannungen und Missverständnissen innerhalb der Familie führen.

Konkrete Tipps

  • Selbstlaute als Strategie: Versuche herauszufinden, ob dein Kind in manchen Situationen besonders laut ist, weil es möglicherweise andere Geräusche überdecken möchte.
  • Trigger identifizieren: Versuche herauszufinden, ob dein Kind vor ganz bestimmten Geräuschen davon rennt oder wegen dieser Geräusche aggressiv und wütend wird.
  • Vermeidung: Wenn du Auslöser gefunden hast, versuche sie zu vermeiden, zu reduzieren oder zu eliminieren.
  • Hilfsmittel: Wenn es nicht möglich ist, bestimmte Alltagsgeräusche abzustellen, suche nach Hilfsmitteln (Ohrenschützer) oder gib deinem Kind in manchen Situationen ggf. einen Zeitrahmen vor, in dem das Geräusch nicht vermieden werden kann. Das gibt möglicherweise ein Gefühl von Kontrolle und Absehbarkeit.
  • Austausch: Wenn du keine Auslöser findest und dein Kind sich nicht differenziert ausdrücken kann, frage nach Möglichkeit einen anderen Autisten, ob er eine Idee hat und etwas wahrnimmt, was du nicht hörst.
  • Ortswechsel: Wechsele in akuten Situationen nach Möglichkeit den Ort, auch wenn du kein konkretes Geräusch ausmachen kannst. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass man dadurch dem Reiz entkommt.
  • Nachbesprechung: Sprich mit deinem Kind über eine solche Situation, wenn sie vorüber ist und wenn alles wieder entspannt ist. Vielleicht ist es im Nachhinein möglich, etwas herauszufinden.
  • Aufklärung: Kläre das Umfeld deines Kindes darüber auf, was Misophonie bedeutet, damit Verständnis und Rücksichtnahme möglich wird.

Ermutigung und mehr in der Schatzkiste

Misophonie kann das Leben auf viele Arten beeinflussen und stellt eine erhebliche Herausforderung dar, besonders für autistische Menschen. Das Verständnis und die richtige Handhabung dieser Besonderheit sind entscheidend, um die Lebensqualität zu verbessern. Deshalb ist es wichtig, diese Thematik ernst zu nehmen und sich damit auseinanderzusetzen, um Autistinnen und Autisten die Unterstützung und Rücksichtnahme zukommen zu lassen, die sie brauchen. Ein lapidares Abtun als Überempfindlichkeit wird dem Phänomen „Misophonie“ nicht gerecht.

Eltern und Bezugspersonen machen häufig die Erfahrung, dass andere Personen das Thema Misophonie nicht ernst nehmen. Dabei ist es entscheidend, nicht locker zu lassen und weiterhin zu erklären, wie real und belastend dieses Thema ist. Rücksichtnahme auf Misophonie kann für alle Beteiligten einen enormen Unterschied im Alltag machen. Oftmals sind es kleine Anpassungen, die bereits eine große Erleichterung bringen können und damit auch die Zusammenarbeit bzw. Fürsorgethemen erleichtern.

In der beliebten Schatzkiste von Ellas Blog findest du neben vielen anderen Materialien eine Zusammenfassung zum Ausdrucken und weitere Informationen über die Auswirkungen von Misophonie und weitere hilfreiche Strategien, um besser mit den Herausforderungen umzugehen.
–> zur Schatzkiste

wer hier schreibt

Silke Bauerfeind

Gründerin von Ellas Blog (2013), Buch- und Kurs-Autorin, Kulturwissenschaftlerin, psychologische Beraterin, Referentin. 

"Ich verbinde persönliche Erfahrung mit Wissen rund um Autismus, Teilhabe und Familienrealität. Mein Schwerpunkt liegt auf Autismus mit hohem Pflege- und Unterstützungsbedarf – Themen, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft zu kurz kommen"

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