Anita (Name geändert) wurde kürzlich als Autistin diagnostiziert. Anstoß für die Diagnostik gaben ihre Erfahrungen als I-Helferin in einer Kita und Schule. Dort begann sie ihre eigenen Schwächen, Stärken, Besonderheiten und Herausforderungen zu reflektieren, als sie auch autistische Kinder begleitete.
Wie sie ihren Weg und die Diagnose reflektiert, lies in ihrem Gastbeitrag.
Gastbeitrag von Anita:
Wenn man anders ist, ergeben sich manchmal Wege, die man sonst vielleicht nicht in Betracht gezogen hätte.
Seit wenigen Wochen hat die Andersartigkeit einen Namen, der mir hilft, ein paar Dinge besser zu verstehen. Meinem Job als Integrationshelferin ist es zu verdanken, dass ich mich im Autismus wiedererkennen konnte. Dass ich eine Diagnostik angestrebt habe, um dem drohenden Burnout zuvor zu kommen, Lösungen zu finden. Darin bin ich gut, manchmal zu gut, denn dann kommt keiner auf die Idee, dass ich Hilfe brauchen könnte, überfordert bin.
Was meinen Autismus ausmacht
Reizüberflutung kenne ich sehr gut. Wenn die Ohren sich auf jedes einzelne Geräusch zu fokussieren scheinen und eigentlich nicht darauf ausgelegt sind – zumindest nicht zeitgleich.
Das Bedürfnis, sie mit den Händen zu schützen. Auditive und visuelle Eindrücke, die so vielfältig sind, dass mir schwindelig wird und sich mein Zwerchfell so stark zusammen zu ziehen scheint, dass mir das Atmen schwerfällt.
Schlimmer noch sind zwei andere Schwächen, die mich durch mein Leben begleiten.
Eine davon ist die Veränderung. Schon als kleines Kind habe ich sie zu umgehen versucht, viele Tränen deswegen geweint.
Mittlerweile habe ich gelernt, beharrlich meinen Weg zu gehen, den Druck zu ignorieren, der sich bei Veränderungen zwangsläufig in mir aufbaut. Druck braucht ein Ventil, damit es einem nicht „um die Ohren fliegt“. Dazu brauche ich Routinen. Tagesabläufe werden so gut wie möglich aneinander angepasst. Auf diese Weise kompensiere ich auch mein fehlendes Zeitgefühl.
Meine andere große Schwäche liegt darin, dass ich stets etwas vermassele, wenn ich mit anderen Menschen dauerhaft kommuniziere. Weil ich unsicher bin, soziale Regeln lediglich oberflächlich verstehe und sie deshalb nicht an Situationen anpassen kann. Im besten Fall bin ich dann einfach „dumm“. Außer bei Kindern, weil das da meistens keine Rolle spielt.
Blickkontakt fällt mir schwer. Auf kurze Zeit kann ich mich permanent dazu zwingen, aber dann schaltet mein Hirn auf „Standby“, verarbeitet die aufgenommenen Informationen nur unzureichend. Ständig ertappe ich mich dann dabei, wie ich der Mimik meines Gegenübers versuche, eine Aussage zu entlocken.
Oder mein Kopf findet nicht die richtigen Worte.
Oftmals verwechsele ich Menschen, die irgendeine Gemeinsamkeit miteinander haben. Sie müssen sich optisch nicht einmal sehr ähnlich sehen.
Mein Kopf ist detailorientiert, besonders wenn ich im Overload bin. Einmal habe ich ungefähr eine Woche gebraucht, um die „komischen Weggabelungen“ auf einer gemalten Karte identifizieren zu können. Keine Abkürzungen oder Haltebuchten – sondern Umrisse von Tieren.
Erfahrungen als I-Helferin
Mein erstes I-Kind habe ich in die Kita begleitet.
Ich liebe meinen Job, aber es ist nicht einfach für mich, ihn gut zu erledigen. Für MICH. Um „funktionieren“ zu können, brauche ich Strategien.
In der Kindergartenbegleitung habe ich detailliert in meinem Notizbuch festgehalten, was genau mein I-Kind getan und gesagt hat.
Gewissenhaft, perfektionistisch, detailgetreues Beobachten sagte man mir als Stärke nach. Das Notieren ersparte mir viele soziale Situationen, für die ich weder Energie noch Nerven hatte. Dafür erkannte ich „Muster„, konnte darüber einen Zugang zu meinem I-Kind bekommen und mit viel Geduld auf seine Schwächen eingehen. Es fühlte sich scheinbar verstanden, denn wir fanden einen sehr guten „Zugang“ zueinander.
Wir übten mit viel Geduld schwierige Situationen, durch fantasievolle Gestaltung umgingen wir hohe Anforderungen. Strategien fanden sich für das Kind, die ihm weiter halfen.
Man meldete mir oft genug zurück, dass ich in jeder Situation ruhig bleiben würde, was mich ehrlich gesagt irritiert hat. In mir drinnen sieht es in solchen Situationen ganz anders aus. Ich habe gelernt, dies als Vorteil einzusetzen. Ruhe „färbt ab“, wie auch immer das ohne Farbe gehen soll.
Dann wechselte ich in die erste Klasse einer Förderschule, wo ich ein autistisches Kind unterstütze.
Im Unterricht komme ich nicht dazu, Notizen zu machen. Stattdessen bin ich in ständiger Kommunikation mit meinem I-Kind. Eine Kommunikation, die für mich wesentlich natürlicher ist, verständlicher, autistischer.
Dennoch bin ich auch das Bindeglied zwischen dem I-Kind und den Lehrkräften. Dann antworte ich manchmal, weil ich nicht weiß, dass nicht ich gemeint bin oder ich verstehe etwas anderes falsch.
Insgesamt gibt es mehrere I-Kinder in der Klasse und eine Kollegin, die mittlerweile durch eine andere ersetzt wurde. Zwei Monate lang waren wir ständig wechselnden Vertretungen „ausgesetzt“, bis meine neue Kollegin zu uns kam. Das Schlimmste an den zwei Monaten waren nicht die Tage, wo sich keine Vertretung fand, sondern meine Probleme mit Veränderungen, die sich kaum noch kompensieren ließen.
Auswirkungen auf meinen Alltag und Offenlegen der Diagnose
Einmal war ich mit meiner Tochter in dieser Zeit auf einem Kindergeburtstag eingeladen, wo ich schlussendlich in einen Shutdown kam. Wo mein Kopf nicht mehr in der Lage war, Informationen zu verarbeiten, Bewegungen zu koordinieren oder verbal zu kommunizieren. Nur die Verzweiflung war noch „funktionstüchtig“.
Wie lange ich unter meiner Überforderung „begraben war“, weiß ich nicht mehr. Nur, dass die Tage darauf schwierig waren, weil mir schlicht und ergreifend die Energie fehlte.
Kurz darauf erhielt ich nach mehreren Diagnostikterminen meine Diagnose: Asperger Autismus.
Eine Woche darauf fand ein Gespräch mit meiner Vorgesetzten statt.
Ich wusste nicht, ob es sinnvoll ist, offen zu meinem Autismus zu stehen, aber war das nicht besser, als immer nur zu schweigen? In der Vergangenheit habe ich mehrere Jobs verloren, weil ich zu „komisch“ war. Deshalb blieb für mich nur dieser Weg.
Und es war gut, dass ich diesen Schritt gewagt habe. Am Tag darauf sprach ich es bei meiner Kollegin und der Lehrerin an. „Jetzt ergibt es einen Sinn“, sagte die Lehrerin.
Warum ich die Arbeit mit Kindern und meinen Job liebe
Den Kindern Autismus zu erklären ist einfach, weil sie noch zu jung sind, um sich hinter Vorurteilen „zu verstecken“. Aber im Alter wächst sich diese wundervolle Eigenschaft leider viel zu oft raus. Dann wird Verhalten neurotypisch interpretiert und Sinnhaftigkeit von Verhaltensweisen beurteilt.
Aber ich bin froh, dass es auch diese Menschen gibt, die hinterfragen, die autistische Meinungen heranziehen, um sich daraufhin eine eigene zu bilden.
Ich liebe meinen Job, auch wenn er alles andere als einfach für mich ist. Wenn ich sehe, wie Kinder eigene Strategien entwickeln, Angst durch Mut ersetzen und von einer individuellen Begleitung profitieren, dann weiß ich, dass dieser Job der richtige für mich ist.
Liebe Anita, ganz herzlichen Dank für Deinen so wertvollen Gastbeitrag.
Einmal mehr zeigen Deine Erfahrungen und Schilderungen, wie viel wir alle voneinander lernen können.
Wunderbar, dass Du so eine wertvolle Arbeit machst, auch wenn sie oft anstrengend für Dich ist. Hoffentlich können noch viele Kinder, Jugendliche und Familien sowie Lehrkräfte von Deiner individuellen Begleitung profitieren und viel dabei lernen.
Alles Gute für Dich und Deine Familie, Silke alias Ella
Zum Weiterlesen:
Schulbegleitung über das Persönliche Budget
Erfahrungsbericht einer Schulbegleiterin
Toll, dass Anita mit Ihrer Vorgesetzten offen gesprochen hat! Das Erste, was ich dachte, als ich ihren Bericht las, war: „Wow! Das ist eine riesige Herausforderung, jahrelang ohne Diagnose ein Leben zu führen, in dem man in der Gesellschaft funktionieren muss, aber nicht immer kann.“ Der nächste Gedanke war: „Anita ist ein großes Geschenk für die I-Kinder und für Kollegen. Eine ECHTE Fachfrau.“
Das war ein klasse Beitrag, Danke dafür.