Ich gehe grundsätzlich davon aus, dass alle Eltern für ihr Kind immer nur das Beste wollen. Es gibt gute Therapien und weniger gute und es gibt solche, die aus ethischen Gründen abzulehnen sind. Ob eine bestimmte Therapie schließlich die richtige sein könnte, ist individuell verschieden. Dieser Beitrag liefert einige Anhaltspunkte, die möglicherweise hilfreich bei einer Entscheidung sein können.
Wir alle werden leider immer wieder von Menschen beeinflusst, die uns aus unterschiedlicher Motivation heraus eine „Heilung“ oder eine „quasi Heilung“ oder die „Möglichkeit nahezu vollständiger Normalisierung“ versprechen. Autismus ist aber nicht heilbar und unsere Kinder werden immer anders bleiben. Wir können ihnen dabei helfen, Lebensqualität zu verbessern, und manchmal geht dies auch damit einher, dass autistische Symptome abnehmen, aber wir dürfen sie nicht an eine Norm anpassen, für die sie sich verbiegen und ihre Persönlichkeit aufgeben müssen.
Daher ist es meiner Meinung nach unerlässlich, Therapieangebote selbständig zu prüfen und kritisch zu hinterfragen, sowie sich eigenverantwortlich von Inhalt, Durchführung und Qualität der Therapie und auch von der Persönlichkeit der Therapeutin beziehungsweise des Therapeuten zu überzeugen.
Immer wieder kommen neue Therapiekonzepte mit innovativen Namen auf den Markt, die es für Eltern und AutistInnen schwer machen, sich zu orientieren. Oftmals hängt die Qualität und Vertretbarkeit auch von der konkreten Umsetzung des jeweiligen Therapeuten ab.
Ich werde im Folgenden keine Therapiekonzepte mit Namen nennen und Pauschalbeurteilungen abgeben, sondern Anhaltspunkte als Hilfestellung aufführen, nach denen jeder selbst das aktuelle Therapieangebot hinterfragen kann. Die Entscheidung für oder gegen eine Therapie fällt dabei sicherlich von Mensch zu Mensch unterschiedlich aus – je nachdem wie einzelne Aspekte gewichtet werden oder wo besondere Bedürfnisse zu berücksichtigen sind. Eine wertschätzende und respektierende ethische Grundhaltung sollte dabei immer maßgeblich sein.
Grundsätzlich ist jede Form von Zwang abzulehnen.
Dabei kann in manchen Bereichen individuell verschieden sein, was als Zwang gesehen wird. Viele AutistInnen empfinden zum Beispiel das Einfordern von Körper- und Blickkontakt als Zwang. Daher ist es eine Frage von Respekt und Wertschätzung, das Kind in die Entscheidung für oder gegen etwas miteinzubeziehen und sie nicht etwa zu einer Umarmung oder ähnlichem zu zwingen.
Wenn ein Kind nicht sprechen kann, ist es umso wichtiger, auf körperliche Signale zu achten, die Unwohlsein oder Abwehr ausdrücken. Entscheidend für eine gesunde Entwicklung ist, dem Kind überhaupt das Gefühl zu vermitteln, dass es in Ordnung ist, Ablehnung und Kritik zu äußern.
Als Zwang wird von einigen AutistInnen auch empfunden, wenn wohltuende Stereotypien unterbunden werden. Manche Rituale sind für AutistInnen eine wichtige Stütze, geben Sicherheit und ermöglichen überhaupt erst ein gewisses Maß an Teilhabe.
Selbstverständlich sind auch alle Formen physischen Zwangs abzulehnen. Eine Mutter schreibt mir: „Mein Sohn wurde bei einer Therapie mit den Füßen an einen Stuhl gebunden, weil er sonst nicht sitzen bleibt. Wenn ich mit diesen Methoden nicht einverstanden sei, müsse ich mir ein anderes Therapiezentrum suchen, wurde mir gesagt. Ich war erschüttert.“
Ein Vater schreibt mir: „Ich sollte vor Therapiebeginn unterschreiben, dass ich keine rechtlichen Schritte einleiten würde, wenn mein Kind nach Therapiesitzungen mit blauen Flecken nach Hause kommen sollte. Ich zerriss diesen Zettel, schnappte meine Tochter und suchte das Weite.“
Lass dir nicht einreden, dass man bei AutistInnen mit Liebe, Verständnis und Respekt nicht weiterkommt und daher „andere Maßnahmen“ ergriffen werden müssen. Unsere Kinder sind sehr sensibel, was das Erleben von Zwang betrifft, auch wenn sie es nicht in einer Art und Weise zeigen, die wir (sofort) verstehen. Überzeuge dich davon, dass der Therapeut deinem Kind eine wertschätzende Haltung entgegenbringt.
Es soll keine Anpassung an das sogenannte Normale erfolgen.
Entscheidend ist, dass Autistinnen und Autisten in ihrem Anderssein akzeptiert und respektiert werden und eine Therapie nicht das Ziel verfolgt, einen nicht-autistischen Menschen zu formen. Autisten können eine gesunde autistische Entwicklung durchlaufen, ohne dass dafür der Autismus als solcher beseitigt werden muss. Das wäre auch gar nicht möglich. Man kann lediglich in gewissem Rahmen und teils mit zweifelhaften Methoden nicht-autistisches Verhalten antrainieren. Der Autismus ist deshalb aber nicht beseitigt, sondern nur verdrängt. Nicht selten stellen sich Jahre später Folgeerkrankungen, Identitätskrisen und Depressionen ein.
Dazu eine Autistin, die mit einer Therapie angepasst werden sollte: „Was zurück bleibt, ist das Gefühl von Ohnmacht, weil man am Ende nur noch fremdbestimmt agiert und denkt, ein schrecklicher Mensch zu sein, weil man ja offenbar alles falsch macht.“ Ein junger Mann schrieb mir vor einiger Zeit: „Ich wusste irgendwann nicht mehr, wer ich eigentlich jemals war und bin und sein sollte. Warum darf ich nicht einfach Ich sein?“
AutistInnen haben individuelle Stärken und Schwächen, so wie jeder andere Mensch auch. Eine Therapie sollte daher auch diese persönlichen Begabungen im Blick haben und fördern und sich nicht nur an Defiziten orientieren und – ich wiederhole mich – niemals einen Menschen einer Norm anpassen wollen, die eine nichtautistische Mehrheit irgendwann einmal definiert hat.
Die Therapie verspricht keine Heilung.
Immer wieder wird Eltern vorgegaukelt, dass ihre Kinder mit gewissen Therapien, Diäten oder gar Chlorbleiche geheilt werden könnten. In besonders aggressiven Fällen wird Eltern Angst gemacht und vermittelt, sie seien schuld daran, wenn ihr Kind später einmal „im Heim landen würde“ (man beachte die abwertende Ausdrucksweise), weil sie angeblich heilende Therapien vorenthalten hätten.
In manchen Fällen mögen zum Beispiel Ernährungsumstellungen durchaus positive Entwicklungen ermöglichen und Symptome lindern, die den Autismus begleiten. Das betrifft aber ganz unabhängig davon, ob jemand autistisch ist oder nicht, alle Menschen. Wenn es zum Wohlbefinden beiträgt, ist es natürlich gut und vergrößert Lebensqualität. Ebenso muss bedacht werden, dass manche Entwicklungsschritte möglicherweise ohnehin stattgefunden hätten. Kausalzusammenhänge zu (zweifelhaften) Therapien lassen sich nicht eindeutig ziehen. Lass dir nicht vormachen, dass dein Kind geheilt werden könnte und lass dir kein Geld für Methoden, die auf unseriöse Weise mit der Sorge und Hoffnung von Eltern spielen, aus der Tasche ziehen. Und lass dir nicht erzählen, dass das Anpassen von Verhalten mit einer Heilung des Autismus einhergeht. Jedwede Therapieform, die mit diesen Versprechungen arbeitet, ist meiner Meinung nach von Grund auf anzuzweifeln.
Es gibt gute Erfahrungswerte von Menschen, denen du vertraust.
Auf der Suche nach Erfahrungen zu Therapiemethoden findet man vielfältige Berichte. Vor allem im Internet wird es beim Recherchieren nahezu uferlos (rw). Nach einem ersten groben Überblick ist es daher empfehlenswert, Menschen zu fragen, deren Einschätzung du vertraust und die möglicherweise bereits Erfahrungen in dem jeweiligen Bereich gesammelt haben. Scheue dich nicht zu fragen: bei anderen Eltern, in Selbsthilfegruppen, bei AutistInnen, bei Ärzten, in Internetforen, bei Kompetenzzentren – je nachdem, wo die Menschen sind, auf deren Meinung du Wert legst. Auf der Grundlage selbst angeeigneter Informationen lernt man schnell einzuschätzen, wie fundiert, reflektiert und glaubwürdig individuelle Erfahrungswerte und Empfehlungen anderer sind.
Der Therapeut und die Therapie sind flexibel.
Frage gleich zu Beginn nach, inwieweit die Therapie an die Bedürfnisse, Fort- und Rückschritte deines Kindes angepasst wird und ob Ziele und Methoden jederzeit besprochen werden können. Wichtig ist auch die Möglichkeit für Eltern, an Therapiestunden teilzunehmen, sofern Eltern und Kind das möchten. Gut wäre auch, wenn der Therapeut in einem Team arbeitet, so dass unterschiedliches Know-how kombiniert werden kann. Zumindest sollte der Therapeut anderen Therapien gegenüber aufgeschlossen sein und sich gegebenenfalls auch fortbilden oder an Kollegen verweisen. Scheue dich daher nicht, nach der Qualifikation zu fragen. Das ist nicht unhöflich, denn immerhin wird sie oder er erheblichen Einfluss auf die Entwicklung deines Kindes nehmen.
Ein wichtiger Aspekt, der im Gespräch mit AutistInnen deutlich wird, ist die Möglichkeit für das autistische Kind, sich jederzeit zurückziehen zu dürfen und dies auch zu können. Frage nach, ob dafür Räumlichkeiten zur Verfügung stehen und ob es akzeptiert wird, wenn dein Kind Pausen braucht und diese einfordert.
Vielleicht ist deinem Kind auch die Lichtquelle im Therapieraum unangenehm, möglicherweise stehen störende Duftkerzen herum oder durch geöffnete Fenster dringt ohrenschmerzender Verkehrslärm herein. Besprich mit dem Therapeuten, ob es gegebenenfalls möglich ist, diese Einflüsse zu minimieren oder ganz abzustellen.
Die Rahmenbedingungen sind für die ganze Familie akzeptabel.
Es ist kein unerheblicher Faktor, die Bedingungen rund um Therapiebesuche so zu gestalten, dass sie möglichst wenig Stresspotential bergen. Damit ist natürlich, wie schon in den bisherigen Punkten angesprochen, vor allem das Wohlbefinden des autistischen Kindes gemeint. Aber auch der begleitende Elternteil oder Betreuer und Geschwisterkinder müssen mit der Organisation einer Therapie zurechtkommen. Es hilft niemandem, wenn eine Therapie zu einer zu großen finanziellen, zeitlichen oder auch mentalen Belastung wird und das Familiensystem nachhaltig darunter leidet. Daher überlege, ob die Intensität der Therapie angemessen ist, ob die Anfahrt ein Problem darstellt, ob es zeitlich auf eine Weise zu organisieren ist, dass Geschwisterkinder auf Dauer nicht zu viel Rücksicht nehmen müssen oder ob möglicherweise Hausbesuche oder auch Therapieblöcke mit regelmäßigen Pausen besser wären.
Dein Kind und du fühlen sich wohl und respektiert.
Es ist ganz normal, dass man mit manchen Menschen besser und mit anderen weniger gut auskommt. Das hat nicht unbedingt mit einer allgemeinen Ablehnung desjenigen oder dessen Qualifikation zu tun, sondern ist zum Teil einfach eine Sympathiefrage. Manchmal fühlt man sich schnell wohl mit jemandem und baut Vertrauen auf, manchmal funktioniert es eben nicht. Und das darf auch geäußert werden. Daher halte nicht an etwas fest, mit dem du oder dein Kind sich nicht wohlfühlen.
Es ist auch wichtig, sich akzeptiert und respektiert zu fühlen. Frage dich, ob du dich ernst genommen fühlst, ob du in Therapiefragen miteinbezogen wirst und ob der Therapeut in Krisensituationen unterstützen wird. Frage nach, welche Erfahrungswerte er in dieser Hinsicht hat und mit welcher Unterstützung ihr rechnen könnt, wenn schwere Zeiten anstehen.
Weniger ist manchmal mehr.
Dies ist ein ganz allgemeiner Gedanke, den ich noch abschließend anbringen möchte. Besonders am Anfang, wenn die Kinder noch klein sind, versucht man alles, was möglich ist, um zu helfen, zu fördern, zu therapieren und möglichst große Erfolge damit zu erzielen. Auch bei uns war es anfangs so, dass eine Therapie zur nächsten kam, sie sich einander ablösten oder auch ergänzten.
Es ist nicht einfach, hier die richtige und gesunde Balance zu finden. Eine Mutter formuliert es so: „Die Grenze zwischen fördern und überfordern, therapieren und übertherapieren ist nicht immer klar für mich. Ich möchte sie soweit fördern, dass sie so selbständig wie möglich wird. Aber sie soll auch genug Freiraum haben.“
Ich denke, das sollten wir Eltern immer im Blick behalten und manchmal können auch Therapiepausen sehr viel Gutes bewirken, Erlerntes kann sich setzen (rw) und bekommt Zeit, sich überhaupt erst einmal im Alltag zu bewähren. Deshalb: habe auch Mut zur Lücke, Mut zum Nein, Mut zur Pause. Dabei ist es nicht verkehrt, auf sein Bauchgefühl zu hören.
Vielleicht kann die Zusammenstellung dieser Gedanken und Fragen dabei helfen, sich bei der Entscheidung für oder gegen eine Therapie sicherer zu werden. Ich möchte noch einmal betonen, dass die Bewertung und Gewichtung dieser Überlegungen individuell verschieden ist und jeder selbst entscheiden muss, was im Rahmen der Vertretbarkeit bezüglich ethischer Grundüberlegungen, was v.a. auch Respekt und Akzeptanz angeht, für das eigene Kind und für die gesamte Familie am Sinnvollsten ist.
(Bei Angabe der männlichen Form ist selbstverständlich auch immer die weibliche eingeschlossen.)
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch „Ein Kind mit Autismus zu begleiten, ist auch eine Reise zu sich selbst“ (Silke Bauerfeind, 2016).
Außerdem möchte ich die Therapiekriterien empfehlen, die die Selbstvertretung „Autland Nürnberg“ und der Verein „Autismus Mittelfranken e.V.“ gemeinsam erarbeiteten.
Zum Weiterlesen:
Autismus und Therapie – wie Eltern zu kompetenten Entscheidern werden
YouTube Video von MaiLab: MMS ist Gift. Wirklich.
Hinweis:
Kommentare über bestimmte Therapieformen (pro und contra) werden nicht freigeschaltet. Dies ist keine Werbeplattform für Anbieter und der Beitrag soll auch keinen Anfangspunkt darstellen für die leider häufig eskalierenden Diskussionen.
Dieser Beitrag ist bewusst so gehalten, dass er auf jedwedes Therapieangebot anwendbar ist. Er soll die Eigenverantwortlichkeit stärken, Therapieangebote selbständig zu hinterfragen.
Die Zusammenarbeit mit Anbietern, die mit bestimmten Methoden eine angebliche Heilung vom Autismus versprechen oder eine Normalisierung bzw. Anpassung anstreben, ist für diesen Blog ausgeschlossen. Bitte sehen Sie von weiteren Anfragen ab.
Danke, liebe Anika. Aus Deinem Beitrag spricht viel Erfahrung.
Es ist vollkommen richtig, dass man manchmal gar nicht vorab wissen kann, was gut und schlecht oder hilfreich sein kann. Daher ist der aufgeführte Punkt auch so wichtig, dass es möglich ist, jederzeit über Förderziele und Durchführung zu sprechen, diese abzuwandeln und sich von der Flexibilität und Aufgeschlossenheit des Therapeuten zu überzeugen. Ggf. sollte man die Therapie auch wieder abbrechen.
Ich bin auch vollkommen Deiner Meinung, dass man jeglichem Druck nicht nachgeben sollte. Man braucht manchmal Zeit für Entscheidungen und die sollte man sich auch nehmen dürfen, gerade weil es um unsere Kinder geht.
Deinen Gedanken, Eltern von Autisten aufklären zu lassen, finde ich sehr gut. Viele unsere Kinder sprechen nicht oder haben einen so hohen Unterstützungsbedarf, dass wir Eltern darauf angewiesen sind, dass jemand dolmetscht. Wer könnte das besser als Autisten, die ihre Wahrnehmung und Kommunikation erklären?
Danke für Deinen engagierten Beitrag, LG :)