Über die Jubiläumsumfrage erreichten mich unzählige persönliche Fragen. Jede dritte lautete: „Woher nimmst du die Kraft für alles?“ Es wurde mehr als offensichtlich, dass das ein Thema ist, das euch sehr am Herzen liegt.
Lasst mich gleich klarstellen: Auch wenn ich etliche Erfahrungen gesammelt und Einblick in das Leben vieler anderer Familien habe, bin ich weit davon entfernt, alle Antworten zu haben. Der Alltag mit einem autistischen Kind ist eine Reise voller Höhen und Tiefen, das wisst ihr selbst nur zu gut, und auch ich stehe vor Herausforderungen, bei denen mir nicht alles gelingt oder leicht von der Hand geht.
Warum wird diese Frage überhaupt gestellt?
Warum ist die Frage „Woher nimmst du die Kraft für alles?“ für Eltern autistischer Kinder so bedeutsam? Wie schon oben erwähnt, wurde sie mir sehr, sehr oft gestellt und spiegelt wider, dass Familien häufig am Rande ihrer Belastungsgrenzen agieren. Der Hintergrund dieser Frage geht weit über den simplen Alltagsstress hinaus.
Die Aufgaben, denen wir uns gegenübersehen, unterscheiden sich zu einem Großteil grundlegend von denen anderer Eltern, häufig wird das erst mit der Zeit offensichtlich und deshalb gestehen wir uns auch mit der Zeit selbst erst zu, die Belastung auszusprechen.
Unsere Aufgaben erfordern oft einen Rund-um-die-Uhr-Einsatz. Von der Bewältigung von Verhaltensherausforderungen bis hin zur Koordination von Therapien und schulischen Unterstützungsmaßnahmen (das sind nur Beispiele) – jede Aufgabe stellt ihre eigenen einzigartigen Anforderungen.
Während wir diese Herausforderungen bewältigen und versuchen, den bestmöglichen Weg für unsere Kinder zu finden, müssen wir häufig auch mit einem System umgehen, das viele im Stich lässt und zusätzliche Hürden aufbaut.
Diese Erfahrung machen viele Familien. Und diese Realität macht die Suche nach Kraft und Motivation zu einem ständigen Begleiter, um sich weiterhin einsetzen, behaupten und durchhalten zu können.
Also langer Einführung, kurzer Sinn: ich kann diese Frage absolut nachvollziehen.
Was also machen, um durchzuhalten?
Kraftquellen
Allgemein spielen Selbstfürsorgepraktiken wie Meditation, Yoga oder regelmäßige Bewegung für viele Eltern, die ich kennenlernen durfte, eine entscheidende Rolle.
Ebenso wichtig ist die soziale Unterstützung durch Familie, Freunde und Partner, die Trost, Ermutigung, Verständnis und manchmal auch tatkräftige Hilfe bieten können.
Hobbys können wertvoller Ausgleich zum Alltagsstress sein. Und Erlebnisse bzw. Zeit in der Natur zu verbringen, ist für viele eine wichtige Ressource. Es beruhigt oft und spendet Energie.
Selbstreflexion, Achtsamkeitsübungen und das Klären persönlicher Werte und Bedürfnisse tragen ebenfalls zur Stärkung der inneren Ressourcen bei. Sich diese immer wieder bewusst zu machen, kann sehr hilfreich sein und Orientierung geben.
Auch ist es manchmal ein Booster, sich durch Menschen inspirieren zu lassen oder sich sozial zu engagieren. Humor – auch wenn er bei vielen von uns mit der Zeit speziell wird – und Lachen sind weitere wichtige Faktoren, um Stress abzubauen und die Stimmung zu heben.
Außerdem helfen das Erinnern an persönliche Stärken, Erfolge und gemeisterte Herausforderungen dabei, Selbstvertrauen und Optimismus zu stärken.
Aber Ihr habt danach gefragt, woher ich Kraft nehme.
Ich persönlich ziehe meine Kraft vor allem aus der Familie. Wir können uns aufeinander verlassen und ziehen an einem Strang. Wenn einer nicht mehr kann, springt der andere ein oder legt noch einen Gang zu. Mir ist bewusst, dass das leider nicht allen vergönnt ist, daher schätze ich es umso mehr.
Wichtig für mich ist auch das Ehrenamt und meine Arbeit mit Ellas Blog, aus der ich viel Kraft ziehe. Anderen helfen zu können, hilft nicht zuletzt auch mir selbst.
Wer hier schon länger mitliest, weiß, dass ich vor allem Norwegen liebe. Die Kraft der Weite und Natur und die Möglichkeit, dort zur Ruhe zu kommen und manches aus einer neuen Perspektive zu überdenken, ist für mich ein Kraftpol. Ich brauche keine Fernreisen oder Abenteuerurlaube, muss auch nicht die ganze Welt sehen und habe nicht das Gefühl, in dieser Hinsicht etwas zu verpassen. Ich fiebere kleinen Auszeiten entgegen.
Genauso liebe ich unsere Kurztripps in einem kleinen Camper. Die Reisen führen uns nicht mehr so weit wie früher mit den Kindern, weil wir nicht viele Tage am Stück weg sein können, aber mal zwei Tage wegfahren ist schon mehr als viele andere in unserer Situation haben können, das ist mir bewusst und umso mehr genieße ich es.
Kleine Unterbrechungen des Alltags, kleine Freiheiten zuhause alleine oder als Paar oder mit Freunden, helfen dabei, Dinge neu zu denken, kreativ zu werden und eben auch Kraft zu schöpfen.
Und ich ziehe meine Kraft aus den guten Tagen, aus einem wertschätzenden Netzwerk und nicht zuletzt von Niklas, wenn er lacht und glücklich ist.
Ich wurde auch gefragt, ob ich manchmal am Ende meiner Kräfte bin oder keinen Ausweg mehr sehe.
Ja natürlich, da geht es mir nicht anders als euch allen. In diesen Momenten, die ganz dunkel sind, hilft es mir am besten, an die guten Zeiten zu denken, daran, was wir schon geschafft haben und daraus Kraft zu ziehen. Ruhe, Mediation, Musik und das Bewusstsein, dass (zumindest bei mir) sich vieles im Kopf deutlich schwärzer als die Realität zeichnet, helfen mir.
Abgrenzung und Freiraum ohne schlechtes Gewissen
In diesem Kontext kamen auch noch die Fragen: „Wie schaffst du dir Freiräume?“, „Wie schaffst du es, dich abzugrenzen?“, „Wie kommst du zur Ruhe, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben?“
Zunächst mal: Der Alltag mit einem autistischen Kind ist dynamisch und herausfordernd, das wisst ihr alle, und es gibt Phasen, in denen es schwierig ist, Zeit für mich selbst zu finden. Doch ich glaube fest daran, dass es wichtig ist, sich diese Freiräume zu schaffen und sich abzugrenzen, um letztendlich die Ruhe zu finden, die wir alle brauchen.
Mir gelingt das auch nicht immer. Es ist abhängig von vielen Faktoren: Unsere persönliche Einstellung gegenüber Selbstfürsorge spielt eine wichtige Rolle, ebenso wie gesellschaftliche Erwartungen und familiäre Verpflichtungen. Zeit- und Ressourcenmangel können es erschweren, Zeit für uns selbst zu finden, während Schuldgefühle und ein niedriges Selbstwertgefühl uns davon abhalten, uns selbst Priorität einzuräumen. Es ist nicht leicht, gegen das alles anzukommen.
Aber unsere Grundhaltung darf und muss sein, dass wir uns erlauben Zeit für uns zu nehmen, um dauerhaft für unsere Kinder da sein zu können. Dafür musst du dich vor niemandem rechtfertigen.
Um sich abzugrenzen, ist es wichtig, klare Grenzen zu setzen und diese auch zu kommunizieren. Das bedeutet, auch einmal „Nein“ zu sagen, wenn es zu viel wird, und sich nicht für alles verantwortlich zu fühlen.
Es ist okay, um Hilfe zu bitten und Aufgaben zu delegieren, wenn nötig. Vielleicht machen andere die Dinge anders als wir, aber anders muss nicht schlechter bedeuten, sondern kann eine Bereicherung sein. Nur wenn wir auf uns selbst achten, können wir auch langfristig für unsere Kinder da sein.
Insgesamt ist es meiner Erfahrung nach ein Prozess, sich Freiräume zu schaffen, sich abzugrenzen und Ruhe zu finden, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Es erfordert Selbstreflexion, Mut, ein wachsendes Netzwerk und die Bereitschaft, sich selbst wichtig zu nehmen. Um das zu leben, kann man nicht einfach einen Schalter umlegen, aber man kann es lernen und ich bin überzeugt davon, dass es sich lohnt und dass es auch notwendig ist. Sei geduldig und nicht so streng mit dir, um auf diesem Weg Schritt für Schritt weiterzugehen.
Zu einem Zeitpunkt, an dem es mir überhaupt nicht gut ging, wurde mir klar, dass ich mir die Zeiten für mich zur Regeneration nicht nehmen darf, sondern dass ich es muss, um auf Dauer gesund zu bleiben. Das war für mich persönlich eine wichtige Erkenntnis.
Einen Beitrag, den ich im Sommer 2023 dazu veröffentlichte, möchte ich euch ans Herz legen, denn dort ist vieles zu diesem Thema beschrieben:
Wie du Erschöpfung erkennst und Burnout vermeidest, wenn du ein autistisches Kind hast.
Positiv bleiben und seelisches Gleichgewicht halten
Eine Leserin fragte: „Wie schaffst du es, immer positiv zu bleiben?“ Eine andere schrieb: „Wieso klappt bei euch immer alles?“
Tsja, das kann ich so nicht beantworten, weil bei uns bei Weitem auch nicht immer alles klappt und ich auch nicht immer positiv bin. Wer ist das schon? Auch ich habe miese Tage, fühle mich von allem und jedem im Stich gelassen und erlebe Tiefpunkte.
Ich habe mir ein paar Gedanken aufgeschrieben, die ich mir in diesen Momenten zur Hand nehme. Meine Notizen sagen mir, dass es ok ist, schlechte Tage zu haben und dass niemand von mir erwartet, dass ich immer positiv gestimmt bin.
Meine Notizen motivieren mich dazu, an Dinge zu denken, die mir Freude bereiten und erinnern mich daran, dass es wohltuend sein könnte, Freunde anzurufen oder zu treffen. Und es stehen da Dinge wie Musik hören, Natur, Bewegung, Meditation – denn das hilft mir, im seelischen Gleichgewicht zu bleiben, ich vergesse es nur, wenn ich einen Tiefpunkt habe.
Bei dir stehen vielleicht völlig andere Dinge auf dem Zettel, wichtig könnte es sein, überhaupt solche Notizen als Hilfe für schwierige Tage zu haben. Denn die naheliegendsten Maßnahmen fallen uns dann häufig nicht ein.
Darüber hinaus versuche ich, mir bewusst zu machen, dass schwierige Zeiten vorübergehen und dass es auch wieder bessere Tage geben wird. Es hilft mir, mich daran zu erinnern, was wir in der Vergangenheit schon alles geschafft haben. Das Wissen, dass ich nicht alleine bin und dass ich auf die Unterstützung anderer zählen kann, gibt mir Hoffnung und hilft mir, positiv zu bleiben.
Entwicklungsmöglichkeiten für Eltern
Es ist ein Leben voller Höhen und Tiefen, die uns Eltern autistischer Kinder in vielerlei Hinsicht verändert.
Und so erreichten mich Fragen wie: „Wie verändere ich mich als Elternteil?“, „Wie gehe ich mit Verzweiflung und Zukunftsängsten um?“ und „Wie schaffe ich es gelassener und geduldiger zu sein?“
Puh, das sind große Fragen und nicht umsonst lautet die erste meiner Buchveröffentlichungen „Ein Kind mit Autismus zu begleiten, ist auch eine Reise zu sich selbst“ (darin enthalten übrigens die Auswertung dieser Frage unter vielen Eltern). Auch wenn die Veröffentlichung schon einige Jahre zurückliegt, hat sich das immer wieder bewahrheitet. Ohne Niklas wäre ich heute sicherlich in vielerlei Hinsicht ein Mensch mit anderer Haltung und anderen Prioritäten.
Veränderungen machen uns häufig Angst, weil wir nicht wissen, was sie nach sich ziehen, darüber habe ich im Beitrag „Der Wunsch nach Veränderung und die Angst davor“ ausführlicher geschrieben. Und auch deshalb ist die Frage danach, wie man sich wohl selbst verändern wird, absolut verständlich.
Viele von uns erleben mit der Zeit eine neue Sichtweise auf die Welt und sich selbst. Die einzigartigen Eigenschaften und Bedürfnisse unserer Kinder anzuerkennen und gleichzeitig mit den Herausforderungen umzugehen, führt oft zu einer neuen Perspektive auf das Leben, in der die kleinen Dinge geschätzt und Prioritäten neu gesetzt werden und in dem wir auch an uns selbst neue Facetten entdecken.
Natürlich ist es in Ordnung, dass wir manchmal verzweifelt und frustriert sind. Diese Gefühle gehören dazu und der Umgang mit ihnen erfordert Geduld und Selbstmitgefühl (nicht Mitleid!).
Negative Gefühle zu haben, bedeutet übrigens nicht, sein Kind nicht zu akzeptieren, das wird manchmal von außen versucht, uns einzureden. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, denn der Umgang mit den täglichen Herausforderungen und dem oft unvorhersehbaren Verhalten kann überwältigend sein, ohne dass wir die Liebe zu unseren Kindern in Frage stellen (lassen) müssen. Die Begleitung unserer Kinder erfordert oft eine hohe emotionale und physische Belastbarkeit, und es ist wichtig, sich selbst Raum und Zeit zu geben, um mit diesen Gefühlen umzugehen.
Erlaube dir deshalb auch, negative Gefühle anzunehmen, anstatt sie zu unterdrücken oder zu verurteilen. Die Suche nach Unterstützung und den Austausch mit anderen Eltern hilft dabei, insgesamt eine positive Haltung zu entwickeln und lösungsorientiert aus Tief wieder herauszukommen.
Je mehr du über Autismus lernst, desto besser kannst du die Verhaltensweisen deines Kindes verstehen und angemessen darauf reagieren. Verständnis führt häufig dazu, dass sich auch deine Geduld vergrößert und du gelassener bleiben kannst. Das ist übrigens meistens die allerbeste „Medizin“ in herausfordernden Situationen: ruhig und gelassen bleiben und dann natürlich Auslöser identifizieren und zumindest minimieren.
Viele Verhaltensweisen deines Kindes wirst du mit der Zeit als Kommunikations- oder Bewältigungsstrategien identifizieren können und mit diesem Wissen noch viel besser und in Ruhe Lösungen finden. Falls du das vertiefen möchtest, schau mal hier.
Viele Eltern lernen mit der Zeit, realistischere Erwartungen zu setzen und diese nicht mehr vom Außen vorgeben zu lassen. Wir lernen, genau zu beobachten und zu analysieren und dann Pläne oder Abläufe anzupassen, um Eskalationspotential zu verringern.
Zum Thema „Erwartungen anpassen“ gehört auch die Erwartung an manche Mitmenschen, die uns immer wieder enttäuschen: irgendwann erwartet man nicht mehr so viel von ihnen, was zwar Distanz schafft, aber die Enttäuschung erspart.
Mit der Zeit können wir auch wieder rechts und links schauen und merken, dass wir nicht alleine sind. Der Austausch mit anderen Eltern, die bestenfalls ein Kind mit ähnlicher autistischer Ausprägung haben, hilft enorm dabei, sich nicht mehr so alleine und verstanden zu fühlen. Der Kontakt zu Gleichgesinnten ist eine wertvolle Ressource und ermöglicht, sich gegenseitig zu unterstützen, Erfahrungen auszutauschen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
Online ist dies hier auf Ellas Blog im Forum plus möglich.
Das waren einige Gedanken zu einigen Fragen, die ihr mir gestellt habt. Im Grunde ist der gesamte Blog eine Spur dieser Entwicklung, viele Beiträge spiegeln wieder, was es für uns Eltern bedeutet, wenn du das vertiefen möchtest, schau doch nochmal in der Kategorie Eltern, welche Beiträge dich ansprechen.
„Wenn das Miteinander schwierig wird,
aber das Ohneeinander unvorstellbar ist,
wenn Vernunft gegen Sinn kämpft
und Sinn gegen Freiheit aufbegehrt,
dann ist es womöglich
die Liebe zu einem autistischen Kind.“
(©Silke Bauerfeind)
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