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Warum die Suche nach Motiven häufig nichts anderes als Ableismus ist – die „Heimtücke“ von Worten

veröffentlicht von Silke Bauerfeind im Mai 2021


Es sind diese vermeintlich harmlosen Äußerungen, die einen dicken, schweren Kloß im Hals hinterlassen, die mir immer wieder vergegenwärtigen, wie beängstigend vor allem auch für meinen autistischen Sohn viele Mitmenschen sind, weil sie ihn abwerten.
Natürlich würden sie das niemals zugeben und ich glaube sogar, dass sich einige dessen gar nicht bewusst sind, aber müssen wir das deshalb hinnehmen?
Nein!

„Da kann dein Sohn aber froh sein, so tolle Eltern zu haben. Ich könnte das ja nicht.“
Was soll so ein Satz? Klar, er hat die Intention, das Engagement der Eltern zu betonen. Aber kann man das deshalb so stehen lassen, weil die Intention eine positive ist, aber die Menschen überhaupt nicht merken, welche Abwertung und Herablassung sich dahinter verbirgt?

„Naja, das ist schon echt sehr aufopferungsvoll, was ihr leistet. Da müssen eure Kinder auch aushalten, dass …“
Ja, was?

Zur Fortsetzung dieses Satzes erzählen Eltern ganz unterschiedliche Versionen. Es sei verständlich, dass ihnen mal die Hand ausrutscht (rw), es sei verständlich, dass sie ihre Kinder auch mal ignorieren, es sei verständlich, dass sie ihr Kind ins Heim geben (dafür seien doch diese Einrichtungen da), es sei verständlich, wenn sie Therapiemethoden einsetzen, die die Kinder konditionieren, es sei so vieles verständlich, weil es ja so aufopferungsvoll sei, „diese“ Kinder großzuziehen.
Mir wird wirklich schlecht, wenn ich sowas höre, wenn es mir erzählt wird, wenn ich die Verzweiflung der Eltern spüre, die mir davon berichten. Und auch sie fühlen sich schlecht, weil sie Respekt und Unterstützung möchten und ihre Kinder lieben, aber häufig angeraten bekommen, dass man ein solches Kind ja ganz anders behandeln müsse.

Natürlich sprechen nicht alle Menschen so und auch eine Heimlösung kann z.B eine gute Lösung sein usw, ich möchte hier nicht missverstanden werden und nicht alles über einen Kamm scheren (rw). Aber darum geht es häufig überhaupt nicht, es geht darum, dass Lösungen und Wege vorgeschlagen werden, um „die Bürde kleiner zu machen“, aber nicht deshalb, um das autistische Kind mit seinen Bedürfnissen zu sehen, zu unterstützen und damit auch automatisch der gesamten Familie zu helfen. Und das muss unbedingt hinterfragt werden, täglich, immer.

Ach, das habe ich doch nicht so gemeint. Jetzt bist du aber wirklich empfindlich.“
Und dann wird zum Angriff ausgeholt: „Ich hätte nicht gedacht, dass du mir sowas unterstellst. Jetzt bin ich wirklich verletzt.“ Und schon hat man uns in die Rolle gedrängt, in der wir diejenigen sind, die sich verteidigen müssen, weil wir etwas Böses gesagt haben.
Und mal ehrlich: viele von uns sind sehr anfällig dafür, denn wir sind sensibel, dünnhäutig und aufmerksam für all die Schwingungen um uns herum geworden und wir wollen meistens nur das Recht für unsere Kinder durchsetzen und Respekt. Aber schwupps sind wir diejenigen, die andere angeblich diskreditieren. Und dann fühlen wir uns umso schlechter.

Das Allerwichtigste sind aber nicht wir Eltern, sondern unsere kleinen, jugendlichen oder erwachsen gewordenen Kinder. Um sie geht es, um ihren Lebenswert, der herabgesetzt wird, subtil, offen, gemischt, alles begegnet einem und wenn man nicht selbst mit einer Behinderung lebt, kann man sich wohl nicht ansatzweise vorstellen, wie es sich anfühlt, dem ausgesetzt zu sein, was es mit einem macht und wie es sich letztendlich auch in Verhalten widerspiegelt, das von außen häufig nicht verstanden wird.

Das ist paradox und pervers und ich wähle diese Worte heute nicht von ungefähr, denn der aktuelle Umgang mit den schrecklichen Morden in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen wurzelt genau auf diesem Gedankengut. An den allermeisten Stellen stehen nicht die Getöteten im Fokus der Betroffenheit, sondern die Überforderung und Aufopferung derer, die sie pflegen. Und das ist unerträglich!

„Es ist ja nicht so schlimm, war bestimmt auch eine Erlösung für die armen Behinderten“, las ich gestern und mir wurde kotzübel, schwindelig, mein Kopfkino sprang an, in die Vergangenheit, in eine Zeit, in der wir glücklicherweise nicht leben müssen – und in die Zukunft mit der Frage, wer mein Kind beschützen wird.

Warum darf man so etwas ungestraft sagen?
Warum bekommen Menschen sogar noch Verständnis für derartige Aussagen?
Warum muss man sich verteidigen und rechtfertigen, wenn man das ganz anders sieht?

Ich frage mich, wie sich wohl die anderen BewohnerInnen fühlen mögen, wenn sie vermittelt bekommen, dass es „ja nicht so schlimm“ sei, dass ihre Mitbewohner getötet wurden. Ich frage mich, was es mit meinem Sohn, was es mit vielen anderen macht, die beginnen, sich darüber Gedanken zu machen…..

Man könnte viel mehr darüber schreiben, noch viel mehr Aspekte einbringen. Meine Worte erheben nicht den Anspruch darauf, das Thema erschöpfend auszuführen. Meine Zeilen sind nicht vollständig, aber Schweigen ist einfach nicht möglich….

Nein, wir sind nicht überempfindlich, wenn wir Respekt für unsere Kinder und generell für Menschen mit Behinderungen einfordern und das fängt bei der Wortwahl an und hört bei Worten auf.
Denn Worte haben die Eigenheit, sowohl offenlegen, als auch heimtückisch verschleiern zu können und die Saat für Entsetzliches zu legen.

wer hier schreibt

Silke Bauerfeind

Gründerin von Ellas Blog (2013), Buch- und Kurs-Autorin, Kulturwissenschaftlerin, psychologische Beraterin, Referentin. 

"Ich verbinde persönliche Erfahrung mit Wissen rund um Autismus, Teilhabe und Familienrealität. Mein Schwerpunkt liegt auf Autismus mit hohem Pflege- und Unterstützungsbedarf – Themen, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft zu kurz kommen"

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