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Über unbedachte Äußerungen von Stippvisite-Besuchern

veröffentlicht von Silke Bauerfeind im März 2017


Manchmal unterhält man sich mit anderen Eltern über die Kinder und wird plötzlich mit Aussagen konfrontiert, auf die man spontan gar nicht entsprechend zu reagieren weiß.
Das liegt auch daran, dass man bei manchen Äußerungen so perplex ist, dass man erstmal in Ruhe sortieren muss, welche Gefühle es in einem auslöst und wie man am besten darauf reagieren kann.

Das Thema ist immer wieder präsent und viele von Euch schreiben mir, was sie manchmal verarbeiten müssen, das in zumeist gut gemeinter Absicht geäußert wurde.
Zurecht wird gesagt, dass es doch gut sei, wenn die Menchen offen auf einen zugehen und Fragen stellen. Sicher ist das gut, das sehe ich auch so. Und es ist auch gut, wenn man dann offen antwortet und aufklärt.
Aber bei manchen Fragen werden Grenzen überschritten, die bei aller Offenheit und bei allem guten Willen zur Aufklärung schmerzen und übergriffig sind.

Manchmal scheint es mir so, als ob einige Menschen, die unser Leben nur streifen, eine kurze Stippvisite bei uns machen – vielleicht für ein paar Stunden oder auch nur einen Moment – dieses als kleines Abenteuer verbuchen. Es gibt aber auch solche, die regelmäßig in größeren Abständen auftauchen und dann immer wieder dieselben Fragen stellen.
In ihren Augen spiegelt sich dann manchmal Staunen oder Überraschung oder ähnliches wider und sie scheinen zu denken: „Das habe ich ja noch nie gesehen“ oder „Es hat sich seit dem letzten Mal ja gar nichts verändert“. Sie verweilen etwas, schauen sich um, geben manchmal ungebetene Ratschläge und verlassen den Schauplatz dann wieder.

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„Kannst Du ihm nicht einfach erklären, dass er das nicht darf?“
Lieber Stippvisite-Gast, meinst du nicht, dass ich das schon 100, nein 1000 Mal erklärt habe? Denkst du, dass wir es seit 17 Jahren einfach so hinnehmen, dass er zum Beispiel die Teller vom Tisch fegt und gegen Fensterscheiben tritt, ohne uns den Mund fusselig erklärt (rw) und alles Mögliche versucht zu haben? Meinst du nicht, dass wir seit vielen Jahren nach Erklärungen für sein Verhalten suchen und uns gemeinsam auf einen Weg des Verstehens gemacht haben?
Nein, ich kann es nicht „einfach erklären“.

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„Das macht er jetzt aber nicht, weil er böse ist, oder?“
Was soll das „oder“?
Nein, natürlich ist er nicht böse. Er ist kein böser Mensch, sondern ein Mensch, der manchmal nicht so kann, wie er gerne möchte und der manchmal so handelt, wie er es nicht geplant hat, sondern so, wie seine Impulse auftreten.
Nein, er macht das nicht, weil er böse ist, sondern weil das Rundherum gerade nicht passt.
Vielleicht hat er auch deinen kritischen Blick bemerkt und gespürt, dass du ihn nicht respektierst.

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„War da eigentlich was während der Schwangerschaft oder ist es genetisch?“
Puh! Eine wirkliche Hardcore-Frage für Eltern. Denn, lieber Stippvisite-Besucher, du kannst dir sicher sein, dass sich Eltern behinderter Kinder darüber bereits nächtelang den Kopf zerbrochen haben.
Vielleicht gibt es eine Antwort auf diese Frage, vielleicht aber auch (noch) nicht. In jedem Fall ist es eine hochemotionale Frage, weil sie immer auch Schulgefühle transportiert, ganz egal ob diese berechtigt sind oder nicht, und weil diese Frage eine komplette Familienplanung betreffen kann – Kinder, die bereits geboren wurde, die geplant oder die jetzt vielleicht nicht mehr geplant sind.
Lieber Kurzbesucher, ich möchte dir darauf heute nicht antworten. Vielleicht wenn du dich mit uns auf den Weg machst und wir uns besser kennen.

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„Es hat schon einen Sinn, warum er ausgerechnet in Eure Familie gekommen ist. Ihr macht das so toll. Ich könnte das nicht.“
Diese Aussage macht mich und auch viele andere schlicht wütend.
Nein, welchen Sinn soll das denn haben? Und von wem kommt dieser Sinn? Und was ist mit all den anderen Kindern, die ein Handicap haben und in ihren Familien nicht so gut aufgehoben sind? Hat das dann auch einen Sinn? Wann hat es einen Sinn und wann nicht?

Solche Aussagen sollen einen vermeintlichen Trost transportieren, der vielleicht gar nicht benötigt wird und nicht gewünscht ist. Und es wirkt wie ein Versuch, sich von einer möglichen Verantwortung freizusprechen, die Helfen und Handeln bedeuten würde – und sei es erst in der Zukunft, wenn sich in der eigenen Familie etwas „nicht planmäßig“ entwickeln sollte.

Es klingt, als sei das Thema weit weg – „Ich könnte das nicht“ – aber darum geht es nicht. Es geht darum zu reflektieren, was man wirklich tun würde, wenn man auch in die Situation käme, ein behindertes Kind zu pflegen und zu erziehen.
Und es geht darum, was man tun kann, um sein Gegenüber hier und jetzt zu unterstützen und sich nicht in Floskeln zu flüchten.

Auf mich wirken solche Äußerungen hilflos und sie wischen die Realität zur Seite. Es ist da meiner Meinung nach nichts und niemand, der diesen besonderen Lebensweg steuert oder bewusst so gewollt hat – die Familien sind in diese Situation hineingeworfen worden und leben damit. Sie leben jeden Tag die Realität, in der sie kämpfen, sich kümmern, lieben, trauern und sich freuen – da wirken diese Sinnaussagen wie bagatellisierende Floskeln und es wird vollkommen verkannt, dass Eltern auch an den Rand ihrer Kräfte kommen können.
Was hat das denn dann für einen Sinn, wenn sie irgendwann nicht mehr für ihre Kinder sorgen können?

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„Wir tun uns ja alle schwer mit dem Auszug unserer Kinder. Das war bei mir auch so.“
Nein, lieber Stippvisite-Besucher, das war bei dir nicht „auch so“.
Ich kann natürlich nicht wissen, wie genau es bei dir war, aber es war nicht „auch so“, weil dein Kind selbst einkaufen, kochen, essen und auf Toilette gehen kann und jetzt in einer frei gewählten Stadt studiert. Es ist nicht als junger Erwachsener darauf angewiesen, dass sich ständig jemand kümmert. Dein Kind muss nicht zunächst fremden Menschen Vertrauensvorschuss geben, weil es sonst hilflos wäre.
Und du als Elternteil musst auch nicht ein unselbständiges und pflegebedürftiges Kind in die Obhut anderer geben.
Nein, es war nicht „auch so“ bei dir.

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Diese Fragen und Äußerungen scheinen zum Teil völlig harmlos.
Bei genauerem Nachdenken und ein wenig Einfühlen in die Situation der Eltern wird aber vielleicht doch klar, dass es oftmals unsensibel ist, alles zu äußern, was einem gerade in den Sinn kommt – gerade mal schnell so eben, weil es in die Stippvisite passt und danach ja keine Gelegenheit mehr sein wird, wenn der Kurzbesuch beendet ist.

Vielleicht ist es in manchen Situationen ratsam, erst einmal aufmerksam zu beobachten oder etwas mehr Zeit mit der Familie zu verbringen und zu fragen, ob man helfen kann, bevor man unreflektiert mitten ins Fettnäpfchen (rw) tritt.
Erstens beantwortet das manche Frage schon von selbst und zweitens trägt es zu einer respektvollen Grundlage bei, auf der man dann vielleicht weitere Fragen stellen darf und soll.

Eltern behinderter Kinder hinterfragen sich häufig selbst, schelten sich auch manchmal wegen ihrer eigenen Überempfindlichkeit und sind oft sehr streng mit sich. Sie müssen immer funktionieren, weit über das Maß hinaus, das in einer Erziehung und bei der Pflege nicht-behinderter Kinder notwendig ist.
Ich meine, dass sie nicht für jede unbedachte Äußerung Verständnis haben müssen und auch erwarten können, dass mit ihnen und ihren Gefühlen achtsam umgegangen wird .
Man sollte ihnen Zeit und echtes Interesse entgegenbringen, wenn man aufrichtige Antworten auf sehr persönliche Fragen erwartet.

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wer hier schreibt

Silke Bauerfeind

Gründerin von Ellas Blog (2013), Buch- und Kurs-Autorin, Kulturwissenschaftlerin, psychologische Beraterin, Referentin. 

"Ich verbinde persönliche Erfahrung mit Wissen rund um Autismus, Teilhabe und Familienrealität. Mein Schwerpunkt liegt auf Autismus mit hohem Pflege- und Unterstützungsbedarf – Themen, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft zu kurz kommen"

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