Schon lange arbeitet der Gedanke an diesen Brief in mir und ich bin mir sicher, mit dieser Problematik nicht alleine dazustehen. Ich würde mich freuen, diese Gedanken über Ellas Blog anonym teilen zu können, da ich (wir Eltern) uns über die Jahre oft hilflos, alleine gelassen und unverstanden fühlen.

Unser Kind (ein zehneinhalbjähriger Junge) ist ein „irgendwie anders“, auffällig/unauffällig, zwischen extrem angepasst und extrem entladend, kontrolliert verschlossen und dann doch wieder seinem Anderssein verzweifelt ausgeliefert. So richtig aufgehoben, willkommen, passend, fühlt er, fühlen wir uns nirgends.
Die Reaktionen des Umfelds, egal, in welchem wir uns bewegen, tun oft weh, erschweren, belasten, verunsichern unnötig.
Worum geht es ? ich fange am Besten ganz vorne an.
Ich (erfahrene Mutter mit jahrzehntelanger Erfahrung in einem pädagogischen Beruf) und der Vater (ebenfalls erfahrener Vater, es gibt insgesamt drei Geschwister) waren völlig überrascht nach der Geburt des Jüngsten, der von der ersten Sekunde an seltsam war und unverständliche Probleme mit Allem hatte.
Über die letzten fast elf Jahre kamen da zusammen:
massive Schlafstörungen, eine Essstörung, absolute Unfallhäufung wegen fehlender Impulskontrolle, massive Aggressionen in der ersten Kita, gar keine mehr nach einem Wechsel in eine Integrationskita (der hat doch nichts, was wollen sie hier?), eine starke Wahrnehmungsproblematik (Diagnose sensorische Integrationsstörung mit zwei Jahren ), mehrere Jahre Ergo, ein Familienhelfer auf eigenen Wunsch, Paragraph 35 a, den irgendwann wieder weg (warum ? Der hat doch nichts…), inzwischen ist der wieder gegeben, als Selbstzahler erfolglos eine INPP Therapie, Sehstörungen, die aber augenarzttechnisch keine sind – alles in Ordnung, die Werte sind gut, er sieht nur einfach nicht richtig…eine ADHS Diagnose mit (endlich ! erst seit einem Jahr) wunderbar funktionierender Medikation, eine Angst- und Zwangsstörung (seit einem Jahr Verhaltenstherapie), und bei mir als Mutter das Gefühl, trotz aller Bemühung nie wirklich einen Draht zu ihm zu finden, so, wie er es bräuchte.
Körperkontakt lehnt er schon immer ab, aus dem Hort musste ich ihn herausnehmen, da ein Zuviel an Reizen regelmäßige tägliche Zusammenbrüche zur Folge hatte.
Im Rahmen einer Diagnostik wegen Lernschwierigkeiten wurde eine Hochbegabung festgestellt, und im letzten Jahr nach der insgesamt dritten Autismus Diagnostik von einer tollen Kinderpsychiaterin, die uns als Familie hört und anguckt, endlich die Autismusdiagnose, auch wenn sein ADOS Test unauffällig war.
Die Frage nach Autismus stand seit der Säuglingszeit ständig im Raum, aber die Diagnostik reichte nie aus, da er hervorragend kompensiert. Soll heißen, er schafft die Schulstunden absolut unauffällig, der Rest des Tages bewegt sich dann aber absolut im Spektrum, so extrem, dass ich oft an der Grenze meiner Belastbarkeit angekommen bin.
Zum Glück habe ich nach einer Trennung mittlerweile einen wunderbaren Partner an der Seite, der das ähnlich erlebt, wie ich.
Aber – und jetzt kommt es zum Haupthema dieses Briefes – am meisten belastet mich dieses Nirgendwo so richtig rein zugehören und Hilfe zu bekommen, da unser Kind nirgendwo so richtig reinpasst.
Selbst in den diversen Eltern- Selbsthilfegruppen fühle mich mich so, als wären wir zu Unrecht da, weil er auch dort nirgendwo ins Raster passt.
In der Schule sind wir die Helikopter-Eltern, die dem Kind Psychopharmaka geben, weil sie angeblich keine Lust haben, das Kind mal in einen Sportverein zu schicken (das wir vier verschiedene zum Teil über Jahre ausprobiert haben und das Kind sich vor Panik vor dem Training erbrochen und nicht mehr geschlafen hat, wird nicht gehört – nein, ich überrede ihn nicht mehr !).
ADHS wird negiert, da er wohlerzogen ist, und sich an Regeln hält – warum geben sie dem Kind Medikamente, der ist doch so ruhig und konzentriert (ja, aber nur deshalb, ohne kann er nichtmal essen, ohne sich zu verschlucken, geschweige denn einen Satz von Anfang bis Ende sprechen, Noten ohne Medikamente 4/5, mit ist er bei 1,9).
Aus der Hochbegabtenförderung, die wir auf Anraten des SPZ machen sollten, fallen wir raus, da er kein Überflieger ist, nicht ständig auf der Suche nach Wissen ist und den Kontakt zu den anderen Kindern dort nicht möchte (wie? der liest nicht gerne? Dann kann er eigentlich nicht hochbegabt sein…- doch er liest, aber seit fast einem Jahr jeden Abend das gleiche Buch zur Beruhigung, so what ?), und in den Foren unter autistischen Müttern entbrennt geradzu eine Hierarchieeinteilung nach Betroffenheit, die ich mir aber auch unbewusst selbst anziehe.
Habe ich ein Recht, überfordert zu sein, traurig , hilflos, mit einem Kind, das völlig normal in eine Regelschule geht und nach außen hin total unauffällig sein kann ?
Und ja, natürlich ist das nicht vergleichbar mit einem frühkindlichen nonverbalen Autisten, der ein Leben ausserhalb der Norm lebt und vielleicht nie selbstbestimmt selbstständig leben wird. Dann gibt es negative, bissige Sprüche über die Mütter, die das Kind verzweifelt auch nach dem dritten „Autismus ausgeschlossen“ zur Autismusdiagnostik schleppen, weil sie die Diagnose (warum auch immer) unbedingt „wollen“ (nein – ich will das nicht unbedingt, ich bin nur einfach fertig nach Jahren mit einem Kind, dem ich irgendwie nicht helfen kann, wirklich glücklich zu sein, und ich möchte gerne Hilfe)…
Bei uns ist es nirgendwo „schlimm genug“, um dazu zu gehören.
Für die Neurotypischen hat er nichts und es herrscht Unverständnis über unsere Suche nach Hilfe und trotzdem bewegt sich unser Leben zwischen endlos vielen Therapieterminen und einem Kind, das täglich den gleichen Pullover anzieht, nur fünf Lebensmittel akzeptiert und komplett ausrastet, wenn sich etwas verändert oder es am Tag zuviel Input hat. Ein Kind, mit dem es ständig Kommunikationsprobleme gibt, weil wir verschiedene Sprachen sprechen.
Dazwischen höre ich ständig (auch von Ärzten und Therapeuten und eben auch von anderen Müttern): Sind sie sicher, dass die Diagnose stimmt? So richtig typisch ist er ja nicht…
Mir ist mittlerweile egal , wie das heißt, was mein Kind „hat“ oder „ist“, und ja – er kann dieses „nicht Greifbare“ sehr gut verbergen, aber eben nur bis zu einem bestimmten Punkt.
Sein/ unser Leben wird von diesem „Anderssein“ stark beeinflusst, und ich wünsche mir Verständnis gerade auch unter den Müttern, deren Kinder ebenfalls ausserhalb der Norm schwimmen.
Unser Kind hat irgendwie von Allem nur ein bisschen, und ja, es gibt viele, deren Leben endlos viel schwieriger ist als unseres , aber das heißt eben nicht, dass es einfach ist.
Im Gegenteil, gerade dieses ständige Abwägen, intervenieren wir zu viel, zu wenig, machen wir etwas falsch, wenn wir ihn zu „normal “ behandeln und den Autismus nicht ausreichend sehen, oder (dieser Vorwurf kommt auch häufig), „dichten“ wir dem Kind zuviel an, wenn wir darauf Rücksicht nehmen, und zwingen ihm eine Besonderheit auf, die er nicht bräuchte, weil er sich doch so toll zusammenreißen kann…
Ich hoffe, ich klinge nicht zu negativ. Ich liebe mein Kind sehr, und er soll alles bekommen, was er braucht, aber dass uns durch dieses „Grenzgängertum“ oft wirklich überall der Wind entgegenschlägt, erschwert den Alltag enorm.
Absurderweise hatte ich tatsächlich tolle Kontakte und hilfreichen Austausch zu anderen „Grenzgängermüttern“, der aber sofort abbrach, als er dann die Diagnose Autismus offiziell bekam. Da waren wir dann auch wieder raus aus dem „Club“ :-)
Hier in den Blogbeiträgen sehe ich uns oft zu hundert Prozent wieder und fühle mich zuhause. Vielen Dank für deine Arbeit und deine immer tollen und anregenden Beiträge, Silke
alles Gute, Linda (Name geändert)