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Gastbeitrag von Dario, Autist: Wenn Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen

veröffentlicht von Silke Bauerfeind im Februar 2021


Dario ist Autist und schildert in seinem Gastbeitrag das Verschwimmen von Vergangenheit und Gegenwart. Das wirkt sich auf seine Wahrnehmung von aktuellen Ereignissen aus und natürlich auch auf die Kommunikation mit anderen über das Empfinden von Erleben und Erlebtem.
Ich kenne das auch von Niklas, dass er bestimmte Dinge immer und immer wieder gebärdet, Erlebnisse mit der Gegenwart verknüpft und das Einfluss auf sein Empfinden hat. Es ist spannend zu lesen, wie Dario das erklärt.

Quelle: pixabay, User geralt – vielen Dank!

Gastbeitrag von Dario:

In meiner Kindheit waren es staatliche Behörden (z.B. das Jugendamt), die dafür sorgten, dass ich immer wieder von einem Heim und einer Jugendhilfeeinrichtung in die nächste weitergereicht wurde. Dieser Fremdbestimmung fühlte ich mich absolut hilflos und ohnmächtig ausgeliefert. Jetzt in der Corona-Zeit sind es ausgerechnet wieder staatliche Stellen, die unser aller Freiheiten so tief einschränken und uns z.B. vorschreiben, wie viele Menschen wir sehen dürfen. Diese Parallele ist für mich extrem schwer zu ertragen und lässt die traumatischen Erinnerungen an früher fast eins zu eins wieder lebendig werden.

Vom Verstand her sehe ich ein, dass viele Corona-Regeln absolut notwendig sind. Doch innerlich sehe ich ständig die Parallelen zu meiner Jugendzeit – und dann fühlt es sich so an, als würde ich alles noch einmal erleben, als würden Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschwimmen und eins werden. Manche Menschen haben Verständnis, dass die Corona-Zeit für mich mit belastenden Erinnerungen verbunden ist. Einige reagieren eher genervt und sagen: „Aber deine Kinderheimzeit ist so lange her und hat doch wirklich nichts mit der aktuellen Situation zu tun.“ Vom Verstand her weiß ich, wie das gemeint ist, aber es hilft mir in solchen Momenten nicht weiter.

Als ich mit meiner Therapeutin über diese Probleme sprach, hatte sie zwei Erklärungsmuster. Zum einen wäre es bei traumatisierten Menschen nichts Ungewöhnliches, dass belastende Erinnerungen auch nach Jahren nicht an Intensität verlieren. Sie sieht die Erklärung aber auch in meinem Autismus begründet. Viele autistische Menschen hätten ein ungewöhnlich leistungsfähiges, bildhaftes und detailreiches Gedächtnis, das die Vergangenheit selbst nach langer Zeit noch viel präsenter erscheinen lässt als bei nicht-autistischen Menschen.

Dadurch würde ich wahrscheinlich auch die schlimme Zeit im Kinderheim intensiver nacherleben als die meisten neurotypischen Menschen, bei denen die Erinnerungen schon verblasst wären. Die Erklärungen meiner Therapeutin leuchteten mir absolut ein. Jeden Tag ploppen unzählige Sequenzen aus der Vergangenheit vor meinem „inneren Augen“ auf, ohne dass ich das in dem Moment abstellen kann. Dadurch muss ich unweigerlich die Parallelen zur Gegenwart ziehen, weil beide Zeiten sich dann nahezu gleichberechtigt gegenüberstehen. Das ist mitunter belastend und schmerzlich, wenn die Vergangenheit einfach nicht für die Gegenwart Platz machen will.

Meine ersten Erinnerungen

Meine ersten Kindheitserinnerungen, die ich eindeutig zuordnen kann, reichen bis zur Taufe meiner jüngeren Schwester zurück. Ich war zweieinhalb Jahre alt. Während des Taufgottesdienstes wurde ich quengelig und mein Opa machte mit mir einen Spaziergang. Eine alte Frau (vermutlich die Küsterin) reichte mir Gummibärchen zur Beruhigung, draußen war es warm und sonnig. Vermutlich habe ich sogar noch Erinnerungsfetzen an die Geburt meiner Schwester, als ich noch ein halbes Jahr jünger war. Ich erinnere mich an große Fahrstühle mit blinkenden Lichtern in einem Krankenhaus, wo meine Mutter entbunden hat. Meine Therapeutin: „Wahnsinn! Kein neurotypischer Mensch könnte sich an so etwas erinnern!“

Ich war ein wenig stolz in dem Augenblick. Für mich war es faszinierend zu hören, mein Gedächtnis würde intensiver arbeiten und weiter zurückreichen als bei neurotypischen Menschen, das war mir nämlich nicht bewusst. Ich dachte, es sei völlig normal, dass man sich auch im Erwachsenenalter noch an die frühe Kindheit zurückerinnert – und das Erinnerungen nicht zwangsläufig schwächer werden, weil das Erinnerte lange zurückliegt.

Durch mein autistisches Gedächtnis fällt es mir übrigens auch schwer, mir selber zu verzeihen. Wenn ich daran denke, was ich in meinem Leben schon alles für Dummheiten begangen habe … die Brandstiftung in der Schule, dann war ich in jungen Jahren mal als Ladendieb unterwegs und hab auch sonst einigen Blödsinn angestellt … dann sehe ich all diese Jugendsünden noch genau so plastisch und lebendig vor mir, als hätte ich sie vor einigen Wochen erst begangen. Dadurch nehmen Scham und Schuldgefühle mit der Zeit nur langsam ab, ich kann nicht so einfach „vergessen“ und „loslassen“ wie andere Menschen das können.

Wenn ich mit anderen Menschen darüber spreche, höre ich oft: „Ach Dario, du hast früher Mist gebaut, aber das ist doch so lange her, warum belastest du dich damit heute noch?“ Ich weiß, das ist gut gemeint, frage mich aber: Nur weil etwas lange her ist, heißt es doch nicht, dass es deshalb weniger real ist. Die Vergangenheit ist schließlich genauso so ein Teil der Realität wie die Gegenwart, oder nicht?

Meine Therapeutin dazu: Jeder Mensch macht irgendwann Fehler und überschreitet auch mal Grenzen. Die meisten Menschen blenden ihre Jugendsünden irgendwann aus (erinnern sich oft nur auf Nachfrage daran) und vergessen vieles im Laufe der Zeit. Die Vergangenheit wird – vereinfach gesagt – abgehakt und man konzentriert sich auf das Leben hier und heute. Das autistische Gedächtnis hat diese Filterfunktion nicht (oder nur eingeschränkt) und deshalb hänge ich so mühevoll in der Vergangenheit fest.

Ich sehe mein Leben immer wie einen grafischen, farbigen Zeitstrahl vor mir, der von meiner frühen Kindheit bis zum heutigen Tag reicht. Auf diesem Zeitstrahl liegt die Vergangenheit ein Stückchen von der Gegenwart entfernt, aber deshalb ist sie für mich nicht weniger real. Genau wie z.B. Australien nicht weniger real ist als Europa, auch wenn beide weit voneinander entfernt liegen.

Der fehlende Gedächtnisfilter

Ich will mein besonderes Gedächtnis gar nicht ändern oder abschalten, es macht mich als Menschen ja aus. Es kann etwas Bereicherndes haben, wenn ich mich an weit zurückreichende Episoden aus meinem Leben erinnere, die andere Menschen längst vergessen hätten. Andererseits führt der fehlende Gedächtnisfilter zu Belastungen, die andere Menschen anscheinend nicht kennen.

Diese intensive Gedächtnisleistung kann man – wie alle autistischen Besonderheiten – nicht wegtherapieren, daran bin ich mir mit meiner Therapeutin einig. Man kann sich nur Wege erarbeiten, damit umzugehen und das will ich mit Hilfe mit meiner Therapeutin tun. Dazu interessieren mich auch die Erfahrungen anderer Leser, von Autisten und Nicht-Autisten gleichermaßen:

– Haben Autisten wirklich ein intensiveres Gedächtnis als nicht autistische Menschen?

– Ist es tatsächlich so, dass nicht autistische Menschen sich nicht an ihre frühe Kindheit (ca. 2-3 Jahre) zurückerinnern können?

– Können Nicht-Autisten die Vergangenheit weitgehend ausblenden, um die Gegenwart besser zu bewältigen? Gibt es so etwas wie eine „Hierarchie“ der Erinnerungen: Je länger her, desto unschärfer? (Auch bei mir werden Erinnerungen unscharf, wenn sie extrem lange in die Kindheit zurückreichen. Bei Nicht-Autisten scheint diese Erinnerungsunschärfe aber viel früher einzutreten, wie mir meine Therapeutin erklärte.)

Mich interessiert, wie ihr darüber denkt und wie es euch damit geht.

Eine Botschaft ist mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig: Wenn autistische Menschen (egal ob Kinder oder Erwachsene) die Vergangenheit nicht „loslassen“ können oder ständig um längst abgeschlossene Themen kreisen, dann liegt es bestimmt nicht an Sturheit oder mangelndem Willen. Es kann mit einem schwach ausgeprägten Gedächtnisfilter zusammenhängen, der nicht in allen Situationen die notwendige Trennschärfe herstellen kann zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Schreibt gern in die Kommentare, wie ihr darüber denkt.
Erfahrungsaustausch ist immer sehr spannend. :-)

wer hier schreibt

Silke Bauerfeind

Gründerin von Ellas Blog (2013), Buch- und Kurs-Autorin, Kulturwissenschaftlerin, psychologische Beraterin, Referentin. 

"Ich verbinde persönliche Erfahrung mit Wissen rund um Autismus, Teilhabe und Familienrealität. Mein Schwerpunkt liegt auf Autismus mit hohem Pflege- und Unterstützungsbedarf – Themen, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft zu kurz kommen"

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