Gastbeitrag von Karin Reschke:
Der Moment, in dem das eigene Kind das Elternhaus verlässt, ist für jede Familie ein großer
Einschnitt. Doch wenn das Kind eine Behinderung hat und autistisch ist, kommen oft noch ganz
andere Fragen und Sorgen hinzu:
Wie gut wird sich mein Kind an eine neue Umgebung gewöhnen können?
Wie viel Struktur und fachliche Unterstützung braucht es im Alltag?
Wird es dort Menschen geben, die seine besonderen Bedürfnisse verstehen?
Kann ich als Mutter oder Vater loslassen und doch intensiv seinen Weg begleiten?

©Foto: Silke Bauerfeind, 2025
Ich bin Karin Reschke, Mutter einer erwachsenen autistischen Tochter mit kognitiven
Beeinträchtigungen und umfangreichem Assistenzbedarf, und ich kenne diese Fragen nur zu gut.
Ich weiß, wie sich die Mischung aus vorausschauender Planung, Angst und Unsicherheit anfühlt.
Aber ich habe auch erfahren, wie viel möglich ist, wenn man sich frühzeitig mit dem Thema
auseinandersetzt und sich Unterstützung sucht.
Mein Mann und ich leben in Schleswig-Holstein in der Nähe von Hamburg. Unser Sohn, der drei
Jahre älter als seine Schwester ist, lebte beim Auszug unserer Tochter noch zu Hause, ist inzwischen
verheiratet und lebt in einer anderen Stadt in Schleswig-Holstein.
Unsere inzwischen 30-jährige Tochter ist mit knapp 15 Jahren in eine Wohneinrichtung für Kinder
und Jugendliche mit Behinderung in Brandenburg gezogen. Die dort angegliederte Förderschule hat
einen Schwerpunkt auf die Förderung von autistischen Schülern.
Nach 7 Jahren am Ende der Schulzeit ist unsere Tochter in eine kleine Wohnstätte für erwachsene Autistinnen und Autisten mit hohem Assistenzbedarf umgezogen. In einem kleinen Dorf in Brandenburg lebt sie gemeinsam mit 10 weiteren Mitbewohnern.
In diesem Beitrag teile ich meine Erfahrungen, Gedanken und Erkenntnisse – in der Hoffnung, dass
sie anderen Familien helfen, ihren ganz eigenen Weg zu finden.
Ein Wechselbad der Gefühle – für Eltern und Kind
Wenn Kinder erwachsen werden, ist der Auszug ein natürlicher Schritt. Doch bei einem Kind mit
Behinderung fühlt es sich oft anders an. Gerade autistische Menschen äußern häufig keinen oder
nur geringe Wünsche nach Veränderung. Meine Tochter liebt Routinen und vertraute Strukturen –
Veränderungen bringen sie schnell aus dem Gleichgewicht. Also war klar: Der Impuls musste von
uns kommen.
Das war nicht leicht. Ich hatte das Gefühl, eine Entscheidung über ihren Kopf hinweg zu treffen.
Gleichzeitig wusste ich: Wenn ich sie ewig festhalte, verhindere ich, dass sie sich selbst gut
entwickeln kann.
Ich erlebte eine Achterbahnfahrt der Gefühle:
Sorge, ob wir über die Entfernung in guter und innerer Verbindung bleiben können
Zweifel, ob es die richtige Entscheidung ist
Angst, dass unsere Tochter mit der Veränderung überfordert sein könnte
Erleichterung, als ich sah, dass sie in ihrer neuen Umgebung Fuß fasste und gut gefördert wurde.
Heute weiß ich: Diese Gefühle sind normal. Sie gehören zum Prozess dazu.
Was mir dabei sehr geholfen hat, ist eine sehr gut geplante und strukturierte Vorgehensweise und
ein engmaschiger, offener Austausch mit den Betreuer:innen in der Wohnstätte.
Auch mein Netzwerk mit anderen Familien und deren Erfahrungen beim Auszug ihrer Kinder,
war sehr wertvoll und ermutigend.
Ich habe gelernt: Je früher man sich mit dem Thema beschäftigt, desto besser.
Kleine Schritte gehen – Vorbereitung ist alles
Autistische Menschen brauchen oft viel Zeit, um sich auf Veränderungen einzustellen. Daher haben
wir früh begonnen, unsere Tochter schrittweise an andere Umgebungen zu gewöhnen. Das hieß für
uns:
Probewohnen in Kurzzeitpflege- Einrichtungen ermöglichen
In den Ferien und an einzelnen Wochenenden an Freizeitmaßnahmen teilnehmen – das half ihr,
sich langsam an eine neue Umgebung zu gewöhnen und durch Wiederholungen Sicherheit zu
gewinnen.
Bildkarten und Fotos nutzen: wir haben ihr mit TEACCH-Karten, Fotos und einfachen
Erklärungen gezeigt, was sie in der neuen Wohnform erwartet.
Ähnliches mit Ähnlichem verbinden: Ich habe ihr erklärt: „Es ist wie in der Ferienfreizeit, nur
öfter.“ So konnte sie sich etwas darunter vorstellen.
Die richtige Wohnform finden
Es gibt nicht „die eine“ Lösung für alle. Autistische Menschen haben oft besondere sensorische und
soziale Bedürfnisse, daher haben wir uns genau angesehen, welche Wohnformen infrage kommen:
Besondere Wohnform (Wohngruppe in einer Einrichtung mit fester Betreuung)
Ambulant betreutes Wohnen (eigene Wohnung mit Unterstützung durch einen Betreuungsdienst)
Inklusive Wohngemeinschaften (Menschen mit und ohne Behinderung leben zusammen)
Persönliche Assistenz in eigener Wohnung (selbstorganisiert oder über einen Dienstleister)
Für meine Tochter war es wichtig, einen ruhigen Rückzugsort zu haben. Ein Wohnprojekt mit vielen
offenen Gemeinschaftsräumen wäre für sie eine Reizüberflutung gewesen. Gleichzeitig brauchte sie
feste Tagesstrukturen. Letztlich war entscheidend, dass sie sich dort wohl fühlt und die Betreuung
autismusspezifisch ist.
Als Mutter war meine größte Sorge: Kann sie dort ihre Routinen beibehalten? Wird sie verstanden?
Deshalb habe ich mir die Betreuungskonzepte vorher genau angeschaut und mich intensiv bei der
Wohnbereichsleitung nach Abläufen und Inhalten erkundigt.
Viele autistische Menschen brauchen zwar weniger direkte soziale Interaktionen, aber sie
profitieren von stabilen Bezugspersonen. Eine feste Betreuungsstruktur mit bekannten Gesichtern
war und ist für meine Tochter essenziell wichtig.
Für uns hat das Konzept und die Qualität der Wohneinrichtung im Vordergrund gestanden.
Natürlich wäre uns ein Wohnangebot in unserer räumlichen Nähe deutlich lieber gewesen, aber
mangels passender Angebote mussten wir Prioritäten setzen. Deshalb haben wir eine größere
Entfernung in Kauf genommen und sind 7 Jahre lang jedes 3. Wochenende zu unserer Tochter
gefahren und haben dort in immer derselben Ferienwohnung das Wochenende zusammen
verbracht.
In den Ferien war sie längere Zeit bei uns zu Hause. Erfreulicherweise konnten wir einen
sehr guten Kontakt zu unserer Tochter halten und sie freut sich nach wie vor sichtbar, wenn sie uns
sieht. Da sie weiterhin noch gut 200 km von uns entfernt lebt, halten wir inzwischen den Kontakt
zusätzlich zu den monatlichen Heimfahrten über wöchentliche Video-Telefonate.
Da die Bedürfnisse und der Unterstützungsbedarf sehr unterschiedlich sind, und noch dazu
aufgrund des großen Fachkräftemangels die Wartelisten lang sind, rate ich Eltern sich sehr
frühzeitig mit dem Auszug ihrer behinderten Kinder zu befassen. Oftmals ist es einfacher aus einer
Jugendbetreuung heraus beim selben Träger auch einen Wohnplatz im Erwachsenenbereich zu
erhalten.
Eine gute Vernetzung mit anderen Eltern ist in jedem Fall zu empfehlen und verteilt die anfallende
Arbeit auf mehrere Schultern. Gemeinsam lässt sich definitiv Vieles besser umsetzen, auch auf der
Ebene von Politik und Verwaltung.
Im Rahmen meiner ehrenamtlichen Arbeit bei der Lebenshilfe in unserem Landkreis sorgen wir
Eltern als Vereinsmitglieder und Interessenvertretung seit Jahren dafür, dass auf kreispolitischer
Ebene die Schaffung neuer Wohnplätze auf der Tagesordnung bleibt.
Weiterhin besteht die Möglichkeit, mit dem Persönlichen Budget eine Betreuung für das eigene
Kind im eigenen Wohnraum zu organisieren. Damit ist man zwar weitestgehend unabhängig von
Anbietern der Behindertenhilfe, erfordert aber die Bereitschaft als Eltern einen Großteil der
Organisation zu bewältigen.
Elternängste loslassen – leichter gesagt als getan
Die größte Hürde war nicht meine Tochter – sondern ich selbst. Ich musste mir eingestehen: Ich
hatte Angst und Schuldgefühle.
Angst, dass sie nicht verstanden wird
Schuldgefühle, dass sie unglücklich sein könnte
Angst, dass wir uns über die Entfernung fremd werden könnten
Was mir wirklich geholfen hat, ist der Austausch mit anderen Eltern: Zu sehen, dass andere Eltern
ähnliche Erfahrungen machen, war unglaublich entlastend.
Und sich selbst die Frage zu stellen: „Was wäre, wenn es gut klappt?“ – Oft malt man sich
schlimmere Szenarien aus, als tatsächlich eintreten. Es ist so wichtig, den eigenen Fokus auf die gute
Variante der möglichen Entwicklungen zu richten. Das wiederum hat ganz viel mit innerer Haltung
zu tun und was wir denken, wie wir es „richtig“ machen sollten.
Neben fachlichen und sachlichen Informationen hat mir am meisten die innere Arbeit und die Überprüfung meiner Überzeugungen, Werte und Verhaltensmuster geholfen. Dafür habe ich mir Hilfe durch Coaching und in Selbsthilfegruppen geholt. Ich habe erkannt, dass Hilfe anzunehmen kein Zeichen von Schwäche,
sondern von Selbstfürsorge ist!
Fazit: Ein Weg, der sich lohnt
Ich will ehrlich sein: Es gibt keinen perfekten Plan. Es gibt Unsicherheiten, Zweifel und
Herausforderungen. Aber es gibt auch Chancen, Wachstum und wunderschöne Momente. Nach 15
Jahren Erfahrung mit Mitarbeiter.innen in Wohnstätten durften wir neben manchen Schwierigkeiten
viel Erfreuliches und Herzerwärmendes erleben. Trotz herausfordernden Verhaltens unserer Tochter
wurde sie von empathischen, liebevollen und engagierten Betreuer:innen begleitet. Dafür sind wir
sehr dankbar!
Der Prozess braucht Zeit – und das ist okay.
Sich frühzeitig zu vernetzen, hilft enorm.
Mutige kleine Schritte führen zum Ziel.
Mein Appell: Niemand muss diesen Weg alleine gehen. In Gemeinschaft und mit fachlicher
Unterstützung lassen sich Lösungen viel leichter finden als alleine.
Aufgrund meiner jahrelangen Erfahrung und intensiven Fortbildungen biete ich mittlerweile Einzel-
und Gruppen-Coaching, hauptsächlich für Frauen mit behinderten und pflegebedürftigen
Angehörigen, an. Nähere Informationen dazu sind auf meiner Webseite zu finden.
Karin Reschke, April 2025
Vielen Dank, liebe Karin, für Deinen Mut machenden und sehr hilfreichen Gastbeitrag. Mit Deiner Erfahrung wirst du sicherlich vielen Eltern helfen können, sich auch auf den spannenden Weg des gegenseitigen Raum gebens (wie ich es gerne nenne) zu begeben.
Ganz herzlichen Dank und alles Gute für Dich und Deine Familie.
Zum Weiterlesen:
Mein 2025 erschienenes Buch: „Warum du nicht loslassen musst und was dir sonst keiner sagt“.
Vieles, was Karin in ihrem Beitrag anspricht, wird vertieft. Das Buch nimmt dich als Elternteil bei deinem Weg an die Hand, wenn du magst:
Außerdem interessant für dich:
Blogbeitrag: Wie wird dein Kind später wohnen?
Blogbeitrag: Abwägen verschiedener Wohnformen
Blogbeitrag: Vorteile innovativer Wohnprojekte