Abwägen verschiedener Wohnformen: Was braucht dein Kind, um sich wohlzufühlen?

veröffentlicht im Februar 2023


Erfahrungen anderer Familien, deren erwachsen gewordene Kinder nur kurzzeitig in einer Gruppen-Einrichtung waren, weil es dann nicht mehr klappte, und die Geschichten (um nicht zu sagen Schicksale), die mir im Coaching und in der Vereinsarbeit begegnen, haben uns zum Umdenken bewegt.

Umdenken von was?
Wir ließen von unserem ursprünglichen Plan, für Niklas einen Wohnheimplatz zu suchen, ab und begannen vor etwa dreieinhalb Jahren eine selbstbestimmte Wohnform aufzubauen.

Bild mit zwei Körben für Argumente pro und contra

©Foto: pixabay, User Alexas_Fotos, vielen Dank!

Was Niklas braucht, um ein wohltuendes Zuhause zu haben

Eine der größten Herausforderungen für Niklas ist, mit akustischer Reizüberflutung zurechtzukommen. Auch die Rücksichtnahme auf andere Personen, das zeitweilige Anpassen, wie es im sozialen Miteinander dazu gehört, ist nicht gerade eine seiner Stärken. Er ist damit überfordert.
Zuverlässige Rückzugsmöglichkeiten sind enorm wichtig für ihn – ein Zuhause, in dem er sich darauf verlassen kann, dass seine Bedürfnisse im Vordergrund stehen.
Deshalb sahen wir nicht wirklich eine gute Lebensqualität für ihn in einer Einrichtung mit vielen anderen Personen.

Dazu kommt, dass er ein verlässliches Umfeld braucht, ohne ständigen Mitarbeiterwechsel. Er braucht dauerhafte Bindungen an Personen, die ihn gut kennen und auf das besondere Leben mit ihm eingespielt sind.

Und was braucht dein Kind?

Einen geeigneten Wohnplatz zu finden, wird schwieriger

Aufgrund der prekären Situation bezüglich Fachkräfte- und Mitarbeitermangel in den Einrichtungen wird es dort immer schwieriger, einen notwendigen Personalschlüssel aufrecht zu erhalten. Vielerorts werden Notprogramme gefahren, die den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner nicht gerecht werden. Eine Abwärtsspirale beginnt, weil sich das nicht selten im sinkenden Wohlbefinden und Verhalten der Bewohnerinnen und Bewohner widerspiegelt.

„Mensch, sieh doch nicht alles so schwarz“, sagte neulich jemand.
Hm, schwarz sehen würde für mich bedeuten, den Kopf in den Sand zu stecken (rw), zu schimpfen und zu wettern und darauf zu warten, dass vielleicht doch noch alles besser werden könnte. Vielleicht, eventuell, wenn,…..?
Ich bin eher dafür, selbst etwas zu verändern und aktiv zu werden. Dazu aber gleich noch mehr.

Inzwischen spricht man offiziell von „besonderen Wohnformen“, aber das ändert nichts an der Situation, dass es immer schwieriger wird, diese Wohnformen (Wohngruppen im Heim) aufrecht zu erhalten.
Da sprechen auch die Rückmeldungen vieler Familien eine deutliche Sprache. Meistens handelt es sich bei den Kündigungen um (erwachsene) Kinder mit hohen Unterstützungsbedarfen oder sog. herausfordernden Verhaltensweisen, da diese „Klientel“ natürlich am meisten Personal bindet.
Damit trifft es automatisch die Familien, die am allermeisten auf Unterstützung angewiesen sind.

Das alles geschieht in der Regel nicht aus bösem Willen, sondern deshalb, weil es zu wenige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gibt, oder weil diese nicht entsprechend ausgebildet sind oder weil mangels Aufklärung keine Modifizierungen stattfinden und alle Beteiligten schließlich überfordert sind.

Mir ist wichtig, dass Eltern gesagt wird, wie schwierig es inzwischen geworden ist, einen geeigneten Wohnheimplatz zu finden. Denn sehr viele denken immer noch, dass sie sich darauf verlassen können oder dass ihnen dieser Platz später sogar offeriert wird.
Dem ist aber selten so, auch wenn es selbstverständlich auch heute noch gute Beispiele gibt.

Es gibt Alternativen

Das ist genauso wichtig zu sagen. Und es wird viel zu selten gesagt.
Es gibt Möglichkeiten, wie wir selbst aktiv werden können, um die Situation zu verbessern.

So oft bedauern wir Eltern, dass wir nicht gefragt werden und nicht mitgestalten können. In der Variante, zum Beispiel eine selbstbestimmte Wohnform über das Persönliche Budget aufzubauen, liegt nun genau diese Chance, eigene Vorstellungen umzusetzen und uns ganz eng an den Bedürfnissen unserer Kinder zu orientieren.

Und ja – das macht Arbeit. Und ja – wir wissen manchmal ohnehin nicht mehr, wo uns der Kopf steht und wann wir das jetzt auch noch machen sollen. Aber wir müssen das auch nicht alleine schaffen, sondern können uns mit anderen zusammenschließen.

Das Bundesteilhabegesetz stellt die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen in den Fokus. So viel Selbstbestimmung und Selbstgestaltung wie möglich – dabei ist es unerheblich, wie hoch der Betreuungs- und Unterstützungsbedarf ist. Das Recht auf größtmögliche Selbstbestimmung hat jeder Mensch.
Daraus leiten sich dann viele weitere Details ab – unter anderem die Möglichkeit, eine selbstbestimmte Wohnform aufzubauen.

Was wir gemacht haben

Niklas bekam nach Beendigung seiner Schulzeit in seiner Förderstätte schnell mit, dass manche Teilnehmer dort in der Einrichtung in Wohngemeinschaften leben. Aufgeregt gebärdete er zuhause, dass er das auf keinen Fall möchte und nach der Förderstätte immer nach Hause kommen will. Eine Zeit lang war er sehr skeptisch, ob sein „Taxi“ ihn am Nachmittag wirklich immer abholen kommt. Inzwischen weiß er, dass er sich darauf verlassen kann.
Das war natürlich der wichtigste Baustein bei der Entscheidung: das, was er möchte bzw. nicht möchte.

Das soziale Gefüge seiner Gruppe ist wertvoll für ihn, strengt ihn aber auch an. Daher ist sein Bedürfnis, nach der Förderstätte in seine vertrauten vier Wände nach Hause zu kommen, absolut verständlich. In einer Wohngemeinschaft wäre er erneut in einer Gruppensituation und hätte viel weniger Möglichkeiten, sich zu regenerieren.
Für andere AutistInnen mag das ein gangbarer Weg sein – für Niklas im Moment nicht. Vielleicht sieht das in ein paar Jahren anders aus, aber aktuell hat er seinen Wunsch nach einer eigenen Wohnlösung deutlich kundgetan und so suchten wir nach einer anderen Möglichkeit und setzen diese seit 2019 konsequent um.

Kurz und knapp zusammengefasst: Niklas hat eine Wohnung mit einem Zimmer für sich, ebenfalls ein eigenes Zimmer für Assistenz, zwei Bäder, eines für ihn und eines für die Assistenz, außerdem Wohn- und Esszimmer, die gemeinsam genutzt werden und eine Terrasse. Er braucht eine 24-Stunden-Assistenz und die MitarbeiterInnen dafür haben wir selbst eingestellt.
Hier kannst du mal in sein Projekt hineinschauen.

Das kannst du tun

Informiere dich sehr frühzeitig über Wohnmöglichkeiten in deiner Region.
Lege dabei Wert auf Transparenz und Vollständigkeit bei den Informationen, auf eine gute Kommunikation, auf einen ausreichenden Personalschlüssel und passende Rahmenbedingungen.
Frage kritisch nach, wie die Perspektiven sind.

Informiere dich zusätzlich über die Möglichkeit, eine selbstbestimmte Wohnform zu schaffen.
Das kannst du als Einzellösung (wie wir aktuell) umsetzen, aber auch als WG, inklusive Hausgemeinschaft, in Zusammenarbeit mit einem Träger oder ähnliches. Der Kreativität sind hier keine Grenzen gesetzt.
Lass sich hierzu bitte nicht zu schnell entmutigen, weil es leider immer noch viele Vorbehalte von verschiedenen Seiten zur Realisierung eigener Wohnprojekte gibt.

Zum Weiterlesen:

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