Autismus und Differentialdiagnostik – und wie Niklas mit fünf Jahren laufen lernte

veröffentlicht im Februar 2023


Neulich erzählte mir eine junge Mama von ihrem autistischen Sohn, der noch nicht laufen kann. Er ist vier Jahre alt und allgemein entwicklungsverzögert.
Ich fühlte mich direkt zurückversetzt in die Zeit, als wir selbst auf der Suche nach einer Diagnose waren und das Thema Autismus noch nicht in unseren Köpfen war.

Kinderschuhe

Die Diagnose bekamen wir vor 17 Jahren, als Niklas schon sechs Jahre alt war. Ich bin davon überzeugt, dass er heutzutage die Autismusdiagnose als kleiner Junge bereits mit drei Jahren bekäme. In den letzten Jahren hat sich das Wissen enorm vergrößert und die Odyssee, die wir damals gemeinsam mit ihm hinter uns brachten, wäre wohl deutlich kürzer.

Die Anfangszeit mit Differentialdiagnostik

Über die Anfangszeit habe ich in meinem ersten Buch zu Ellas Blog „Ein Kind mit Autismus zu begleiten, ist auch eine Reise zu sich selbst“ ausführlich geschrieben. Wir waren häufig in München (etwa 200 km von uns entfernt), um humangenetisch auszuschließen, was an Verdachtsmomenten im Raum stand. Da ging es zum Beispiel um das Angelman-Syndrom, das Prader-Willi-Syndrom, das Joubert-Syndrom und das fragile X-Syndrom.
Es war immer wieder ein Gefühlschaos: Was ist, wenn sich der Verdacht bestätigt? Was bedeutet das dann für Niklas? Was bedeutet es für einen möglichen weiteren Kinderwunsch? Was bedeutet es für unsere Familie?
Dann das Warten und immer und immer wieder „nein, hat sich nicht bestätigt“. Manchmal bekamen wir diese Aussage auch nur auf Nachfrage: „Ach so, hat Ihnen das noch keiner gesagt? Der Test war negativ.“ Als ob es sich um eine lapidare Randnotiz handeln würde.

Niklas war in dieser Zeit auch rückblickend schon auffällig autistisch, berührungsempfindlich, nahm kaum Blickkontakt auf, nichtsprechend und er hatte auch damals schon seinen ganz besonderen Charme, der ihm dabei hilft, Menschen im Sturm zu erobern und das Leben anderer zu berühren.

Schließlich stellte ein niedergelassener Kinder- und Jugendpsychiater, der die humangenetische Brille absetzte (rw), die Diagnose „frühkindlicher Autismus “ (nach ICD-10). Dennoch war es wichtig, alles andere, was in den Jahren zuvor im Raum stand, ausgeschlossen zu haben. Es war zwar belastend, sich immer wieder mit neuen möglichen Syndromen auseinanderzusetzen, aber es half auch dabei, sich nach und nach überhaupt mit dem Thema Behinderung auseinanderzusetzen. Das passiert ja bei den Allerwenigsten von heute auf morgen.

Wenn du übrigens selbst noch am Anfang der Reise mit deinem Kind stehst, schau dir mal das „Starterkit“ an. Dort habe ich viele Informationen und Tipps für den Beginn zusammengetragen.

Wie Niklas laufen lernte und die Geschichte mit dem Nikolaus

Als Niklas in den Kindergarten kam, konnte er noch nicht laufen. Das lernte er mit fünf Jahren. Bis dahin bewegte er sich entweder auf dem Popo rutschend oder mit einem Rollator vorwärts. Auch übte er fleißig mit seinem Gleichgewicht, indem er sich an Ringen festhielt, die bei uns von der Zimmerdecke hingen. Das waren solche Ringe, die man aus Tunrhallen kennt. Ein befreundeter Sportlehrer brachte diese ausrangierten Teile mit. Für Niklas waren sie tolle Spaßbringer und er übte fleißig damit.

Im Dezember 2004 war er dann so weit, dass er auch schon ziemlich sicher an einer Hand laufen konnte, aber alleine war er noch nie unterwegs gewesen. Der Nikolausbesuch im Kindergarten stand an. Alle saßen gespannt im Stuhlkreis und strahlten, als der Nikolaus sich zu ihnen setzte. Niklas saß dem dicken Mann, der natürlich einen roten Mantel anhatte und einen riesigen Rauschebart vor sich hertrug, direkt gegenüber. Nachdem er ihn eine ganze Weile ausgiebig gemustert hatte, stand Niklas plötzlich auf, stapfte durch den Stuhlkreis und zog dem Nikolaus den Bart herunter!

Alle waren begeistert und klatschten. Niklas bekam ganz viele Küsschen von seinen Kindergartenfreundinnen und der Nikolaus…. ja, der wusste gar nicht, was los war. Er stand plötzlich nicht mehr im Mittelpunkt, sondern dieser kleine Zwerg, der plötzlich losgestapft war und mit dem sich alle freuten. Als dem lieben Nikolaus erklärt wurde, was gerade passiert war, kullerten ihm vor Rührung die Tränen und Niklas durfte wieder und wieder an seinem Rauschebart zupfen!

Ich weiß es noch ganz genau, obwohl ich gar nicht dabei war. Aber ich ließ es mir immer wieder erzählen. Ab diesem Tag konnte Niklas laufen und wir feierten eine große Party mit ihm. Und es ist ein schönes Beispiel dafür, wie die Kinder sich mit ihrem kleinen besonderen Freund mitfreuten, obwohl der Nikolaus doch eigentlich das geplante Highlight des Tages gewesen war.

Und dann kam noch die Gebärdensprache in unser Leben

Ja, so war das damals und jetzt ist er schon 23 Jahre alt und stapft immer noch durch die Gegend und zieht anderen am Bart – allerdings krault er inzwischen auch seinen eigenen, denn der junge Mann ist erwachsen geworden und schafft es immer noch trotz aller Herausforderungen (für sich und andere), Menschen für sich einzunehmen.
Ich frage mich manchmal, wie er das immer macht und bin dankbar für alles, was er uns in all den Jahren gezeigt hat.

Nicht zuletzt brachte er uns übrigens die Gebärdensprache, denn damit begann er auch schon im Kindergarten. Er beschloss zu gebärden, ohne dass wir ihm das anboten. Und dann kam eins aufs andere und inzwischen hat er einen Wortschatz von über 1000 Gebärden und hat viele andere Menschen um sich herum damit inspiriert. Aber das ist eine andere Geschichte, die ihr HIER nachlesen könnt.

Das war ein kleiner gedanklicher Spaziergang in die Anfangszeit, ausgelöst durch die Begegnung mit der jungen Mutter. Vielleicht bist du ein bisschen mitspaziert und kannst das eine oder andere für dich herausziehen.
Letztes Jahr veröffentlichte ich übrigens das vierte Buch zu Ellas Blog mit dem Titel „Autismus im Kindergarten – wie Teilhabe gelingen kann“. Darin findest du noch viele weitere Anregungen und Informationen gerade für die Anfangszeit.

Wir außerdem mal einen Blick in die Schatzkiste

Wenn du möchtest, hole dir weitere Checklisten und Merkblätter zu verschiedenen Themen in der Schatzkiste von Ellas Blog.

zum Weiterlesen:

Autismus-Spektrum – ein Starterkit für Eltern

Wie ich mich fühlte, als wir zum ersten Mal andere Autisten wie Niklas trafen

Tipps für das Fördern von Gebärdensprache im Alltag

Zum Weiterlesen:

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