Eltern behinderter Kinder machen immer wieder die Erfahrung, dass sie in ihrem Elternsein bzw. dem Tun, das damit zusammenhängt, pauschal kritisiert oder gar belächelt werden.
Genauso wenig, wie wir als Eltern Beratenden und fachlich mit unseren Kindern Arbeitenden grundsätzlich misstrauisch gegenübertreten sollten, ist es auch unbedingt notwendig, dass dies umgekehrt nicht geschieht.
Denn wie so häufig kann man niemals nur von der eigenen oder ausschließlich von bisher gemachten Erfahrung ausgehen. Gerade in dem gleichwertigen Zusammenbringen unterschiedlicher Perspektiven liegt die größte Chance für uns alle. Eine Möglichkeit wäre, einander besser zuzuhören und nicht sofort gängige Meinungen zu bedienen.
Dazu ein Gastbeitrag von Lisa:
Vor Kurzem sah ich im Tanzkurs eine alte Bekannte wieder. Wir kennen uns schon länger, haben uns aber nie länger unterhalten und kennen auch nicht den Beruf der anderen.
Während einer Tanzpause saßen wir zusammen, sie fragte nach meiner Arbeit und ich nach ihrer.
Sie betreut Senioren mit Behinderung. Ich fragte nach: wie groß ist die Gruppe, wie ist der Alltag, welche Art der Behinderung haben ihre Schützlinge?
Sie erzählte ein bisschen und ich spürte, dass ihre Arbeit sie erfüllt und sie gern dort ist.
Dann erhielt das Gespräch eine Wendung, die ich überhaupt nicht erwartet hatte.
Ich erzählte, dass ich ein Kind mit Behinderung habe und dass bei ihm frühkindlicher Autismus diagonostiziert wurde.
Meine Bekannte stockte und sah mich an. Ihr Gesicht wurde hart und sie rückte körperlich ein Stück von mir ab. Dann erzählte sie von den Eltern ihrer Schützlinge, wie diese ihre Kinder lange nicht gehen lassen wollten, wie Kinder bis ins Seniorenalter bei den alten Eltern lebten bis die Eltern sterben und die Kinder das erste Mal in ihrem Leben in eine Wohneinrichtung kamen.
Sie waren unselbstständig, weil sie unselbstständig großgezogen worden waren, weil die Eltern ihnen zu viel abgenommen hatten. Meine Bekannte hält wenig von Eltern, die überbehütend, übervorsichtig und blind für das Potential ihrer Kinder sind, die viel selbstständiger und weltoffener sein könnten.
Sie erzählte von einem Schützling, mit dem sie nach dem Tod dessen Eltern in die Stadt gefahren war, um neue Kleidung für ihn zu kaufen. Er war begeistert von der Stadt, den vielen Menschen und Eindrücken, weil er vorher nur das Elternhaus und den angrenzenden Wald gekannt hatte.
Ich versuchte zu erklären, dass es für uns Eltern immer eine Gratwanderung ist: wieviel traue ich dem Kind zu und ab wann überfordere ich es? Wie finde ich diese Grenze bei einem Nichtsprecher, wo sie doch auch bei einem sprechenden Kind manchmalso schwierig zu erkennen ist?
Auch wir sind nur Menschen, die manchmal müde und erschöpft sind.
Meine Bekannte blieb dabei: Eltern von Menschen mit Behinderung würden stark zur Unselbstständigkeit ihrer Kinder beitragen.
Ich gab frustriert auf und nahm zur Kenntnis, dass sie mich jetzt in einem anderen Licht sah, und zwar aufgrund ihrer pauschalen Meinung in einem sehr negativen Licht.
Auf dem Nachhauseweg im Auto dachte ich weiter darüber nach und versuchte, es zu verdauen. Für mich ist selbstverständlich, dass Eltern, weitere Betreuende, Assistenten und Therapeuten an einem Strang ziehen.
Natürlich sind wir manchmal unterschiedlicher Meinung, aber unser Umgang ist von großem gegenseitigen Respekt geprägt: Respekt für die Erfahrung, den Alltag und die Herausforderungen des jeweils anderen.
In Ansätzen hatte ich die Meinung meiner Bekannten schon einmal gehört, aber nicht so rigoros und wenn ich ehrlich bin: nicht so kalt. Es macht mich traurig, dass meine Bekannte pauschal über Eltern behinderter Kinder urteilt. Wenn ich mit Betreuenden und Therapeuten von Menschen mit Behinderung nicht offen über meinen Alltag und mein Leben als Mutter eines Kindes mit Behinderung sprechen kann, mit wem denn dann?
Wenn ich von dieser Seite – und so fühlt es sich an – abgelehnt und belehrt werde, ist es dann nicht besser, überhaupt nicht mehr über meinen Alltag zu sprechen? Das ist das Gefühl, mit dem ich zurückbleibe: Traurigkeit und Sprachlosigkeit.
Ich versuche, mich selbst zu trösten mit der Art, wie meine Bekannte über ihre Schützlinge sprach: sie ist unglaublich stolz auf das, was diese gelernt haben: sich selbst anziehen, Essen zubereiten, an Freizeitaktivitäten teilnehmen, eine Flugreise mit der Gruppe wagen, mehr sprechen und kommunizieren. Ich sehe Freude und Stolz in ihren Augen … und auch große Zuneigung. Vielleicht ist das viel wichtiger als ihre Perspektive auf die Eltern.
Außerdem merke ich, wie glücklich ich mich in anderer Hinsicht schätzen kann: im Leben meines Sohnes gibt es viele Bezugspersonen, Lehrer und Therapeuten, die sich an seinen Fortschritten freuen und gleichzeitig mich als Elternteil ernst nehmen und respektieren.
Zum Weiterlesen:
Auch ich bekomme -meist von Menschen, die leider absolut kein Wissen über Autismus besitzen- regelmäßig seit Jahren zu hören, dass ich meine beiden autistischen „Kinder“ (jetzt 21 (Sohn) und 25 (Tochter) Jahre alt, beide Asperger) in eine Wohngruppe geben sollte, damit sie selbstständig werden etc. etc.
Die Tochter hat eine Berufsausbildung, ist bei der freiwilligen Feuerwehr aktiv, fährt usw. und vertrat lange Jahre hartnäckig die Ansicht, dass sie „immer“ bei uns Eltern wohnen bleiben wird. Tja, und nun ist sie vor gut 8 Monaten samt Hund, Meerschweinchen und Fischen zu ihrem Lebensgefährten gezogen. Es ist natürlich eine große Veränderung für meine Tochter, verbunden mit einem hohen Stresspegel und einigen „Rettungseinsätzen“ meinerseits sowie viel Lernarbeit für ihren Lebensgefährten (NT!). Es läuft und das ist die Haupotsache. Der Sohn ist noch auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz, bleibt auf eigenen Wunsch zu Hause wohnen und will gar nicht weg, weil er den großen Garten und die kleine Werkstatt in der Garage, wo er so viele Projekte verwirklichen kann, liebt. Er kocht und backt sehr gerne. Er benötigt jedoch (noch) den Rückhalt jederzeit Hilfe und Unterstützung von uns, den Eltern, zu bekommen, wenn er nicht weiter weiß.
Da frage ich mich schon, warum denn immer eine Wohngruppe das non plus ultra sein soll … warum lässt man den Kindern nicht einfach Zeit sich zu entwickeln … warum respektiert man nicht, dass es verschiedene Lebensmodelle gibt? Ich denke, in der heutigen Zeit bleibt kaum ein autistisches Kind bei seinen Eltern bis diese sterben.
Ich wünsche mir für meine beiden autistischen Kinder die gleiche Entscheidungsfreiheit, die meine nichtautistische Tochter auch hat, nämlich selbst zu entscheiden, wann sie ausziehen – egal ob jetzt oder in 5 oder mehr Jahren. Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstärung und da dauert vieles einfach länger …
Du sprichst mir wirklich vollkommen aus der Seele. Auch ich vertrete dieses Ansicht, dass jede/jeder unbedingt selbst entscheiden muss, wo, wann und wie er leben möchte. Niemand anders hat das zu entscheiden. Jeder NT junge Erwachsene trifft diese Entscheidung ebenfalls selbständig. Ich finde auch Menschen mit Behinderungen müssen sich dafür genauso wenig rechtfertigen wie jede/jeder andere.
Für mich war dies auch ein langer Lernprozess, aber inzwischen höre ich immer auf mein Bauchgefühl und bin sicher, dass mein volljähriges Kind nicht den richtigen Zeitpunkt finden wird.
Liebe Lisa, ich kann die Perspektive beider Personen sehen. Als Betreuer eines frühkindlichen Jungen Mannes, der 12 Jahre von mir und meinem Partner intensiv Pädagogisch betreut wurde, hatte nie den Kontakt zu seinem Elternhaus verloren. Zusammenfassend kann ich sagen, dass wir nach dieser Zeit eine gute Folgeeinrichtung finden könnten und die Überleitung sehr gut klappte.
Es ist immer eine Einstellungsfrage, ob Eltern oder Fachkräfte.Ich habe immer wieder solche und solche kennen gelernt.Hinterfragen und mit Respekt auftreten ist die eine Sache, als Elternteil loszulassen und dem Kind/jungen Menschen Raum zu geben für die weitere Entwicklung, die andere Sache. Betreuung mit Emotionen und starker Bindung lassen sich nicht so enfach kappen. Bereiten sie das und sich langfristig darauf vor. Sie können dann sehr stolz sein.