Bea kümmert sich fast ausschließlich um ihren Sohn, seit er keine Einrichtung mehr besucht und zuhause beschult wird. Wie es ihm und ihr geht, erzählt sie im Interview.
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Liebe Bea, welche Diagnose hat Dein Sohn, wie alt ist er?
Mein Sohn ist frühkindlicher Autist (HFA) und ist 2006 geboren.
Wie kam es zur Diagnosestellung? Wurdet und werdet Ihr ärztlich gut betreut?
Mein früher fast nonverbaler Sohn (nur eine eigene erfundene Sprache) wurde im Alter von drei Jahren im Kiga so depressiv und stumm wegen Erziehungsmethoden aus dem Steinzeitalter, dass ich ihn dort herausnahm. Ich recherchierte im Internet, was mit meinem Sohn los sein könnte, da mir auch viele andere Eigenheiten an ihm aufgefallen waren, die ich bei anderen gleichaltrigen Kindern nicht beobachten konnte und die uns das Leben sehr schwer machten.
Schließlich entdeckte ich „frühkindlichen Autismus“ und nach vielen weiteren Büchern und Erfahrungsberichten war mir klar, dass dort mein Sohn beschrieben wurde.
Hilfe und Unterstützung hatte ich durch niemanden, ganz im Gegenteil – unser Hausarzt winkte ab und sagte, ich wolle doch wohl meinem Sohn keinen Stempel aufdrücken und der Logopäde meinte, damit müsse man sehr vorsichtig sein… warum auch immer, denn: wenn die Diagnose stimmen sollte, braucht er Hilfe und wenn es nicht so sein sollte, dann ist es doch gut…
Schließlich erreichte ich eine Voruntersuchung im Autismuszentrum, die zwar den Verdacht bestätigten, aber keine Diagnosen stellen dürfen. Das Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) war dafür zuständig, bei dem wir dann auch vorstellig wurden.
Leider hatte unser SPZ keine Ahnung von Autismus und war komplett überfordert und die Zusammenarbeit war sehr mühselig und nervenaufreibend für mich. Meinen Sohn haben sie nur einmal gesehen und gehört (absoluter Meltdown) und alles weitere habe ich telefonisch mit denen besprochen, um meinen Sohn zu schützen.
Deren abschließende Diagnose „Verdacht auf atypischen Autismus“ wollte ich so nicht akzeptieren, da ich durch eigenes Studium von Auffälligkeiten und Merkmalen von den verschiedenen Autismusformen zu der festen Ansicht gekommen war, dass mein Sohn „frühkindlicher Autist“ ist.
Eine Kinder- und Jugendpsychiaterin, die sich auf Autismus spezialisiert hat, stellte dann nach neun für meinen Sohn sehr angenehmen, spielerischen ambulanten Untersuchungsterminen die Diagnose „frühkindlicher Autismus (HFA)“.
Der Hausarzt war sprachlos, der Logopäde ebenso und das war es dann, an Unterstützung durch Ärzte und Fachkräfte. Seitdem besucht mein Sohn regelmäßig das Autismuszentrum und in unregelmäßigen Abständen Logopädie und Ergotherapie. Die Hauptthematik liegt in Übungen der Sozialkompetenz.
Wie macht sich der Autismus in Eurem Leben bemerkbar? Welche Probleme hat Dein Sohn?
Der Autismus macht sich in fast jedem Augenblick unseres Lebens bemerkbar, da eben nichts so geht, wie es normalerweise gehen würde. Das fängt an bei Anziehsachen und geht weiter über Nahrung, Essen, Ritualen, nicht-rausgehen-wollen bzw. können, Angst und Panik bei mehreren Menschen/Kindern/Gruppen, keine Veränderung ertragen können , Haaren, Fußnägel, Fingernägel, Hygiene allgemein, anderer Becher, anderer Löffel etc. Schlafprobleme und große Einschlafprobleme, früher ganz niedrige Frustrationsgrenze, eigene Spielregeln, früher nonverbal mit eigener erfundener Sprache mit Wutanfällen, wenn ich ihn nicht schnell genug verstanden habe, Deutsch sprechen erst mit ca. sechs Jahren, Hartnäckigkeit bei seinen Interessen, Widerstand gegen alles, was nicht sein Interesse ist.
Hypersensibilität in sämtlichen Lebensbereichen. Ablehnen von Hilfsmitteln wie Kopfhörer etc. Sehr große schwankende Emotionalität. Sehr empfindlich gegen z.B. Kritik oder Hinweisen. Äußerungen von Fremden, die nicht eindeutig freundlich sind, bringen ihn zum Weinen und Fortgehen.
Welche Stärken hat er? Was macht ihn besonders liebenswert?
Er ist sehr ehrlich und direkt. Er ist offen, aber total verschlossen, wenn er etwas oder jemanden nicht mag. Er ist sehr instinktorientiert. Er ist sehr sozial und inzwischen auch sehr empathisch. Er ist sehr humorvoll und anhänglich. Er hat das schönste Strahlen und Lachen der Welt, wenn er sich über etwas freut.
Er ist ein Tierflüsterer. Er liebt die Tiere und die Tiere lieben ihn.
Er ist sehr sportlich und vielseitig interessiert, aber nur an den Dingen, bei denen er nicht mit anderen Fremden zusammen interagieren muss. Er ist sehr intelligent und merkt sich bei Computerspielen oder Konsolenspielen alles, was er braucht, ohne dass er schon lesen und schreiben könnte.
Er hat inzwischen gelernt nicht aufzugeben, sondern es solange zu versuchen, bis es klappt und wenn nicht, dass die Welt deshalb auch nicht untergeht.
Inzwischen kann man mit ihm verhandeln und Veränderungen sind möglich, was viele Jahre lang unvorstellbar war.
In welche Schule geht Dein Sohn?
Er geht offiziell in eine Förderschule, die er aber nur zwei Wochen lang mit einer sehr netten Schulbegleitung besucht hat für täglich zwei Stunden. Danach ging nichts mehr. Es waren verschiedene Faktoren, wie dass die anderen Kinder gegessen und sich danach nicht die Hände gewaschen und ihn dann angefasst haben (Kleidung musste ich dann wegwerfen), wie die Lautstärke auch in einer kleinen Gruppe etc.
Am Schlimmsten war aber der Vertrauensbruch, den er erlebte, dass die Erwachsenen ihre Versprechen nicht einhielten ihm gegenüber.
Seitdem er nicht mehr in die Schule zu bekommen ist, bekommt er einmal wöchentlich eineinhalb Stunden Hausunterricht. Mehr Kapazitäten hat die Schule zu meinem Leidwesen nicht frei. Ich versuche, meinen Sohn selber soweit zu unterrichten, wie es eben geht. Das ist nicht einfach, aber das hat ja auch niemand versprochen.
Wie geht es Dir als Mutter? Hat sich Dein sehr Leben verändert?
Mein Leben hat sich zu hunder Prozent verändert seit dem Tag als ich ihn aus dem Kindergarten nahm und der anschließenden Diagnose.
Ich habe meinen Beruf aufgegeben und kümmere mich seitdem selbst Tag und Nacht um meinen Sohn. Beruf, Sozialkontakte, Freunde, Hobbies, Lebensgewohnheiten etc. das hat sich alles geändert.
Am Schlimmsten war sicherlich das Unverständnis und die Besserwisserei von anderen nd die absolute Ratlosigkeit, wie es denn anders/besser werden könnte von allen und dieses: „bei mir würde er damit nicht durchkommen…“ ausgesprochen oder und gedacht…
Was wünschst Du Dir von Deinen Mitmenschen?
Ich wünschte mir mehr Verständnis, Interesse, keine Besserwisserei, kleine Nachfragen wie es uns geht, konkrete Hilfe anbieten, wie Kidsitten, soweit Sympathie besteht, auf einen Kaffee vorbeikommen, das Schicksal teilen statt zu ignorieren, Unternehmungen zu machen, auch wenn man manchmal abbrechen muss oder es nicht hinschafft, ernst genommen zu werden, nicht belächelt zu werden, keine abwertenden Kommentare, kein hinterm Rücken reden.
Was ist Dir sonst noch wichtig zu sagen?
Ich wünschte mir mehr kompetente Hilfe, sowohl bei dem ganzen Papierkram für Anträge bei den Behörden etc., sobald der Verdacht auf Autismus besteht, als auch mehr persönlichen Beistand und auch ganz praktische Lebenstipps für Eltern von Autisten, gerade am Anfang… Es hat nicht jeder Zeit oder Gelegenheit Bücher und Erfahrungsberichte zu wälzen etc.
Mehr kompetente Ansprechpartner wünsche ich allen Eltern. Das hätte mir früher sehr geholfen. Gab es aber nicht…
Jetzt wünsche ich mir verständnisvolle, kompetente, nicht halsstarrige Gesprächspartner (a la: „das haben wir schon immer so gemacht…“) über Schulbelange, Therapien etc., aber das ist oft nur ein frommer Wunsch. Ich wünschte, ich müsste nicht immer wieder erklären müssen, wieso althergebrachte Methoden bei meinem Sohn auf Granit, Ablehnung und Rückzug stoßen.
Meinem Sohn wünsche ich, dass er einfach so weiter macht wie bisher und dabei einfach großartig ist!! Da kann sich manch Nicht-Autist eine Scheibe abschneiden, wie man so schön sagt…
PS: an alle Eltern mit kleinen autistischen Kindern hab ich noch eine Nachricht: „Es wird besser!!!“
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Danke, liebe Bea,
Dir und Deinem großartigen Sohnemann alles, alles Gute! :-)
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Zum Weiterlesen:
Wie wir unser Leben den Bedürfnissen unseres Kindes anpassten – und nicht umgekehrt
Sandra über ihren autistischen Sohn Paul: „Ich empfinde eine irre große Liebe zu ihm“
Ich möchte deinen Wunsch teilen … mehr Verständnis für die Individualität und Entwicklung jedes einzelnen im Spektrum … weg davon wie Autismus sich zu zeigen hat hin zum Blick auf das ganzheitliche
Wunderbar geschrieben! Ich kann mich mit meinen zwei frühkindlichen Autisten zu 200% einfühlen. Unser Leben ist für alle, die es nicht tagtäglich 24 Stunden mit leben, nicht zu verstehen. Ratschläge, Tipps und Erziehungsweisheiten sind unnötig und verursachen nur noch mehr Selbstzweifel … eine tägliche Achterbahnfahrt im Dunkeln – man weiß nie vorher ob es aufwärts oder abwärts geht.
Herzlichen Dank für deine Offenheit – so fühle ich mich nicht so alleine.
Genauso habe ich es auch erlebt, es gibt so viele Dinge die genauso sind wie sie es beschriebt. Danke das wir nicht alleine sind und wir dieses hier immer wieder efahren dürfen. Das gibt Kraft weiter für unser „tolles Wunder“ zu kämpfen“. Danke
Sehr schön geschrieben :-)
Bei uns ist es ähnlich, mein Sohn ( 12 Jahre ) hat auch frühkindlichen Autismus und einen tiefgreifenden Entwicklungsrückstand hat auch seine eigene Sprache, er hat seine 2-3 Buchstaben die er verwendet um seine Worte zu bilden. Die restlichen Buchstaben sind für ihn sehr schwer auszusprechen. Wenn man nicht gleich versteht, ist er schnell genervt und das macht mich auch sehr traurig. Er bekommt seit vielen Jahren Logopädie aber es wird nur mäßig besser. Verständnis ist selbst in der Familie nur sehr schwer. Ständig Ratschläge zu bekommen obwohl sie ihn vielleicht 2-3 mal im Jahr sehen, nerven mich vollkommen. Ich war schon manchmal am Ende meiner Kraft aber es ist mein Kind und ich werde für Ihn immer wie eine Löwin kämpfen. Wenn andere Kinder sich über ihn lustig machen weil er in ihren Augen ( komisch spricht ) kommt von mir immer irgendwas zurück. Das Schlimmste, was mir richtig weh tut ist, dass mein Sohn den Kontakt zu anderen Kindern sucht und mit Ihnen spricht aber er jedes Mal Ablehnung erfährt.
Was ich ganz fantastisch finde ist, das er sich an den kleinen Dingen des Lebens erfreut. Er bastelt und dekoriert unwahrscheinlich gern, liebt es in der Natur zu sein. Was besseres gibt es für ihn nicht. Das macht mich sehr glücklich. Der Weg bis hier hin war sehr schwer aber es kann wirklich nur besser werden.
Sorry, das der Text so lang gwerden ist aber ich bin sehr froh hier Gleichgesinnte gefunden zu haben. :-)
Ganz toll geschrieben! Teilweise so, als schreibst du über uns. Meiner ist atypischer Autist und ich habe 1,5 Jahre für eine Diagnose gekämpft. Das größte Problem war, dass er jeden anschaut und dann schon nicht mehr als Autist war genommen wurde. Alles andere drum herum wurde ignoriert! :-(