Physiotherapie und Autismus – wie kann eine Zusammenarbeit gelingen, wie kann man sich körperlich annähern und Vertrauen zueinander aufbauen?
Ein kleiner Rückblick, Erfahrungsbericht und Interview mit Niklas´ Therapeuten Marco Kraus:
Niklas bekommt eigentlich schon immer Physiotherapie. Anfangs in der Frühförderung, später in der Schule und inzwischen seit ein paar Jahren in einer Praxis. Sein Physiotherapeut ist 27 Jahre alt und heißt Marco. Seinen Pappenheimer Niklas kennt er inzwischen schon ziemlich gut.
Marco erzählt mir, dass er in der Ausbildung zum Physiotherapeuten eigentlich nicht wirklich auf die Behandlung behinderter Kinder vorbereitet wurde. Durch seine Zivildienstzeit in einer Klinik und Praktika in der Kinderklinik hatte er punktuell auch mit Kindern zu tun, die entwicklungsverzögert waren, einen Herzfehler hatten oder an Krebs erkrankt waren. Das sei aber eher Zufall gewesen und in der Ausbildung, in der man lernt, wie die „normale“ Entwicklung eines Kindes verläuft, nicht explizit vorgesehen.
„Ich sehe es als Vorteil, dass ich in meiner Ausbildung schon mit entwicklungsverzögerten Kindern zu tun hatte, weil ich dadurch viele Erfahrungen sammeln konnte“, meint Marco. „Neurologische Behandlungsformen für den frühkindlichen Bereich haben wir nur angerissen. Es wäre eigentlich schon wichtig, mehr darüber zu erfahren. Aber wenn man sich dafür interessiert, muss man sich nach der Ausbildung gezielt weiterbilden.“
Bevor Marco begann, mit Niklas zu arbeiten, hatte er keinen Kontakt zu Autisten. Er wurde ins sprichwörtliche „kalte Wasser“ geworfen und kann sich noch gut an den ersten Termin mit Niklas erinnern.
„Ihr habt am Eingang auf mich gewartet und Niklas war es zu hell, wie ich später gelernt habe. Er hat zur Seite geguckt, mich nicht angeschaut.“
Marco erzählt, dass er das erstmal nicht deuten konnte, inzwischen aber weiß, dass es einer Reizüberflutung gleich kam: neuer Termin, neuer Raum, neuer Therapeut, helles Licht. Kein Wunder, dass Niklas da erstmal keine Augen und Ohren für ihn hatte.
„Ich musste Niklas über andere Sinnesorgane erreichen.“
Die Gewöhnung an die neue Umgebung und ihn als Therapeuten dauerte einige Monate. Marco hatte immer das Gefühl, dass Niklas ihn versteht und auch deutliche Reaktionen zeigt. Also ließ er nicht locker.
„Am Anfang habe ich immer überlegt, wie ich an den Kerl rankommen kann, wie ich es schaffen kann, dass er gern zu mir kommt und sich gern von mir behandeln lässt. Irgendwann hatten wir dann die Therapiestunde, in der wir die Liege zu einem Musikinstrument umfunktionierten und mit den Seilen Töne machten. Und ab da hatte ich Zugang zu ihm.“
Marco erzählt, wie ihm bewusst wurde, dass er Niklas über andere Sinnesorgane erreichen muss und so wurden in die Therapiestunden musikalische Einlagen und vor allem Niklas´ geliebte Pupsspielchen integriert. Wenn er seine „Zaubergebärde“ macht und auf einen Gegenstand zeigt, dann stinkt dieser ganz entsetzlich. Marco ließ sich auf diese Spielchen ein, gewann nach und nach das Wohlwollen und das Vertrauen seines autistischen Patienten und ließ seine physiotherapeutische Behandlung spielerisch in diese Stunden einfließen. Er sagt rückblickend:
„Am Anfang hatte ich immer einen Plan im Kopf, mit dem man z.B. eine Fehlstellung behandeln muss. Aber ich lernte, dass ich auf einer anderen Ebene anfangen muss.“
Physiotherapie als Hausbesuch
Irgendwann gingen wir dazu über, dass Marco Niklas zuhause besucht. In der Praxis gibt es zu viele Reize, die ihn ablenken und zuhause ist er entspannter.
„Bei Hausbesuchen fühlt er sich wohler. Man kann sich an Niklas besser anpassen. Und man muss keine Rücksicht auf andere Patienten nehmen, wenn es doch mal lauter wird“, meint Marco.
Inzwischen haben sich die beiden sehr gut kennengelernt und Marco erzählt schmunzelnd von Niklas´ schelmischer Schadenfreude. „Wenn bei anderen auch mal was nicht klappt, man zum Beispiel stolpert, freut er sich. Da kann er ja wirklich herzhaft lachen. Und überhaupt freut sich Niklas über Sachen, die für andere ganz normal sind.“
Da die beiden ein gutes Team geworden sind, können wir uns als Eltern aus den Therapiestunden nach und nach zurückziehen. Marco meint, dass es am Anfang sehr wichtig war, dass eine Vertrauensperson für Niklas in den Stunden dabei war und auch, dass wir sein Verhalten und die Gebärden übersetzten. Inzwischen reicht es bei den Hausbesuchen aus, wenn wir einfach irgendwo im Haus sind. Niklas und Marco kommen sehr gut ohne uns zurecht, wir nehmen kaum noch Einfluss, greifen selten ein und lassen Niklas weitgehend selbst mit Marco seine Therapiestunde gestalten.
„Und das ist auch gut so“, meint Marco „so wichtig die Vermittlerrolle anfangs war, so wichtig ist es jetzt, dass Niklas das alleine schafft.“
Dabei spielt auch die Gebärdensprache eine Rolle, denn Marco hat inzwischen natürlich ein paar Gebärden gelernt und kann mit Niklas ohne unsere elterliche Hilfe kommunizieren.
Tipps für Eltern
An dieser Stelle knüpfen auch seine Tipps für Eltern an:
„Es ist gut, wenn man als Therapeut am Anfang viele Informationen bekommt. Wenn dann eine Vertrauensbasis geschaffen wurde, ist es gut, dass Eltern sich zurückziehen, besser draußen warten oder sich selbst in der Zeit vielleicht mit einer Massage etwas Gutes tun.“
Marco erklärt noch, dass es manchmal ein bisschen schwierig ist zu entscheiden, inwieweit man als Therapeut dem Kind auch mal einen stärkeren Impuls geben darf, es z.B. liebevoll packt und mit in einen anderen Raum nimmt. Das ist ein Wechselspiel zwischen Therapeut und Kind, dem Eltern Vertrauen entgegenbringen sollten, sofern das Kind positiv darauf reagiert.
Tipps für Kollegen
Ich fragte Marco nach Tipps für Kollegen, die möglicherweise vor der Aufgabe stehen, ein autistisches Kind zu behandeln. Ich führe seine Anregungen hier stichpunktartig auf:
- ruhig in die Situation hineingehen
- keinen festen Plan haben
- flexibel sein
- sich seiner eigenen Lautstärke beim Sprechen bewusst sein
- aufmerksam für andere Geräusch- und auch Lichtquellen sein
- den Raum ggf. anpassen: Irritierendes aufräumen, Licht dimmen
- Wartezeit kurz halten oder gleich bei Ankunft das Warten in einem Behandlungszimmer ermöglichen
- Empfangskräfte schulen, auf die Besonderheiten hinweisen
- herausfinden, welche Sinneskanäle ein „Türöffner“ sein könnten
- davon ausgehen, dass das Kind alles versteht, normal mit ihm sprechen
„Niklas spiegelt mein Empfinden“
Berührt bin ich schließlich von Marcos Ausführung zu Niklas´ empathischen Fähigkeiten. „Niklas kann sich gut in Leute reinfühlen. Er merkt genau, in welcher Stimmung ich zu ihm komme. Wenn ich reinkomme und nicht bei der Sache bin, kriegt er das mit und dann hat er selbst auch nicht so viel Lust.“
Marco erzählt, dass er den Weg zu seinem Hausbesuch bei Niklas deshalb bewusst nutzt, um sich auf ihn einzustellen.
Für mich ist dieser Hinweis sehr besonders, denn Marco ist für mich immer gleich nett, ein ausgeglichener junger Mann, der gerne zu Niklas kommt. Aber Niklas scheint Stimmungsunterschiede zu spüren.
Ich bin beeindruckt und frage nach, was er aus der Arbeit mit Niklas für seinen Job mitnehmen kann.
„Niklas spiegelt mein Empfinden“, sagt Marco. „Ich mache mir inzwischen auch bei anderen Patienten bewusster, welche Stimmung ich transportiere.“
Natürlich gibt es auch mal Therapiestunden, in denen nicht so viel Therapeutisches möglich ist. „Aber das ist nicht so schlimm“, meint Marco, „wichtig ist die Beziehung, die wir zueinander aufgebaut haben. Und wenn er mal eine Verletzung haben sollte, die behandelt werden muss, dann können wir daran anknüpfen.“
Marco Kraus wurde als Jugendlicher nach einer Verletzung selbst physiotherapeutisch behandelt und war damals von der Persönlichkeit und der Kompetenz des Therapeuten so beeindruckt, dass er das erste Mal den Wunsch verspürte, selbst in diesem Beruf zu arbeiten.
Nach Fachabitur und Zivildienst im Krankenhaus ließ er sich zum Physiotherapeuten ausbilden.
Eine Fortbildung zum Thema „Lymphdrainage“ und eine bald abgeschlossene Ausbildung im Bereich „Manuelle Therapie“ kamen dazu.
Im nächsten Jahr startet er zusätzlich eine Ausbildung zum Heilpraktiker.
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Meine Tochter ist Physiotherapeutin. Während des Studiums hatte sie die Möglichkeit, ein Praktikum bei Menschen mit Autismus zu absolvieren. Es war eine sehr bereichernde Erfahrung für sie und die Patienten.
Super geschriebener und informativer Artikel :-). In diesen Blog werde ich mich noch richtig einlesen
Ich finde es beeindruckend, wie Marco seine Herangehensweise an die Therapie mit Niklas angepasst hat. Die Integration von Musik und Spiel in die Therapie zeigt, wie wichtig es ist, auf die individuellen Bedürfnisse und Interessen des Patienten einzugehen. Es ist inspirierend zu sehen, wie diese flexible und kreative Herangehensweise dazu beigetragen hat, eine starke therapeutische Beziehung aufzubauen.