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Autismus – eher ein Zuviel als Zuwenig an Gefühlen – der Mythos von der Empathielosigkeit

veröffentlicht von Silke Bauerfeind im Juli 2017


„Ihr Sohn ist ein frühkindlicher Autist wie er im Buche steht“, sagte einst ein Psychiater zu uns Eltern.
Was auch immer er für ein Buch meinte und was genau darin steht, es ist tatsächlich so, dass Niklas, was den Autismus angeht, auffälliger nicht sein könnte. Nach nur wenigen Augenblicken ist jedem klar, dass es sich bei ihm um einen behinderten jungen Menschen handelt.
Das kann ein Vorteil sein, weil niemand jemals davon ausgeht und von ihm erwartet, dass er sich normal zu verhalten habe. Aber es zeigt natürlich auch das Ausmaß seines Hilfe- und Pflegebedarfs.
Das aber nur am Rande, denn an dieser Stelle soll es um etwas anderes gehen.

Der Mythos von der Empathielosigkeit

Neulich meinte jemand zu mir: „Niklas ist ja schon wirklich ein Bilderbuch-Autist“ (schon wieder dieses „Buch“, wenn ich nur wüsste, was die Leute immer mit diesem Buch haben ;-) ), „sicherlich kann er sich deshalb überhaupt nicht in Menschen hineinfühlen, nicht wahr?“

Wumms! Das hatte mal wieder gesessen! Ein gängiges Klischee flog mir um die Ohren (rw) und ich antwortete: „Nein, das ist nicht wahr, im Gegenteil, Niklas ist sehr mitfühlend.“

„Ach sooo? Ich dachte immer…“

„Das ist falsch. Es ist richtig, dass AutistInnen sich oftmals schwer damit tun, eine Situation, eine Reaktion oder einen Gesichtsausdruck ihres Gegenübers richtig zu deuten, und dann entgeht ihnen womöglich auch hin und wieder, dass jemand traurig ist und Zuwendung braucht. Aber wenn man ihnen erklärt, dass und warum jemand traurig ist, dann können sie sich auch einfühlen.“

Mitfühlen im Alltag bei Freunden

Niklas sorgt sich zum Beispiel sehr um seine Mitschüler. Wenn einer krank ist, erzählt er es zuhause per Gebärden und will wissen, wann derjenige wiederkommt und wie es ihm geht. Manchmal soll ich dann unbedingt bei der Familie anrufen und fragen, wie es seinem Schulfreund geht.
Es kam auch schon vor, dass Mitschüler mit dem Krankenwagen abgeholt werden mussten (z.B. wegen eines epileptischen Anfalls) und Niklas seinem Freund nicht von der Seite weichen und sogar mitfahren wollte, damit dieser nicht alleine war. Er beruhigte sich erst, als man ihm versicherte, dass sein Freund nicht alleine sein wird und dass die Mama des Freundes schon losgefahren ist.
Mit einem seiner Mitschüler wartete er so lange in der Schule an dessen Seite bis seine Mama angefahren kam, um ihn wegen Unwohlseins abzuholen.
Er sorgt sich immer sehr um seine Lieben. So auch, als seine Oma und sein Opa im Krankenhaus lagen oder jetzt, da seine Schwester für mehr als ein halbes Jahr wegen eines Auslandssemesters in Südafrika ist.
Manches erfasst er rein intuitiv, indem er die Stimmung um sich herum aufnimmt. Er hat ein gutes Gespür dafür, ob eine entspannte, stressige oder sorgenvolle Atmosphäre herrscht, und das führt dann dazu, dass er zu ergründen versucht, warum das in jenem Moment so ist.

Provozieren als Zeichen von Empathiefähigkeit

Manche fragen mich, warum Niklas denn trotzdem manchmal Dinge tut, die andere ärgern oder gar schmerzen, wenn er z.B. kneift oder an den Haaren zieht. „Weiß er nicht, dass mich das ärgert?“

Doch, klar weiß er das!

Machen das nicht alle Kinder und Teenager – Dinge tun, die das Umfeld und die Eltern ärgern? Sie tun es auf ihre Weise und Niklas eben auf seine, weil er nicht sprechen kann und sein Handlungsrepertoir eingeschränkt ist.
Aber für mich ist es auch ein Zeichen von Empathiefähigkeit, wenn er Dinge tut, die eben erst recht jemanden ärgern: „Ich mache das jetzt, dann ärgert sie sich – weil sie mich auch geärgert hat oder einfach, weil ich gerade Lust dazu habe!“
Er möchte sein Gegenüber ärgern (warum auch immer) und kann sich soweit einfühlen, um genau zu wissen, wie er das erreichen kann.

Eher ein Zuviel als Zuwenig an Gefühlen

weinendes Kindergesicht

Ich beobachte immer wieder, dass es bei Niklas eher ein Zuviel als ein Zuwenig an Gefühlen gibt. Wenn jemand heftig weint, dann ist er so bestürzt, dass er anfängt zu schreien und davon rennt. Er hält es einfach nicht aus. Wenn ich mich dann nach einer gewissen Beruhigungszeit mit ihm darüber unterhalte bzw. gebärde, dann wird deutlich, dass er sich viele Gedanken und große Sorgen macht und nicht etwa weggelaufen ist, weil ihm die Situation des anderen egal wäre.
Es ist eine Art überlaufendes Gefühl gepaart mit Hilflosigkeit, was jetzt zu tun ist und wie man helfen kann. Und ich bin in diesen Momenten froh darüber, dass er uns mit seinen Gebärden so viel mitteilt.

Mit den Gefühlen ist es so, wie auch mit anderen Reizen, an die man automatisch denkt, wenn man von Reizüberflutung spricht: Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Fühlen – das kann alles so intensiv sein, dass es Schmerzen verursacht.
Auch Emotionen können so stark und intensiv sein, dass sie nicht mehr auszuhalten sind und es zu einem sog. Overload, Meltdown und schließlich Shutdown kommen kann. Das wird in diesem Zusammenhang gerne übersehen.

Autismusforschung von Henry Markram

Diese These stützt auch der Hirnforscher Henry Markram, der selbst einen autistischen Sohn hat. Markram spricht daher von einem „Intense World Syndrom“.
Er geht auf Basis seiner neurowissenschaftlichen Forschungen von einer Überempfindlichkeit des Gehirns bei AutistInnen aus. Diese Überempfindlichkeit zeige sich sehr individuell und könne zum Beispiel eine schnellere und intensivere Aufnahme von Reizen bedeuten. Manche AutistInnen speichern entsprechende Situationen im Detail besonders gut ab, so dass bestimmt Personen oder Orte fest mit Emotionen verknüpft werden und manchmal auch nachhaltig bleiben. Nach Markram entsteht dadurch ein individuelles neuronales Muster, das manches Verhalten erklärt.

Das Problem ist also nicht das vermeintliche „Sich-nicht-einfühlen-können“, sondern ein „Zu-viel-fühlen“ und „sich-davor-schützen-wollen-und-müssen“.
Der Rückzug und das vermeintliche soziale Desinteresse sind demnach nicht per se angeborene Eigenschaften von AutistInnen, sondern die Folge aus negativen Erfahrungen im Bereich der Reizüberflutung und dem natürlichen Drang, sich davor zu schützen.

***

Mir ist natürlich bewusst, dass meine Schilderungen unseren persönlichen Erfahrungen und dem, was mir erzählt wird, und dem, was ich beobachte, entspringen. Bestimmt gibt es auch andere Erfahrungen und Meinungen zum Thema.
Ganz klar kann man meiner Ansicht nach jedoch festhalten, dass es keine pauschale Aussage geben kann, nach der AutistInnen als empathielos bezeichnet werden.
Eher im Gegenteil.

***

Zum Weiterlesen:
Overload, Meltdown, Shutdown – was ist das?

häufige Vorurteile und Missverständnisse

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wer hier schreibt

Silke Bauerfeind

Gründerin von Ellas Blog (2013), Buch- und Kurs-Autorin, Kulturwissenschaftlerin, psychologische Beraterin, Referentin. 

"Ich verbinde persönliche Erfahrung mit Wissen rund um Autismus, Teilhabe und Familienrealität. Mein Schwerpunkt liegt auf Autismus mit hohem Pflege- und Unterstützungsbedarf – Themen, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft zu kurz kommen"

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