Es dauert unterschiedlich lange (einige begreifen es leider nie) bis manche verstehen, dass es sich bei Autismus nicht um etwas handelt, was dem jeweiligen Menschen übergestülpt wurde und das man wieder abziehen könnte (rw). Ebenso wenig ist Autismus etwas, das man wie eine Krankheit mit Medikamenten, Diäten oder gar Operationen heilen könnte.
Autismus duchdringt die Persönlichkeit eines jeden Autisten – ohne Autismus wäre sie nicht, wer sie ist – ohne Autismus wäre er nicht, wer er ist.
Verständlicherweise legen AutistInnen darauf großen Wert, denn der Autismus ist Teil ihrer Identität. Manche bringen dies zum Ausdruck, indem sie sagen, stolz auf ihren Autismus zu sein.
Mit diesen Äußerungen hatte ich bislang immer Probleme, denn wie will man stolz auf etwas sein, das man nicht geleistet hat? Autisten sind Autisten, ohne dass sie das irgendwie herbeigeführt hätten.
Je mehr ich mich jedoch damit befasste, desto besser verstand ich, dass „stolz“ in diesem Zusammenhang nicht mehr und nicht weniger bedeutet, als sich offen und bewusst zu einer Gruppe zu bekennen – in diesem Fall eben die Zugehörigkeit zu anderen Menschen mit Autismus. Und das wiederum ist vollkommen nachvollziehbar.
Die Autistic-Pride-Bewegung
So zeigt sich die besondere Identifikation mit einer Gruppe auch in der Autistic-Pride-Bewegung (vgl.: engl. „pride“= stolz). Seit 2005 wird jährlich am 18. Juni der Autistic-Pride-Day gefeiert.
Das Anliegen der hier engagierten AutistInnen liegt darin, dass sie in ihrem Anderssein akzeptiert werden und Neurodiversität als Bereicherung und nicht als etwas gesehen wird, was angepasst oder geheilt werden müsste.
Mit der Bezeichnung „pride“ steht man hier in der Tradition des Kampfes Homosexueller gegen die Pathologisierung ihrer sexuellen Neigung und gegen gesellschaftliche Ausgrenzung. Die „gay pride“- und „queer pride“-Bewegungen, die einige Jahrzehnte zurückliegend ihren Anfang nahmen, erzielten entsprechende Erfolge. Hieran möchten Autistinnen und Autisten, die für Gleichberechtigung kämpfen, gerne anknüpfen.
Stolz als Teil der eigenen Integrität
Im Grunde geht es also darum, Selbstakzeptanz und Selbstachtung zum Ausdruck zu bringen und dafür den Respekt und die Achtung anderer einzufordern.
Zusätzlich ist es ratsam, sich auch immer wieder selbst zu reflektieren – ob neurotypisch oder autistisch. Vielleicht können die folgenden Fragen dazu anregen:
- Zu welcher Gruppe bekenne ich mich bewusst / bewusst nicht mehr?
- Von wem möchte ich mich distanzieren?
- Wo bin ich berechtigt stolz, weil ich etwas Tolles geschafft habe?
- Wo erwarte ich zu viel Lob von anderen und laufe Gefahr, dass ich als arrogant wahrgenommen werde?
- Wo werde ich in dem, was ich auch für andere geleistet habe, nicht wahrgenommen und darf zu Recht mehr Anerkennung von anderen erwarten?
- Was kann ich besonders gut und womit habe ich Schwierigkeiten?
- Habe ich Schwierigkeiten, meine Schwächen zu akzeptieren?
- Gibt es Menschen, die mich ständig verändern wollen? Will ich das oder bin ich im Grunde zufrieden mit mir?
- Wer hat mich in meiner Selbstachtung verletzt und von wem erwarte ich eine Entschuldigung?
- Habe ich die Grenzen eines anderen überschritten, ihn aus überzogenem Selbstwertgefühl verletzt und sollte mich bei ihm entschuldigen?
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Die eigene Persönlichkeit stärken
Sich mit der eigenen Integrität zu beschäftigen und sich dieser bewusst zu werden, kann dabei helfen, übertriebene Demut, Bescheidenheit, Unsicherheit und Komplexe bis hin zum Selbsthass zu überwinden.
Nicht selten muss man sich dafür auch von Menschen lösen, die genau dieses positive „Selbst-Bewusstein“ unterdrücken wollen und es gewohnt sind, andere Menschen zu manipulieren und zu instrumentalisieren. Das ist nicht einfach und bedarf manchmal therapeutischer Hilfe.
Sich daran zu gewöhnen, Verhaltensweisen und Denkmuster regelmäßig zu reflektieren, stärkt die eigene Persönlichkeit, steigert das Selbstwertgefühl, das Vertrauen in die Verlässlichkeit eigener Entscheidungen und das Bewusstein der eigenen Würde.
Dieser kleine Ausflug in die Auseinandersetzung mit dem Begriff Stolz im Zusammenhang mit Autismus hat mir als neurotypische Mutter noch einmal klar gemacht, wie wichtig es ist, sich selbst treu zu bleiben – ob autistisch oder neurotypisch spielt dabei keine Rolle.
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Die Autistic-Pride-Bewegung leistet wertvolle Arbeit, für mich selbst spreche ich aber lieber von autistischer Würde oder Selbstachtung. Der Begriff „Stolz“ hat im Deutschen (mit dem englischen Wort „pride“ mag das anders sein) immer so einen Beigeschmack von Koketterie und Überheblichkeit, weshalb ich mich schwer tue damit.
Dieses schwierige Thema haben Sie in Ihrem Blog-Beitrag sehr treffend auf den Punkt gebracht und ich schließe mich Ihren Schlussfolgerungen gern an. Auch, wenn ich für mich selbst in Anspruch nehme, als „U-Boot“ in der neurotypischen Welt unterwegs zu sein und das auch nicht mehr ändern zu wollen.