Interview mit Verena Brandt: „Autismus darf nicht als Krankheit gesehen werden.“

veröffentlicht im November 2017


Foto von Verena
©Verena Brandt

Verena gab mir ein äußerst interessantes Interview über ihre vielfältige Arbeit mit AutistInnen. Unter anderem plädiert sie dafür, dass Autismus als Teil der Persönlichkeit eines Menschen gesehen und der Blick auf die Ressourcen gerichtet werden sollte.

Liebe Verena, Du bist Erziehungswissenschaftlerin, Systemische Erlebnispädagogin und Systemische Beraterin. Kannst Du bitte kurz erklären, wie sich diese Tätigkeiten voneinander unterscheiden bzw. wie sie sich ergänzen?

Als Erziehungswissenschaftlerin ist es eigentlich meine „Berufung“, in der Wissenschaft zu arbeiten. Aber das habe ich bisher nie getan. Ich hatte bisher immer Stellen als Sozialpädagogin, v.a. auch, weil mir die rein wissenschaftliche Arbeit wohl zu eindimensional wäre. Ich habe einfach den Drang, rauszugehen und die Menschen zu treffen, mit denen sich meine Arbeit befasst.

Die Idee zur systemischen Erlebnispädagogin kam mir, da ich gerne draußen bin in der Natur und auch gerade dabei war, mich beruflich zu verändern. Ich wusste nur nicht so recht, in welche Richtung. Während dieser Ausbildung habe ich meine „Liebe“ zur systemischen Arbeit entdeckt und mich in dieser Sichtweise wiedergefunden. So war es klar, dass ich, mit etwas Zeit dazwischen, die Ausbildung zur systemischen Beraterin absolvieren würde.
Dabei habe ich den Konstruktivismus kennengelernt, also die Ansicht, dass jeder Mensch seine eigene Realität durch das, was er erlebt hat, kreiert. Es gibt also die einzige Realität nicht. Das war ein Schlüsselerlebnis für mich und hilft mir in meiner heutigen Arbeit sehr weiter.
Ich habe gelernt, nicht über Menschen zu urteilen, bzw. ihr Leben auf Grundlage meines Verständnisses von richtig und falsch umzumodellieren, sondern die Lebensumstände und Sichtweisen anderer als deren ErLeben anzuerkennen und damit zu arbeiten.
Die lösungsfokussierte systemische Arbeit ist da sehr wichtig, diese besagt, dass die Lösung in dem Menschen liegt, der mit einem Anliegen an mich als Berater herantritt. Ich kann ihm keine meiner Lösungen präsentieren, sondern erarbeite mit ihm im Gespräch nach und nach eigene Lösungsstrategien, die können manchmal auch dann ganz unkonventionell ausfallen ;-) Hauptsache, sie funktionieren für diese Person.

Diese drei Ausbildungsbereiche liegen also nah beieinander. Das Studium hat mir die Möglichkeit gegeben, überhaupt auf dieser Ebene zu arbeiten, der systemische Erlebnispädagoge hat mich als Person reifen lassen und die systemische Beraterausbildung hat diesen Reifeprozess auf meine jetzige berufliche Ebene transformiert.

Das klingt toll und sehr schlüssig.

Unter anderem hast Du im Autismuszentrum in Wien gearbeitet. Was war dort Deine Aufgabe?

Ich habe dort in der Tagesstätte gearbeitet, meist mit Menschen, die stark von ihrem Autismus betroffen waren und zum Teil auch geistig und oder psychisch beeinträchtigt waren. Diese Arbeit hat meine Liebe für das Themenfeld Autismus wachsen lassen.

Die Arbeit in der Tagesstätte war stark strukturiert und beinhaltete viele Komponenten von Lese-, Schreib- und Rechentraining über Sport, Sozialtrainings und Ausflügen.

Zum anderen Teil leitete ich eine WG mit vier Personen mit Autismus. Da ich aus dem stationären Bereich komme, war es mir ein Anliegen ein wenig den familiären Aspekt, den solche Wohngruppen oft haben, nicht zu verlieren. Dort waren dann eben auch die Tätigkeiten vorherrschend, die im Alltag so anfallen. Von Hausaufgabenbetreuung bis Wäsche waschen war alles dabei.
Im Mittelpunkt stand dort die Förderung der Selbstständigkeit hin zu einem möglichst autonomen Leben.

Dann warst Du noch im Franziskuswerk Schönbrunn. Wofür warst Du dort zuständig?

Dort habe ich wieder klassisch stationär gearbeitet. Man ist dort als Mitarbeiter in zwei Wohngruppen, die zu einem Verbund zusammengeschlossen sind, tätig.
Ich war dort im Haus Immanuel tätig, ein Haus, in dem vier Wohngruppen für erwachsene Menschen mit Autismus beherbergt sind.
Es gibt dort ebenfalls zwei Intensivgruppen für Personen, welche wesentlich stärkere Strukturen brauchen, um sich zu orientieren und Halt zu finden. Die Arbeit dort beinhaltete sowohl pflegerische Aspekte, wie aber auch die oben genannten.
Zudem habe ich dort mit meiner damaligen Bezugsklientin angefangen, systemische Beratungsgespräche zu führen, damals hatte ich mit der Ausbildung gerade begonnen.

Aktuell betreust Du in München Asperger-Autisten im Betreuten Wohnen. Wie kann man sich Deine Tätigkeit dort vorstellen?

Ich habe sieben Klienten und eine WG. Die Menschen dort leben in einer eigenen Wohnung und sind im Großen und Ganzen dazu in der Lage, ihren Haushalt selbstständig zu führen. Einmal in der Woche habe ich dann mit ihnen Einzeltermine, die ganz unterschiedlich ausfallen: von Beratungsgesprächen zu Anliegen, die diese Personen haben, über Behördenangelegenheiten, Begleitung beim Einkaufen, Moderation bei Gesprächen und Konflikten in Ausbildung und Beruf, Begleitung bei Krisen etc.
Der Klient bestimmt, was stattfindet.

In meiner WG geht es zudem um das Erlernen von Miteinander in einer Wohngemeinschaft. Das ist teilweise eine große Herausforderung für die Bewohner, wenn man seinen eigenen Strukturen nicht immer ohne Störungen folgen kann. Einmal wöchentlich setzen wir uns alle zusammen und besprechen dann die wichtigsten Dinge oder es werden auch manchmal Konflikte von mir moderiert, die die Bewohner untereinander nicht komplett klären konnten.

Du hast schon mit vielen verschiedenen AutistInnen aus dem Spektrum zusammgengearbeitet bzw. diese betreut – hochfunktionale aber auch Autisten mit zusätzlicher geistiger Behinderung. Gibt es einen gemeinsamen Nenner, den Du bei allen wiedererkennst?

Ja, die Liebe für Struktur und Bekanntes. Aber das kenne ich von vielen Menschen, auch ohne Autismus. Ansonsten ist jeder Mensch und damit auch die Ausprägung seines Autismus sehr unterschiedlich. Individuell eben.

Was sind Deiner Meinung nach die größten Herausforderungen für AutistInnen in unserer Gesellschaft?

Wahrscheinlich die ungeschriebenen Gesetze und Regeln zu verstehen, die oft nur existieren, weil Dinge schon immer so gemacht wurden, egal, ob das einen Sinn macht oder nicht.
Das zwischenmenschliche Miteinander, das oft unklare Situationen hervorbringt, die auf viele unterschiedliche Arten interpretiert werden können.
Die Hektik und das „Gewussel“ unserer Zeit, versinnbildlicht durch eine U-Bahnstation zur Rush Hour. Die permanente Reizüberflutung, v.a. in Städten ist kaum auszuhalten.

Was muss sich verändern, damit AutistInnen barrierefrei leben können?

Autismus darf nicht als Krankheit gesehen werden. Das Problem, den Blick nur auf Defizite zu richten, sehe ich aber unabhängig vom Thema Autismus generell in unserer Gesellschaft, ob psychische oder physische Beeinträchtigungen, andere Herkunft oder Sexualität oder andere „Andersartigkeiten“. Die Gesellschaft richtet ihren Blick leider gerne auf Defizite und mögliche Risiken, anstatt die Stärken anzuerkennen und Vielfalt zu leben.
Das Augenmerk sollte auf die Ressourcen gerichtet werden und die Stärken anerkannt werden.

Was würdest Du KollegInnen mit auf den Weg geben wollen, die ganz am Anfang und vor der Aufgabe stehen, AutistInnen zu versorgen, zu betreuen oder zu begleiten?

Den Autist nicht als Mensch mit einer autistischen Störung zu sehen, sondern den Autismus als Teil des Ganzen anzuerkennen, als einen Art Charakterzug. Der Autismus muss nicht geheilt werden, sondern die Person sollte einfach gut damit leben können und ihn als Teil von sich akzeptieren können.
Ansonsten kurz und knapp: anerkennend offen für alles sein.

Hat Dich die Arbeit mit AutistInnen persönlich geprägt?

Ganz klar, die veränderte Wahrnehmung, also die unkonventionelle Sicht auf Dinge, die „Wir“ als gesetzt und normal sehen. Ich reflektiere den Autismus gerne mal als Metaebene zu unserem vergesellschafteten Leben mit allen Regeln und Gesetzen und „das macht man eben so“. Es ist immer wieder ein Erwachen aus dem Alltäglichen, das uns umgibt, wenn Dinge auch ganz anders gesehen werden können und das mit einem geteilt wird.
Ich habe dadurch gelernt, viel mehr zu hinterfragen.

Ist Dir sonst noch etwas wichtig zu sagen?

Danke für die Einladung zu diesem Interview :-)

Sehr gerne – Deine Ausführungen sind wirklich interessant und so reflektiert. Wenn ich mit Menschen wir Dir zu tun habe, wächst das Vertrauen in eine Zukunft, in der mein eigener Sohn einmal gut im „betreuten Wohnen“ versorgt und begleitet werden wird.
Danke Dir und alles Gute :-)

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