Am 23. September ist der Internationale Tag der Gebärdensprachen. Für uns ist das kein abstrakter Gedenktag, sondern etwas sehr Persönliches. Ohne die Gebärdensprache wäre unser Leben heute nicht das, was es ist.

Unser Weg begann, als Niklas im Kindergarten eigene Zeichen erfand, um sich mitzuteilen, eine Art Geheimsprache, die nur er und ein paar Eingeweihte verstanden. Für uns war das das Signal: Er will kommunizieren, er sucht sich seinen Weg. Also entschieden wir, diese Chance zu nutzen und auf eine Sprache zu setzen, die nicht nur wir, sondern auch andere Menschen verstehen können: die Deutsche Gebärdensprache.
Ich belegte Kurse, brachte Niklas die ersten Gebärden bei und band Erzieherinnen und später auch Lehrkräfte mit ein. Anfangs war das alles improvisiert, es dauerte lange bis Niklas gezeigte Gebärden imitierte, unser Gebärdenwortschatz wuchs anfangs lansam, aber dann nahm alles Fahrt auf und wir blieben einfach unbeirrt dran.
Ab der sechsten Klasse bekamen wir Unterstützung durch Schulbegleiterinnen mit Gebärdensprachkompetenz – ein Meilenstein und das Lernen neuer Gebärden klappte immer besser.
–> Autismus und Gebärdensprache – wie alles begann
Heute gebärden wir seit vielen Jahren. Perfekte DGS ist das natürlich nicht, wir verwenden Schlüsselwörter bzw. gebärden die Wörter, die wir sprechen ohne DGS-Grammatik.
Und doch ist das Ergebnis unglaublich bereichernd: Niklas kann abstrakte Begriffe verwenden, Gefühle und Sorgen ausdrücken, Witze machen und im Alltag ganz selbstverständlich mitreden. Gebärden sind für uns keine Nebensache, sondern der Schlüssel zu Teilhabe und Lebensqualität.
Hier ein paar Beispiele:
Menschen mit einem ganz eigenen Gebärdennamen
Ein besonders schöner Aspekt: Niklas vergibt eigene Gebärdennamen an Menschen, die ihm wichtig sind. Wer so einen Namen bekommt, freut sich riesig, denn es ist ein Zeichen von Nähe, Zugehörigkeit und Beziehung. Das macht Begegnungen persönlicher und schafft sofort eine Verbindung.
Das ist übrigens allgemein der Fall, dass jede Person einen Gebärdennamen bekommt, die etwas Typisches ausdrückt.
Auch der Hausarzt gebärdet mit
Inzwischen begleiten Gebärden sogar unsere Arztbesuche. Unser Hausarzt hat sich darauf eingelassen und nutzt einfache Gebärden, wenn er mit Niklas spricht. Das wirkt beruhigend, baut Vertrauen auf und gibt Niklas die Sicherheit, dass er ernst genommen wird.
Für uns Eltern bedeutet das auch: weniger Stress im Praxisalltag, weil wir sehen, dass Kommunikation möglich ist, auch in Situationen, die sonst oft angespannt sind.
Auf diese Weise kann Niklas inzwischen auch ganz gut zeigen, wo etwas schmerzt und manchmal gebärdet er den Namen des Arztest + Anrufen und dann wissen wir, dass er wohl einen Arztbesuch braucht.
Mehr Selbständigkeit durch Gebärden
Gebärden machen Niklas unabhängiger. Er kann Wünsche äußern, Bedürfnisse klarer benennen und uns mitteilen, was ihm wichtig ist. Das gibt ihm nicht nur Selbstbestimmung, sondern nimmt uns als Familie auch viele Unsicherheiten. Statt zu raten, können wir fragen und er kann antworten.
Diese Möglichkeit, sich verständlich zu machen, ist ein Riesenschritt in Richtung Selbständigkeit, da auch seine Assitentinnen und Assistenten für den Bereich Wohnen, Freizeit und Arbeit die Gebärden lernen. Das Schöne daran: das macht allen sehr viel Spaß!
Lebensqualität und Humor
Gebärdensprache ist bei uns nicht nur Mittel zum Zweck. Sie ist ein verbindendes Element, das unseren Alltag leichter und oft auch lustiger macht. Niklas liebt es, Witze zu machen, und viele davon funktionieren nur über Gebärden. Der Humor in unserer Familie hat dadurch eine ganz eigene Färbung bekommen, schräg, herzlich und sehr lebendig.
Diese Mischung aus Kommunikation, Humor und gemeinsamen Momenten ist Lebensqualität pur und sie verbindet mit den Menschen, die Niklas begleiten. Sie zeigt uns jeden Tag: Gebärdensprache ist nicht nur ein Hilfsmittel, sondern eine Bereicherung für unser ganzes Leben.
Vorurteile widerlegt
Immer wieder höre ich Sätze wie:
- „Autistinnen und Autisten können nicht gebärden, weil sie keinen Blickkontakt halten.“
- „Gebärdensprache geht nicht, weil man dafür Mimik benötigt.“
- „Das ist zu kompliziert. Nonverbale Autisten kommunizieren über Bildkarten“
Unsere Erfahrung zeigt: Das stimmt nicht. Niklas nimmt viel über peripheres Sehen wahr, gebärdet häufig Dinge nach, die er scheinbar gar nicht gesehen haben konnte. Und er schaut inzwischen von sich aus häufiger auf die Hände und ins Gesicht, weil er weiß, dass Kommunikation lohnt.
Auch die Mimik, die zur offiziellen Gebärdensprache absolut dazugehört, ist in der Form nicht notwendig, um unsere Kommunikation zu gestalten.
Natürlich ist Gebärdensprache nicht für jede Familie die passende Lösung. Aber sie sollte viel mehr Kindern und Jugendlichen angeboten werden. Nicht als Pflicht, sondern als Möglichkeit, die den Alltag nachhaltig verändern kann.
Dabei geht es nicht darum, etwas perfekt zu lernen, sondern mehr Verständnis und Lebensqualität zu erreichen.
–> Tipps für das Fördern von Gebärdensprache im Alltag
Haltung statt Instrument
Wenn mich andere Eltern fragen, sage ich immer: Gebärden sind kein Instrument, sondern eine Haltung.
Es geht nicht darum, ein paar Vokabeln zu lernen. Es geht darum, als Familie gemeinsam einen neuen Kommunikationsweg zu beschreiten. Mit Geduld, mit Freude und mit der Bereitschaft, sich auf etwas Neues einzulassen.
Workshops und Austausch
Weil ich weiß, wie wertvoll der Austausch über dieses Thema ist und wie wichtig es ist, dass „der Funke erstmal überspringt“, biete ich immer wieder Online-Workshops zur Gebärdensprache an – in Kooperation mit Vereinen oder auch direkt über meinen Blog.
Die Termine kündige ich regelmäßig in meinem Newsletter an. Wenn du magst, trag dich dort ein, dann erfährst du rechtzeitig, wann der nächste Workshop startet.
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