Johanna über ihre Masterarbeit zum Thema Autismus: Der diagnostische Prozess aus Sicht der Eltern

veröffentlicht im Juni 2021


Johanna hatte mich auf der Suche nach InterviewpartnerInnen für ihre Masterarbeit vor einigen Monaten angeschrieben. Gerne unterstützte ich sie dabei und freue mich, dass sie tatsächlich GesprächspartnerInnen gewinnen konnte. Danke euch bei der Mithilfe für Johannas wertvolle Arbeit.
Ihre Masterarbeit ist inzwischen abgeschlossen und Johanna war so lieb, eine kleine Zusammenfassung für die Leserinnen und Leser von Ellas Blog zu schreiben.

Gastbeitrag von Johanna Chong Kan:

Kurz zu mir: Ich studierte an der Humboldt-Universität zu Berlin Rehabilitationspädagogik sowohl im Bachelor als auch Master. Seit 2016 war ich als Einzelfallhilfe tätig und habe in Familien mit autistischen Kindern gearbeitet. Zudem habe ich mein Pflichtpraktikum für den Bachelor in einem Autismus-Therapie-Zentrum absolviert.

Das Thema Autismus interessiert mich daher schon länger. Ab Juni 2018 habe ich bis zuletzt eine mir ans Herz gewachsene Familie begleitet und war für die Unterstützung des Sohnes (11 Jahre) dort. Dieser hat eine jüngere Schwester (5 Jahre), welche bereits früh ähnliche Symptome wie ihr Bruder in diesem Alter zeigte. In Gesprächen mit der Mutter wurde deutlich, wie wichtig es ihr war schnellstmöglich die Diagnose zu erhalten, um notwendige Förderungen und Therapiemaßnahmen einzuleiten. Das Prozedere kannte sie ja schließlich schon von ihrem Sohn. Und obwohl sie den Prozess schon einmal durchlaufen musste und genau wusste, was ihre Tochter benötigte, bleibt ihr bis heute eine offizielle Diagnose verwehrt.

Aufgrund dessen entschied ich mich, im Rahmen meiner Masterarbeit diesbezüglich die Erfahrungen anderer Mütter zu erforschen, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten im diagnostischen Prozess ihrer Kinder festzustellen. Zudem sah ich meine Arbeit als eine Vorbereitung aufs Berufsleben, da ich gerne in der Frühförderung arbeiten möchte.

Insgesamt untersuchte ich drei Fragestellungen, nämlich:

  1. Wie gingen Eltern mit ersten Anzeichen um und wie gestaltete sich der Weg zur Diagnose?
  2. Wie erlebten Eltern den diagnostischen Prozess ihres Kindes im Autismus Spektrum?
  3. Welche Bewältigungsstrategien lassen sich bei den Eltern feststellen?

Mein Ziel war es, die elterliche Sicht auf die kindliche Entwicklung herauszustellen und die Bedeutung ihres Einbezugs im diagnostischen Prozess hervorzuheben.

Die Suche nach Interviewpartner*innen gestaltete sich sehr schwierig, was ich in einer so großen Stadt wie Berlin nicht gedacht hätte. Ich habe erfolglos sechs Träger der Eingliederungshilfe angeschrieben, die z. T. auch auf Autismus spezialisiert waren. Selbstverständlich ist hierbei nicht den Trägern die Schuld zuzuschieben, da diese genügend Arbeit haben und auch die pandemische Lage letztes Jahr noch gravierender war.
Aufgrund von Zeitdruck durch mein Abgabedatum entschied ich mich dazu, zwei Mütter aus meinem unmittelbaren Umfeld zu befragen, benötigte jedoch noch weitere Interviews. Durch eine Suchanfrage bei Google („Eltern + Forum + Autismus“) stieß ich schließlich auf die Internetseite von Silke, welche sich dankbarerweise sehr schnell zurückmeldete. Durch das Veröffentlichen meiner Anfrage auf Facebook und im Newsletter meldeten sich mehrere Mütter, sodass ich vier weitere Interviews per Zoom durchführen konnte.

Im Zentrum der Interviews standen demnach insgesamt vier Kinder mit diagnostiziertem frühkindlichen Autismus und drei Kinder mit dem Asperger-Syndrom.

Die Ergebnisse der Interviews zeigen deutlich, dass die Elternperspektive in der Diagnostik zu wenig Berücksichtigung findet.
Außerdem nehmen diagnostische Vorgänge insgesamt zu viel Zeit in Anspruch, die der Förderung der Kinder zugutekommen sollte.
Dies spiegelte sich darin wider, dass Kinder, deren Symptome dem frühkindlichen Autismus entsprachen, im Alter von drei bis sechseinhalb Jahren diagnostiziert wurden, während die Altersspanne beim Asperger-Syndrom von acht bis ungefähr dreizehn Jahren umfasste. Für die berufliche Praxis ergeben sich Implikationen, die einen Paradigmenwechsel hinsichtlich einer Früherkennung des Autismus Spektrums erforderlich machen sowie die Bedeutung einer partnerschaftlichen als auch ressourcenorientierten Diagnostik hervorheben.

Im Rahmen der Interviews war ich als Außenstehende doch sehr überrascht über die langen Wartezeiten für die besorgten Eltern. Dabei berichteten mir mehrere Mütter unabhängig voneinander jeweils vier Monate auf einen Termin bei ihrem örtlichen SPZ gewartet zu haben, welcher auch bei keiner Person zu einem zufriedenstellenden Ergebnis führte.
Auffällig war zudem die Verwendung des Begriffs der „Odyssee“ im Zusammenhang mit dem diagnostischen Prozess, welchen drei Mütter ebenfalls ohne Einwirken meinerseits während der Gespräche zur Beschreibung nutzten.
Die weiteren Verläufe, um zur Diagnose zu gelangen, unterschieden sich teils doch sehr stark und waren durch große Eigeninitiative der Mütter gekennzeichnet.

Durch die Schilderungen der Teilnehmenden ist mir bewusst geworden, dass die vielen diagnostischen Hilfsmittel wie Fragebögen zu unübersichtlich sind, da sie sich sehr ähneln und dadurch eher verwirren. Weiterhin ist ausnahmslos deutlich geworden, dass die Wartelisten für Förderung und Therapien viel zu lang sind, da Kinder besonders in den ersten Lebensjahren eine sehr hohe Lernbereitschaft mit sich bringen, die die weitere Entwicklung maßgeblich beeinflussen kann.
Am bedeutsamsten nehme ich aus meiner Arbeit mit, dass es mehr Verständnis in der Gesellschaft braucht, um auf die Bedürfnisse betroffener Familien einzugehen bzw. diese überhaupt erst einmal in ihrer Situation wahrzunehmen und vor allem anzuerkennen.

Die letzten beiden Fragen beschäftigten sich mit Wünschen der Mütter.
Einerseits, was sie sich im Laufe des Prozesses an Unterstützung gewünscht hätten und andererseits, was sie sich für Eltern, die den Prozess noch vor sich haben oder mittendrin stecken, wünschen würden. Daraus lassen sich meiner Ansicht nach wichtige Perspektiven herauskristallisieren, die mir selbst für meine weitere Arbeit mit Eltern helfen werden und hoffentlich auch anderen Fachpersonen:

  • Unterstützung während des gesamten Prozesses durch eine Fachperson, welche die Eltern begleitet
  • Eltern einen Raum zum Aussprechen von Sorgen bieten, z.B. indem eine extra Sprechstunde bei Kinderarztpraxen für solche Belange eingeführt wird
  • Ernstgenommen werden als Elternteil
  • Eine Art „Kompendium“ mit allen Schritte, auch in Bezug auf Antragsstellungen wie Pflegegraden usw.
  • Eltern generell Gehör schenken, da manche Kinder Symptome überschatten und als nicht gravierend genug angesehen werden
  • Eine ganzheitliche Betrachtung der Kinder (ohne ein bestimmtes Merkmal in den Vordergrund der Untersuchungen zu rücken)
  • Vernetzung unter den Fachpersonen, woraus sich ein anderes, umfassenderes Bild ergeben kann
  • Aufklärung über Autismus, ehrlich mit den Eltern sprechen, damit Vorkehrungen getroffen werden können
  • Psychologische Beratung anbieten, da der Prozess über mehrere Monate geht
  • Unterstützung bei der Suche nach passenden Therapeut*innen und beim Ausfüllen der vielen Formulare

Als Empfehlungen für die Eltern möchte ich gerne drei Punkte einbringen, die mir die Interviewpartnerinnen offenbarten und für wichtig hielten.
Als Erstes wies eine Mutter darauf hin, dass Eltern zunächst Zeit brauchen, um die Situation zu akzeptieren, da vorher keine Unterstützung von außen möglich sein kann.
Als Zweites erklärt wiederum eine andere Mutter, wie bedeutsam der Austausch unter Betroffenen ist. Sie glaubt, dass durch die erzwungene Ausweichung auf digitale Angebote (statt z.B. Elterntreffs) besonders Alleinerziehende profitieren können, da diese sonst von solchen Angeboten ausgeschlossen wären.
Abschließend klagt eine Mutter den von ihr beobachteten negativen Grundton bei Eltern in Foren oder anderen Austauschplattformen an, die die Verantwortung bei außenstehenden Fachpersonen sehen. Sie möchte an die Eigenverantwortung ebendieser appellieren, diese Energie für etwas Sinnvolles zu nutzen und möchte Eltern ermutigen auch positiv über den Autismus ihrer Kinder zu sprechen.

Abschließend möchte ich betonen, dass es sich hierbei natürlich um keine repräsentative Arbeit handelt und ausschließlich das subjektive Empfinden der befragten Mütter wiedergibt. Sie hat mir persönlich allerdings einen sehr guten Einblick in die Alltagswelt von Eltern mit autistischen Kindern geben können, woraus ich viele wertvolle Hinweise ziehen kann, um eine partnerschaftliche Zusammenarbeit auf Augenhöhe gewährleisten zu können.

P.S.: Ihr könnte euch gerne bei Johanna melden, wenn ihr weitere Informationen haben möchtet:
chokanjo@hu-berlin.de

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