Autismus, Vermeidung, Überforderung: Ich erkenne vieles wieder – aber ist es deshalb PDA?

veröffentlicht im Mai 2025


Essay – Eine persönliche Spurensuche zwischen Autismus, Erklärungsmodellen und gelebtem Alltag

„Was denkst du über PDA?“

Ich werde in letzter Zeit häufiger darauf angesprochen. Ob ich etwas zu PDA (Pathological Demand Avoidance) sagen könne, ob ich glaube, dass mein Sohn dieses Verhaltensprofil erfüllt und was ich im Allgemeinen zu diesem Konzept denke.
Vor einiger Zeit hatte ich bereits einen informativen Beitrag zum Thema PDA veröffentlicht, mich dabei aber jeglicher persönlicher Anmerkung enthalten, nun möchte ich aufgrund der vielen Nachfragen und nach der Zeit, die inzwischen vergangen ist, meine Einschätzung schreiben.
Um gleich Missverständnissen vorzubeugen: Ich möchte, kann und will nicht beurteilen, ob PDA eine eigenständige Erklärung bietet oder ob es einfach ein neuer Begriff für Altbekanntes ist (so fühlt es sich für mich an).
Jedes Mal, wenn ich danach gefragt werde, merke ich, dass ich zögere. Nicht, weil ich PDA ablehne oder es für falsch halte, sondern weil ich selbst nicht sicher bin, was ich mit dieser Frage anfangen soll.
In mir ist eher Unentschlossenheit als Überzeugung. Insofern ist dieser Essay eine Einladung in meine Gedankenwelt zu diesem Thema, keine Aufklärung, sondern vielleicht eine Spurensuche auch für dich.

©Silke Bauerfeind, Lofoten, Norwegen

PDA als Hoffnungsschlüssel – und warum ich das verstehe

Ich sehe und erlebe, wie PDA für viele Familien ein Anker ist, endlich ein Erklärungsmodell für Herausforderungen, für die allzuoft die Verantwortung den Eltern in die Schuhe geschoben wird.

Ein Kind, das in der Kita, Schule oder einer anderen Einrichtung zum Beispiel gut „funktioniert“, also sich anpasst, Anforderungen scheinbar mühelos erfüllt, freundlich wirkt, mitmacht, keine Konflikte zeigt und zuhause bei den kleinsten Erwartungen in Stress gerät, sich verweigert, laut wird, weint oder in sich zusammenfällt, stellt Eltern vor große Herausforderungen.
Es fordert emotional, weil man ständig zwischen diesen beiden Polen hin- und hergerissen ist und sich fragt, warum das eigene Kind zuhause so anders ist und ob das eigene Verhalten vielleicht doch eine Rolle spielt. Es fordert organisatorisch, weil jede Übergangssituation, jede Mahlzeit, jede neue Aktivität eine potenzielle Eskalation mit sich bringen könnte, auf die man sich kaum vorbereiten kann.
Und es fordert gesellschaftlich, weil Außenstehende oft nur die „funktionierende“ Seite sehen, das angepasste, scheinbar unkomplizierte Kind im öffentlichen Raum und dann kaum nachvollziehen können, was zuhause tatsächlich passiert, wenn niemand zuschaut und die Anforderungen nicht mehr gefiltert oder überdeckt sind.
Ähnlich erleben es Familien auch bei anderen Gelegenheiten: bei Ausflügen, Familienfesten oder Arztterminen, bei denen das Kind zunächst unauffällig wirkt, freundlich grüßt, sich interessiert zeigt und dann Stunden später in der sicheren Umgebung zuhause in einen Zustand völliger Erschöpfung kippt, als würde die Maske mit einem Schlag fallen. Auch das ist schwer erklärbar für Außenstehende, aber tägliche Realität für viele Familien.

Wenn dann ein Begriff wie PDA auftaucht, wenn man plötzlich Worte für das Verhalten findet, das sich so lange unerklärlich angefühlt hat, kann das entlasten und sogar erleichtern. Denn was PDA im besten Fall anbietet, ist nicht nur eine Erklärung, sondern auch eine neue Haltung: dass das Verhalten des Kindes nicht gegen die Eltern oder andere Bezugspersonen gerichtet ist, sondern aus einem tiefen Bedürfnis nach Selbstschutz heraus entsteht.
Das ist berechtigt und wichtig. Ich kann absolut nachvollziehen, dass viele sich endlich darin gesehen und gut aufgehoben fühlen.

Und doch denke ich: Für uns ist das nicht neu

Wenn ich über PDA lese, über das starke Bedürfnis nach Kontrolle, über das scheinbar manipulative Vermeiden, über das Zusammenbrechen bei Anforderungen, über das ambivalente Verhalten in sozialen Beziehungen, dann ist vieles davon für unsere Familie sehr vertraut.
Allerdings nicht, weil es eine neue Erkenntnis wäre, sondern weil es seit vielen Jahren unser Alltag ist.

Mein Sohn ist frühkindlicher Autist (nach ICD-10) mit hohem Unterstützungs- und Pflegebedarf, ohne gesprochene Sprache und mit sog. hyperkinetischer Begleitkomponente. Seine Reaktionen sind oft intensiv, manchmal schwer lesbar für Außenstehende, aber für uns klar Ausdruck dessen, was zu viel, zu laut, zu schnell und zu nah ist.
Es braucht keine neuen Worte für mich, um zu erkennen, wann sein Nervensystem überflutet ist, wann Reize sich aufschichten und schließlich überlaufen. Er reagiert dann mit sog. herausforderndem (ich sage lieber „Hilfe suchendem“ Verhalten), Rückzug oder mit Meltdown oder Shutdown – eben so, wie es auch in den PDA-Beschreibungen genannt wird.

Ich erkenne diese Muster, aber ich persönlich würde sie nicht PDA nennen. Ich würde sagen: Das ist sein Autismus. Das ist sein Erleben. Das ist seine Art, sich zu schützen. So kenne ich es seit 25 Jahren.
Er vermeidet Anforderungen nicht strategisch, sondern weil er sie einfach nicht verarbeiten kann und sie ihn überfordern.
Mir ist natürlich klar, dass man das auch anders sehen kann und auch das ist völlig in Ordnung.

Einordnungen, die ich nachvollziehen kann, aber nicht übernehme

Autisten mit PDA sind laut vielfältiger Informationen besonders stark von Reizüberflutung betroffen, geraten schnell in einen Zustand von Überforderung, der zu unkontrollierbaren Reaktionen führt wie emotionale Ausbrüche, Aggression und auch Rückzug. Es wird auch gesagt, dass sie Schwierigkeiten haben, soziale Perspektiven zu übernehmen, aber durchaus mitfühlen können, wenn ihnen Gefühle erklärt werden.
Und vieles spricht auch dafür, dass sie oft in Details denken und Probleme damit haben, den Gesamtkontext zu erfassen.

Ich lese das alles und nicke innerlich, weil ich mein Kind in vielem wiedererkenne.
Aber ich denke auch: Das ist sein frühkindlicher Autismus, so wie ich ihn schon immer kenne. Er war schon immer so und es ist auch immer noch so. Das ist keine neue Beobachtung, sondern ein vertrautes Muster, das wir Tag für Tag erleben und begleiten.
Wir hatten kein weiteres Etikett dafür, sondern haben nach und nach gelernt, ihn zu lesen. Wir haben gelernt, wann es kontraproduktiv ist, ihn in einer Krise anzusprechen, wann Strukturen und Regeln Sicherheit geben und wann sie genau das Gegenteil bewirken und wann Nähe gut tut und wann sie zu viel ist.

Was mir wichtig ist: Ich erkenne mein Kind in diesen Beschreibungen wieder, ohne dass ich daraus den Schluss ziehe, er entspreche einem neuen Profil. Für mich ist es Ausdruck seines Autismus, seines Temperaments, seiner Persönlichkeit – einer Persönlichkeit, die nie maskieren konnte.

Wenn Maskieren keine Option ist und was das mit PDA zu tun hat

Ich habe vor einiger Zeit einen Text über das Maskieren geschrieben – darüber, wie sich viele Menschen über Jahre hinweg anpassen, Erwartungen erfüllen, „funktionieren“, dabei lächeln, mitmachen, sich durch den Alltag kämpfen und irgendwann innerlich zerbrechen. Diese Not ist real. Und sie muss gesehen werden.

Mir war aber auch wichtig, dafür zu sensibilisieren, dass es Autistinnen und Autisten gibt, die überhaupt nicht in der Lage sind zu maskieren. Kinder und Erwachsene, die sich nicht anpassen können, auch wenn sie es wollten. Was ist mit ihnen? Über sie wird nur selten gesprochen. Ihre Not ist eigentlich von Anfang an sichtbar und wird dennoch häufig übersehen.
Das sind die Kinder, die schon im Kindergarten auffallen, nicht weil sie etwas falsch machen, sondern weil sie schlicht nicht hineinpassen. Sie können die Anforderungen nicht still ertragen, sondern machen laut sichtbar, dass sie zu viel sind. Sie passen von Anfang an nicht ins System (übrigens auch in die allermeisten inklusiven Systeme nicht), weil sie nie gelernt haben, sich selbst zu verstecken. Dafür haben sie auch überhaupt keine Ressourcen.

Ich frage mich manchmal, ob genau diese Kinder der Teil des autistischen Spektrums sind, der nicht später in einen PDA-Zustand „kippt“, sondern von Anfang an so lebt: in einer ständigen Abwehrhaltung, nicht aus Trotz, sondern aus Überforderung. Das ist ein Zustand, der von außen manchmal wie das aussieht, was heute als PDA beschrieben wird. Er ist aber eben nicht auf eine zerbrechende Maske, sondern auf ein Leben ohne Maske zurückzuführen. Es ist ein Leben, das sich nie anders gezeigt hat.

Vielleicht ist das einer der Gründe, warum ich so zögere, wenn ich über PDA lese, eben weil vieles davon zutrifft, aber nicht, weil es sich um ein neues Verhaltensprofil handelt, sondern weil es einfach die Beschreibung dessen ist, was bei manchen Kindern von Anfang an sichtbar ist.
Das betrifft nicht nur mein Kind. Viele Eltern schreiben mir: „Das ist unser Alltag. Aber wir wussten nicht, dass das einen Namen hat.“ Oder: „Es ist hilfreich, dass darüber gesprochen wird, aber bei uns war das nie anders.“
Diese Kinder brauchen Schutz. Sie brauchen Verständnis – auch ohne dass sie in ein neues Konzept passen.
Und ihre Eltern brauchen Räume, in denen sie gehört werden – auch ohne neue Begriffe, ohne neue Schubladen. Sie brauchen Menschen, die nicht erst dann zuhören, wenn etwas benannt wurde, sondern schon vorher sehen, was ist. Und die anerkennen, dass manche Wege nicht erst durch Worte entstehen – sondern durch das, was Familien seit Jahren leben. Und es braucht deshalb auch dringend das Wissen über Nicht-Maskieren können.

Begleiten, weil es nicht anders geht – nicht, weil es dafür ein Konzept gibt

Wenn ich heute lese, was als hilfreiche Strategie für Kinder mit PDA beschrieben wird – diese Mischung aus Loslassen und gleichzeitigem Haltgeben, aus Flexibilität und liebevoller Klarheit, aus indirekten Bitten, Humor, Aushalten, Zeit lassen – dann spüre ich ein stilles Echo dessen, was wir seit Jahren bereits leben.
Und wir tun das nicht, weil es irgendwo so stand, sondern weil unser Alltag es uns beigebracht hat, weil wir keine andere Wahl hatten, als genau hinzusehen, zuzuhören und zu fühlen, was gerade geht und was eben nicht.

Ich denke oft, dass ich in all den Jahren nicht gelernt habe, wie man pädagogisch handelt, sondern wie man mit einem Kind lebt, das nicht aus einem Plan heraus funktioniert, sondern aus dem Moment.
Mein Sohn konnte mit klassischen Plänen noch nie etwas anfangen, obwohl ich selbst lange geglaubt habe, dass er sie vielleicht eines Tages brauchen würde, und obwohl ich genau solche Dinge immer wieder weitergebe, wenn andere Eltern mich um Orientierung bitten.
Es ist ja auch naheliegend: Struktur soll Sicherheit geben, visuelle Pläne helfen bei der Orientierung, Rituale entlasten.

Und doch war bei uns vieles davon eher Theorie als Hilfe. Wir hatten immer wieder Ansätze mit Bildkarten, mit Ablaufplänen, mit Ritualen. Aber am Ende hat unser Sohn uns gelehrt, dass es kein Lehrbuch für das gibt, was ihm wirklich hilft.
Struktur ist bei uns nur bedingt wichtig. Manchmal sogar hinderlich, wenn sie zu starr ist.
Was hilft, ist das aufmerksame Spüren: Wie viel geht heute? Und in welcher Form?
Was hilft, ist, Wahlmöglichkeiten zu geben, weil die Welt dann erträglicher und selbstbestimmter wird.
Was hilft, ist, im Kontakt zu bleiben, auch wenn es sich manchmal ganz anders anfühlt als erwartet.
Was hilft, ist, das Tempo des Tages nicht zu setzen, sondern es gemeinsam zu finden. Immer wieder neu.

Ich lese heute Konzepte, die das alles systematisch als Strategien, als Modelle und sogar als Akronyme beschreiben (Stichwort PANDA-Strategien). Und ich sehe ihren Wert, besonders für jene, die noch am Anfang stehen oder nach Orientierung suchen.
Aber ich spüre auch: Für viele Familien wie unsere sind diese Konzepte nicht neu. Sie sind das, was unser Kind uns gezeigt hat, eben das, was möglich ist und was nicht.

Ein letzter Gedanke, aber kein Fazit

Ich will PDA nicht bewerten. Ich will nicht entscheiden, ob es berechtigt ist oder nicht. Ich bin mir selbst nicht sicher.
Meine Gedanken teile ich hier, weil ich weiß, dass viele andere Eltern sich ähnlich fühlen und sich unverstanden und nicht gesehen fühlen. Der Essay ist unter anderem für diejenigen unter euch, die mir schreiben: „Ich erkenne mein Kind in alldem wieder, aber was genau soll mir das jetzt sagen? Mit PDA kann ich nicht wirklich was anfangen.“

Wenn dir der Begriff PDA hilft, dein Kind besser zu verstehen oder dich vor anderen zu erklären, dann nutze ihn und leite daraus eine Haltung ab, die es deinem Kind ermöglicht, mehr am Leben teilzuhaben.

Wenn du, wie ich, das Gefühl hast, dass du schon lange mit diesen Herausforderungen lebst und keine neue Bezeichnung dafür brauchst, dann vertrete diesen Standpunkt.

Vielleicht brauchen wir beides: neue Begriffe für die, die sie suchen – und das Vertrauen in gelebtes Wissen für die, die sie nicht mehr brauchen.
Vielleicht muss man nicht alles neu benennen und bewerten, um es zu begleiten.
Vielleicht reicht es, wenn man sieht, was ist – und es hält.
Und sicherlich wäre es für uns alle gut, den Blick für die Komplexität des Autismus-Spektrums zu weiten.

Zum Weiterlesen:
Pathological Demand Avoidance: Zwischen Anerkennung und Skepsis – Hinweise für den Umgang mit PDA

Themenseite: Masking, Stimming und PDA bei Autismus

Zum Anhören:
Wenn du dich gedanklich weiter vertiefen und auch den Zusammenhang zu den Themen Masking und Stimming mit bedenken möchtest, ist der kompakte Audiokurs eine schöne Möglichkeit. Informiere dich gerne per Klick auf das Bild:

Zum Weiterlesen:

KOMMENTARE

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  1. Liebe Silke,
    meine Tochter ist jetzt 9 und sie hat seit ihrem 5. Lebensjahr die Asperger-Diagnose. Kurz nach der Diagnosestellung waren wir in mehreren Selbsthilfegruppen unterwegs und wollten uns austauschen. Die anderen Eltern diskutierten über Nachteilsausgleiche, inklusive Schwimmkurse und Möglichkeiten einer Teilhabeassistenz im Hort/Nachmittagsbetreuung. Danach haben wir uns immer gefragt, warum wir uns selbst hier nicht zugehörig, abgebildet und gesehen fühlen. Nichts davon wäre für unsere Tochter möglich gewesen. Sie konnte von Anfang an nur ein bis maximal zwei Stunden zur Schule gehen und selbst das war zu viel, eine Nachmittagsbetreuung wäre undenkbar. Wir haben einen Schwimmkurs bei der Lebenshilfe versucht, da waren auch andere autistische Kinder und Kinder mit Down-Syndrom. Unsere Tochter hat dort maskiert, hat trotzdem kaum etwas mitgemacht und auch nicht schwimmen gelernt und ist danach regelmäßig zusammengebrochen. Mit gerade 8 Jahren hatte sie ihren ersten autistischen Burnout. Sie konnte monatelang nicht zur Schule gehen, lag nur apathisch auf der Couch und konnte kaum noch etwas essen. Die Wiedereingliederung in die Schule mussten wir irgendwann abbrechen, weil wir erkennen mussten, dass ihr Schule an sich zu viel Stress macht. Die Gleichzeitigkeit von sozialen und kognitiven Anforderungen ist eine unglaubliche Überforderung ihres Nervensystems. Seitdem suchen wir nach einer passenden Schulform. Und leider passen wir auch hier in kein Raster. Keine Regelschule, keine Förderschule, keine private Schule passt zu ihrem Nervensystem, das ein verlässliches 1-zu-1-System zum Lernen bräuchte. Viele Familien werden übrigens genau an diesem Punkt wegen Nicht-Erfüllen der Schulpflicht dem Jugendamt gemeldet (Meldung einer Kindeswohlgefährdung). Wir haben das große Glück eine Kinder- und Jugendpsychiaterin an unserer Seite zu haben, sie sich beim FAPDA zum Thema PDA fortbilden lassen hat und die unsere Tochter teilweise monatelang krankschreibt. Unsere Tochter ist frustriert über die Situation, sie möchte lernen, sie ist das wissensdurstigste Kind, das ich kenne, sie möchte raus mit ihren Freundinnen spielen, sie möchte alles das, was die anderen Kinder in ihrem Alter tun. Aber sie kann es nicht. Sie kann sich nicht anziehen, um rauszugehen, weil jegliche Kleidung auf ihrer Haut unerträglich ist, sie kann nicht in die Schule gehen, weil dort andere Kinder sind, die innerhalb von 5 Minuten ihren Notfallmodus aktivieren, indem sie sich einfach unvorhersehbar verhalten, wie das Kinder nun mal tun und sie kann nicht einmal, obwohl sie gerne würde und es motorisch kann, alleine essen. Jede Mahlzeit reiche ich ihr an, indem ich mich und den Löffel möglichst unsichtbar mache, damit sie am besten gar nicht merkt, dass sie isst, denn sonst kommt ganz schnell die Blockade und das Essen ist wieder vorbei. Sie konnte übrigens schon mit 2 in ganzen Sätzen Geschichten erzählen, aber jetzt mit 9 hat sie Pflegegrad 4 und braucht den ganzen Tag Betreuung und Unterstützung bei allen Dingen des täglichen Lebens.
    Ich habe mittlerweile ein sehr großes Netzwerk an Familien mit Asperger-Kindern und die Bedarfe unterscheiden sich enorm von dem unserer Tochter. Für mich ist sie – ganz klar – Autistin mit PDA-Profil, so steht es übrigens mittlerweile auch in unserem Diagnostik-Bericht.
    Ich habe Ende 2023 eine Selbsthilfegruppe speziell für Eltern von Kindern mit PDA im Raum Südhessen gegründet und kann berichten, dass wir uns das erste Mal verstanden fühlen. Das erste Mal treffen wir Eltern, die die Situationen kennen, die wir erleben, denen wir nicht erklären müssen, wie es ist, wenn man 24/7 für sein Kind da ist, weil es nur diese eine Safe-person akzeptiert und sich von keinem anderen Menschen betreuen lässt. Diese Kinder sind Autisten mit hohem Unterstützungsbedarf, obwohl sie verbal und kognitiv top fit sind. Das Leid wird häufig nur zu Hause sichtbar und man lebt mit der stetigen Angst, dass einem nicht geglaubt wird (was auch oft genug passiert). Wofür wir Familien das Label "PDA" brauchen? Damit wir uns finden können, uns gegenseitig stützen können und das beruhigende Gefühl bekommen: Wir sind nicht allein!

    1. Liebe Theresia, vielen Dank für deinen offenen und ehrlichen Kommentar.
      Deine Zeilen berühren mich, nicht nur wegen der Tiefe der Erfahrungen, die du schilderst, sondern auch, weil sie zeigen, wie wichtig es ist, dass Eltern sich endlich gesehen fühlen mit dem, was oft hinter verschlossenen Türen bleibt.
      Ich finde es toll, dass du eine Selbsthilfegruppe gegründet hast – das ist sehr wertvoll. Gerade wenn das Außen wenig Platz bietet, ist es umso wichtiger, sich gegenseitig zu stützen und teilen zu können, was sonst kaum verstanden wird.
      Dass du mit der Diagnose, dem Profil und dem Begriff PDA eine Form gefunden hast, die euch Orientierung gibt, freut mich sehr. Gerade wenn es um Verbindung, Austausch und um das Gefühl geht: „Wir sind nicht allein.“
      Ich wünsche euch von Herzen, dass ihr weiterhin tragende Netzwerke findet, gute WegbegleiterInnen an eurer Seite habt und dass eure Tochter ihren ganz eigenen Weg in ihrem Tempo und mit ihrer Einzigartigkeit gehen darf.
      LG Silke

  2. Liebe Silke,
    danke für deinen Text, der mich sehr berührt hat. Besonders dein Blick auf die Kinder, die gar nicht erst maskieren können, hat mir eine andere Perspektive eröffnet, eine, die in vielen Diskussionen über Autismus leider untergeht.
    Ich habe selbst ein Kind mit einem sehr hohen Unterstützungsbedarf, das gleichzeitig sehr viel spricht und nach außen hin „kompetent“ wirkt. Gerade deshalb wird oft übersehen, wie tiefgreifend die Überforderung in sozialen Situationen ist.
    Für uns war der Begriff „PDA“ eine erste Erklärung – kein Etikett, das alles löst, aber ein Zugang, um uns mit anderen Eltern auszutauschen, die ähnliche Kämpfe führen.
    Ich finde es unglaublich wichtig, dass wir diese Diskussion nicht in Schubladen führen, sondern so wie du es machst: offen, vielschichtig, mit Raum für Widersprüche. Danke dafür!

    Und danke auch für den Mut, diesen differenzierten Beitrag zu schreiben. Es ist wohltuend, wenn sich endlich auch mal jemand traut, leise Stimmen zu verstärken, ohne die lauten abwerten zu müssen.
    Ich wünsche dir und anderen Eltern, dass eure Kinder, die von Grund auf nicht in der Lage sind zu maskieren, auch gesehen werden.

    Liebe Grüße und Danke für Deine Arbeit
    Anja

    1. Liebe Anja, Danke von Herzen für deine Worte.
      Du bringst so klar auf den Punkt, was mir beim Schreiben wichtig war – dass es nicht darum geht, wer es schwerer hat, sondern darum, überhaupt gesehen zu werden.
      Deine Antwort fühlt sich an wie ein stilles Gespräch auf Augenhöhe. Und ja: wir brauchen manchmal neue Räume. Danke, dass du genau so einen Raum mit deinem Kommentar aufmachst.
      LG Silke

  3. Liebe Silke,
    dein Beitrag hat etwas in mir zum Klingen gebracht, das ich nicht sofort benennen konnte.

    Ich bin Mutter eines Kindes, bei dem viele Anzeichen auf ein sogenanntes PDA-Profil hindeuten. Anfangs war ich erleichtert, dafür endlich einen Begriff zu haben, endlich ein Wort, das erklärt, warum so vieles bei uns anders ist.
    Aber mit der Zeit habe ich gemerkt: Das Label allein hilft mir nicht weiter. Es braucht Räume, in denen auch die Widersprüche Platz haben dürfen, so wie du es in deinem Beitrag ermöglichst.

    Ich spüre, dass du einen ganz eigenen Schmerz sichtbar machst, den von Kindern, die nie maskieren konnten und deshalb oft ausgeschlossen werden, selbst aus den Diskursen über Ausgrenzung.
    Danke, dass du diesen Blick verteidigst, ohne andere auszuschließen. Und danke für deine leisen, klaren Worte, die sich trauen, auf das Unbequeme zu zeigen, ohne laut zu werden.
    Es ist ein seltenes Geschenk, so differenziert über ein Thema lesen zu dürfen, das sonst oft so schnell vereinnahmt wird.
    Alles Liebe für dich und dankeschön
    Julia

    1. Liebe Julia, ganz herzlichen Dank für deinen Kommentar, der nicht bewertet, sondern suchend bleibt.
      Ich spüre, dass du dich wirklich auf meinen Text eingelassen hast. Das ist selten. Und es macht einen Unterschied.
      Ja, es ist ein Geschenk, aber auch ein Wagnis, ein Thema so zu betrachten, dass auch Unsicherheit, Widerspruch und Schmerz darin Platz haben. Danke, dass du dich darauf eingelassen hast.
      LG Silke

  4. Liebe Silke,
    ich danke dir von Herzen für deinen Beitrag. Ich habe beim Lesen so oft genickt. Nicht, weil ich alles genau so erlebt habe, aber weil ich das Grundgefühl kenne: das Gefühl, dass unser Alltag mit einem Kind, das so unmittelbar reagiert, so verletzlich und zugleich so stark ist, oft nicht in den allgemeinen Diskurs passt.

    Mein Sohn spricht nicht. Und doch erzählt er mir täglich so viel mit seinen Gesten, seinem Blick, seinen Stimmungen. Er braucht Unterstützung auf der Toilette, bei der Hygiene, beim Anziehen, beim Essen, einfach bei allem, was Pflege bedeutet. Er maskiert nicht. Und das macht ihn, so denke ich oft, ehrlich und klar, aber auch verletzlicher in einer Welt, die auf Anpassung und Funktionieren ausgerichtet ist.

    Wenn ich von Konzepten wie Masking oder PDA lese, spüre ich manchmal: Auch wir sind gemeint. Und gleichzeitig auch nicht ganz. Es fühlt sich an, als würden wir immer ein bisschen zwischen den Stühlen sitzen, zu komplex, zu individuell, zu schwer greifbar für Schubladen.
    Was mir hilft, ist genau das, was du mit deinem Text anbietest: eine Sprache, die nicht vereinfacht, aber auch nicht urteilt. Die anerkennt, dass manche Kinder einfach nicht anders können, und dass das keine Schwäche ist, sondern eine andere Art zu sein.

    Ich wünsche mir mehr Sichtbarkeit für Kinder wie meinen Sohn. Für Menschen, die nicht protestieren können, aber trotzdem oft im Dauerprotest leben. Die nicht „blockieren“, weil sie trotzig sind, sondern weil alles zu viel ist. Für Kinder, über die man nicht sagt, sie seien ja trotz allem so intelligent und hochbegabt, sondern einfach wie sie sind. Und für Eltern wie uns, die so viel halten und begleiten, ohne Anleitung, aber mit ganzer Kraft.
    Danke, dass du dich genau darum bemühst und so offen schreibst und dabei nicht urteilst.
    Liebe Grüße von Heike

    1. Liebe Heike,
      deine Worte bedeuten mir viel. Ich musste mehrmals schlucken beim Lesen, weil du so klar und echt beschreibst, wie es ist. Diese Mischung aus Liebe, Erschöpfung, Wachsamkeit, Hoffnung und Resignation kenne ich nur zu gut.
      Es tut unendlich gut zu lesen, wenn jemand nicht fragt, warum „das Kind nicht spricht“, sondern stattdessen sagt: „Da ist so viel da, aber eben auf eine andere Weise.“
      Danke, dass du genau das in Worte gefasst hast, was so oft unsichtbar bleibt. Für mich persönlich bedeutet dein Kommentar ein echtes Gefühl von gesehen werden.
      Ich wünsche euch von Herzen Kraft und die kleinen Lichtblicke, die einem durch den Tag helfen.

      Herzliche Grüße,
      Silke

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