Ellas Blog / Blog / Familienleben & Alltag / von Zwängen und anderen Rätseln

von Zwängen und anderen Rätseln

veröffentlicht von Silke Bauerfeind im Juni 2017


Manchmal werde ich gefragt, ob Niklas auch Zwänge hat.
Ja, die hat er, mal mehr, mal weniger. Wenn sie mehr werden, ist es für uns immer ein Indiz dafür, dass in irgendeinem Lebensbereich für ihn etwas gerade nicht stimmt oder er mit sich selbst Probleme hat.
Sicherlich treffen unsere Erfahrungen nicht auf alle Kinder und Jugendlichen zu – es ist an dieser Stelle ein individueller Erfahrungswert, den ich nach all den Jahren so zusammenfassen kann und vielleicht hilft er anderen hier und da ein Stückchen weiter.

***

Als uns klar wurde, was die Zwänge ausdrücken
Es gab eine Extremsituation in Niklas Leben, die für uns deutlich machte, wie sehr Zwänge, Kontrolle und Sicherheit für ihn zusammenhängen.
Er war damals in seelischer Not und es bemerkte zunächst niemand bzw. wurde der wirkliche Grund nicht an uns Eltern herangetragen. Er hatte mit einer Person im außerhäuslichen Umfeld zu tun, die ihn nicht respektierte und die ihm schadete. In dieser Zeit entwickelte er seine stärksten Zwänge: er wollte bestimmen, wer wo sitzt oder steht oder wie ich meine Beine übereinanderzuschlagen oder nebeneinanderzustellen habe, er wollte bestimmen, wer wann etwas isst oder auch nicht isst, wie das Besteck zu liegen hat, wann das Licht aus oder an ist und wer überhaupt etwas sagen darf. Er kontrollierte vor allem mich – seine engste Bezugsperson – um sicherzustellen, dass in diesem Bereich für ihn nichts passiert, nichts wegbricht. Er wollte die Kontrolle behalten, da in einem anderen Lebensbereich Schlimmes für ihn passierte, das noch nicht bemerkt worden war und das ihm Sicherheit nahm.

Ein paar mögliche Gründe für Zwänge
Im geschilderten Fall ging es um physischen und psychischen Druck, der entstanden war. Es kann sich beim Einschleichen von Zwängen aber auch um (für uns vermeintlich) weniger dramatische Ursachen handeln, wie z.B. ein/e neue/r Mitarbeiter/in in der Schule oder im Kindergarten oder Bezugspersonen, die plötzlich nicht mehr da sind oder für eine Weile ausfallen. Es kann auch sein, dass sich Abläufe verändert haben oder ein/e Mitschüler/in schon länger krank ist und sich unsere Kinder Sorgen machen. Vielleicht muss der Schulbus wegen einer Baustelle eine andere Strecke fahren oder ein Familienmitglied ist krank und unsere Kinder sorgen sich.
Manchmal passieren auch mit dem eigenen Körper Dinge, die erst einmal verwirren: wachsen, älter werden, Dinge anders wahrnehmen, sich selbst reflektieren, begreifen, dass man sich anders entwickelt als Gleichaltrige – und dass die Pubertät so einiges ins Wanken bringt, haben wir wohl alle selbst erlebt.

Zwänge entstehen, wenn Kontrolle verloren geht
Zusammengefasst kann ich für unser Zusammenleben mit Niklas sagen, dass Zwänge immer dann verstärkt auftreten, wenn er in einem Lebensbereich Veränderungen und Entwicklungen erfährt, die ihm das Gefühl geben, die Kontrolle zu verlieren. Er merkt, dass er manches nicht beeinflussen kann, dass manche Dinge einfach so passieren, ohne dass er etwas dagegen tun kann. Er verliert damit die für ihn so wichtige Sicherheit – und so versucht er dann in anderen Bereichen, Kontrolle in Form von Zwängen verstärkt auszuleben und damit Sicherheit wiederzuerlangen.

Wir werden daher immer sehr aufmerksam, wenn sich neue Zwänge einschleichen.

Denn es kann ein indirektes Zeichen dafür sein, dass irgendwo etwas aus dem Ruder läuft (rw), dem wir dann versuchen, auf den Grund zu gehen. Es könnte sein, dass es sich um eine Situation oder Entwicklung handelt, in die wir eingreifen oder die wir Niklas erklären müssen. Es kann ein bewusstes Zeichen von Niklas sein, eine Art Hilfeschrei: Mama, Papa, da passt was nicht, helft mir!
Und da er nicht spricht und in schwierigen Situationen auch manchmal die Gebärdensprache zu anstrengend ist, sind wir hier sehr aufmerksam geworden.

In vielen Fällen geben sich die Zwänge von selbst, wenn man die Ursache gefunden hat.
In der extremen Situation, die ich am Anfang schilderte, waren die Zwänge von einem Tag auf den anderen weg, nachdem die betreffende Person aus Niklas´ Leben verschwunden war. Es war unglaublich.
Grundsätzlich ist es also immer sinnvoll, den Grund aufzuspüren und nicht das entsprechende zwanghafte Verhalten kategorisch zu unterbinden.

Wenn Du dem Grund nicht alleine auf die Spur kommst, frage andere Bezugspersonen des Kindes wie Erzieher, Lehrer, Freizeitbetreuer, Busfahrer – manchmal muss man detektivisch vorgehen und sich aus kleinsten Informationen ein Erklärungsmuster erschließen, das jeder Einzelne für sich nicht erkennen kann.

Ich frage manchmal auch eine autistische Freundin, wie sie sich manches Verhalten von Niklas erklärt – auch dazu kann ich nur raten, denn es hilft, die eigene Perspektive zu verlassen und aufgeschlossener und kreativer für Begründungs- und Lösungsansätze zu werden.

Nicht aufgeben – jedes Verhalten hat einen Grund – und unsere Kinder sind glücklich, wenn wir sie verstehen lernen, auch wenn sie es uns nicht immer in einer Art und Weise zeigen, wie wir das sonst gewohnt sind.

Und ich möchte hier keinesfalls bagatellisieren, denn manchmal muss auch professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden, wenn es alleine nicht gelingt, dem Grund auf die Spur zu kommen und mit Zwängen angemessen umzugehen. Nicht jede Situation lässt sich alleine lösen. Therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist manchmal absolut notwendig und wichtig.

Als ich Niklas damals sagte, dass er die betreffende Person nicht mehr wiedersehen muss, sah er mich lange an, stand wortlos auf, nahm mich in den Arm und gebärdete anschließend „Danke“.
Danach waren die damaligen Zwänge weg. Ich werde das niemals vergessen.

Merken

Merken

Merken

Merken

Merken

wer hier schreibt

Silke Bauerfeind

Gründerin von Ellas Blog (2013), Buch- und Kurs-Autorin, Kulturwissenschaftlerin, psychologische Beraterin, Referentin. 

"Ich verbinde persönliche Erfahrung mit Wissen rund um Autismus, Teilhabe und Familienrealität. Mein Schwerpunkt liegt auf Autismus mit hohem Pflege- und Unterstützungsbedarf – Themen, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft zu kurz kommen"

Ellas Blog ist aktuell ein Ort zum Lesen und Mitnehmen. Kommentare sind geschlossen.

Zum Weiterlesen:

Das Forum plus ist der Mitgliederbereich von Ellas Blog

Es ist immer wieder überwältigend, was wir als Eltern autistischer Kinder bedenken, organisieren und verarbeiten müssen. Neben viel Wissen und Erfahrungen, die du hier im Blog findest, ist eine solidarische Gemeinschaft unglaublich hilfreich. Das Forum plus ist ein geschützter Bereich nur für Eltern autistischer Kinder. Hier findest du außer praktischen Tipps viel Verständnis und Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen wie Du.

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner