Stefanie erzählte mir im Interview über ihre autistische Tochter, die von einigen auch „Blätterkind“ genannt wird. Warum das so ist und wie ihr beim Auftreten von Zwängen über den TEACCH-Ansatz Struktur und Sicherheit vermittelt wird, könnt Ihr hier lesen:
Liebe Stefanie, Deine Tochter ist sechs Jahre alt und Autistin. Wann hast Du bemerkt, dass sie anders ist?
Unser großes Mädchen, liebevoll „Blätterkind“ genannt, war rückwirkend betrachtet immer schon etwas anders. Da es aber das erste Kind war, hatte man ja keinen Vergleich. Sie war immer sehr anhänglich, hat sich meistens nur durch Dauerstillen beruhigen lassen, hat teilweise plötzlich bestimmte Personengruppen (z.B. Männer inkl. ihrem Papa) nicht weiter als zwei Meter zu sich rangelassen, hat immer schon sehr strukturiert gespielt (Autos aufgereiht etc.).
Sie war nie richtig neugierig darauf, neue Dinge kennenzulernen, war auch motorisch meist weit hinter anderen Kids zurück (kann auch jetzt z.B. noch nicht Radfahren etc). Sie war aber immer schon sehr sehr einfühlsam, hat oftmals Probleme gespürt, bevor ich überhaupt wusste, dass wir gleich welche haben werden, hatte immer schon einen unglaublichen Blick für kleinste Details und sah sofort z.B. wenn sich in einem Raum etwas verändert hatte (kleine Deko-Kerze umgestellt, anderen Polster etc.). Ihre Aussagen wie „der Raum fühlt sich anders an“ waren für uns alltäglich.
Auch mit gleichaltrigen Kids konnte sie nie etwas anfangen. Sie war immer sehr sehr lieb zu kleineren Babys etc., gespielt hat sie aber wenn dann nur mit größeren Kindern.
Welche genaue Diagnose hat sie und wie war Euer Weg bis zur Diagnosestellung?
Blätterkind hat nun die Diagnose „Autismus Spektrum Störung“ und der Weg bis zur Diagnose war ein sehr sehr langer.
Das Thema „Autismus“ kam zum ersten Mal als Blätterkind vier Jahre alt wurde. Da war ihr plötzlich alles zu laut, zu hell, zu wild etc. Sie wollte nicht mehr in ihre Wichtelgruppe (zwei Vormittage in der Woche) gehen, hat verschiedene Zwänge entwickelt. Sie hat z.B. Steine, Blätter gesammelt, jeglicher Müll durfte nur mehr zuhause weggeschmissen werden, sie konnte sich von nichts mehr trennen und der Höhepunkt war dann, dass sie uns 150 Wörter am Tag gesagt hat, die wir uns merken mussten. Sie hat dabei einfach nur die Wörter abgeändert (-chen am Ende angehängt: Stöckelchen, Bäumchen etc.) Merkte man sich auch nur eins davon nicht, hat sie geweint und geschrien und solche Nervenzusammenbrüche hatte wir am Tag hundert mal.
Da gingen wir dann zum ersten Mal mit ihr zu einer Kinderpsychologin. Ich war damals schwanger mit dem kleinen Bruder und wir haben Blätterkinds Verhalten damals auf die Unsicherheit wegen des Geschwisterchens geschoben. Es wurde dann tatsächlich ruhiger als klein F. auf die Welt kam.
Richtig los ging es aber dann wieder, als Blätterkind in den Kindergarten kam. Da fiel auf, dass sie wirklich anders war. Ich war insgesamt elf Wochen lang (!) mit Säugling mit im Kindergarten bis sich unser Mädchen endlich ein bisschen alleine dortbleiben traute. Sie spielte fast nie mit anderen, hat oft ganze Vormittage lang gezeichnet. Wehe die Routine wurde durchbrochen. Kleinste Änderungen beim Verabschieden (z.B. stand ein Schuh von einem Kind auf ihrem Platz, oder die Gruppe war schon um acht Uhr im Garten statt um elf) hatten einen Schrei- und Weinkrampf inkl. völligem Zusammenbrechen zur Folge. Busfahren, Ausflüge etc, waren auch im zweiten Kindergartenjahr nicht machbar.
Der Kindergarten hat uns dann im zweiten Kiga-Jahr zur Austestung geschickt, ebenso begrüßt wurde das von der Ergotherapeutin und nach einer gefühlten Ewigkeit an Terminen und Fragebogen ausfüllen und Beobachtungen und Gesprächen hatten wir dann heuer im Juni die Diagnose, freuten uns dass „das Kind jetzt einen Namen hat“ und merkten dann, dass wir doch erst ganz am Anfang unserer Reise standen.
Was sind die größten Schwierigkeiten in Eurem Leben?
Als sich unser Blätterkind endlich eingelebt hatte, war der Kindergarten auch schon wieder vorbei und das große Thema Schule (inkl. Wechsel von dem gewohnten Ort) stand zur Debatte. Und zack gingen alle Zwänge etc wieder los. Wir waren wie auf Werkseinstellung zurückgestellt, wie wenn Blätterkind keine Therapien jemals gehabt hätte.
Angefangen hat es heuer im Sommer wieder mit dem Sammeln, Steine, Blätter etc. Plötzlich durfte Essen, das übrig geblieben ist von ihrem Teller nicht mehr in den Bio-Müll. Das „Wo ist das dann? Seh ich das jemals wieder?“ hat sich ausgeweitet auf so ziemlich alles. Bei jedem Klogang musste vom Klopapier die ersten zwei Blätter aufgehoben werden, als wir dann ein so ein tolles Klopapier mit Blümchen hatten, ging Blätterkind am Wochenende nur mehr im Garten aufs Klo, weil sie kann dieses schöne Klopapier nicht im Klo runterspülen. (Lösung von einem sechsjährigen Mädchen: „Kauft mir bitte ein anderes Klopapier, auch kein gelbes, weil das gefällt mir wieder.“)
Gegipfelt hat das Ganze dann beim Start in die Schule. Waren auch wieder sechs lange Wochen, wo ich am Gang saß und dann zwei ganz harte Wochen, wo es nur mit Schreien und dem Reintragen vom Papa ging. Jetzt passt es aber und sie geht super super gerne. Was allerdings immer noch ist, sind diese Zwänge, manche wurden schon ruhiger, andere noch nicht. Blätterkind hat aufgehört, irgendwo hinzufahren. Unser Leben besteht aus Schule, zu Oma und Opa fahren und das wars.
Sie war auch die ersten sechs Schulwochen zuhause nicht mal mehr im Garten, weil einfach so viele Blätter liegen (Herbst, du wirst nicht meine liebste Jahreszeit) und sie weiß, dass sie nicht alle sammeln kann.
Der ganze Alltag mit ihr ist durchstrukturiert, das gibt ihr Sicherheit. Sie würde am liebsten für alles einen Plan machen inkl. Uhr, jegliches Einkaufen etc ist fast schon ein logistischer Aufwand wie in einer Firma.
Für mich ist es außerdem sehr schwierig, da man ihr den Autismus so ja nicht ansieht. Sie ist super lustig ein zuckersüßes bildhübsches Mädchen. Deswegen muss ich ihr Verhalten so oft erklären, vor Freunden / der Gesellschaft etc. Hatten da auch schon einige sehr sehr harte Situationen im Alltag, wo ältere Menschen meinten, dem Kind gehört einfach mal nur gezeigt, wer der Chef ist. Viele interpretieren ihr Schreien und Weinen einfach dann falsch, sehen nicht dass ein Blatt, was sie unbedingt gebraucht hätte, gerade von einem Auto erwischt wurde etc.
Und was fällt Deiner Tochter besonders leicht?
Sie sieht die Schönheit der Natur oder der kleinsten Sachen auf den ersten Blick.
Sie sieht einen einzigen Stein, der aussieht wie ein Herz z.B. beim Vorbeifahren im Auto. Wenn sie mich dann schickt, dass ich ihr diesen Stein bitte hole beim Heimfahren von der Schule, bin ich oft selbst überrascht, wie genau ihre Ortsbeschreibung, wo der Stein liegt, ist, weil sie das meiner Meinung nach gar nicht sehen kann im fahrenden Auto.
Sie findet jedes Blatt wertvoll (deswegen auch „Blätterkind“), sie vergisst nichts, sie weiß zu jedem Blatt oder zu jedem gesammelten Stein den Ort, wo sie es gefunden hat, sie ist super fleißig in der Schule, lernt sehr leicht und ist mit Abstand die süßeste große Schwester für den kleinen F.
Welche Schule besucht Deine Tochter und wie klappt es dort?
Blätterkind besucht eine Kleinstklasse in einer ganz normalen Volksschule in Österreich. Die Kleinstklasse besteht aus sechs Kindern (alle im Autismus-Spektrum, manche auch ADHS dabei) mit insg. zwei Lehrerinnen und einer Sonderpäd. Stützkraft und einem Therapiehund.
Dort ist alles sehr geregelt, sehr viel TEACCH kommt da zum Einsatz und es wird jedes Kind individuell gefördert. Mit meiner Tochter wurde z.B. in den ersten Wochen nicht in den Garten gegangen, weil es aufgrund der vielen Blätter mehr Überforderung für sie gewesen wäre als ein Nutzen.
Vom Lernstoff her ist es aber eine ganz normale Volksschul-Klasse. Unser Mädchen lernt also mit den gleichen Büchern wie jedes andere Kind. Besonders an ihrer Klasse ist aber noch, dass sie schulstufenübergreifend lernen. Zwei der Kinder sind z.B. Schon in der dritten Klasse und einer in der zweiten Klasse. Außerdem sollen sie stundenweise in die Partnerklassen eingegliedert werden, was bei meiner Tochter aufgrund der Zwänge und dem immer noch nicht ganz dort „Angekommen sein“ momentan noch nicht möglich ist.
Was denkst Du, woran es liegt, dass sie immer wieder Zwänge entwickelt?
Wie oben schon beschrieben, hatten wir dieses „Sammeln“ schon ein paar Mal. Wenn eben große Veränderungen aufgetreten sind (Geburt des Bruders, Start des Kindergartens, jetzt Start der Schule). Die Intensität hat sich verändert, es sind dieses mal sehr viel mehr Zwänge dazugekommen bzw. war zum Start der Schule ihr ganzes Denken nur mehr auf die Zwänge ausgerichtet („hab ich eh dieses Blatt dort aufgehoben, hat der Papa eh das nicht weggeschmissen“ etc.) Es wird aber schon wieder ruhiger und ich hoffe, dass wenn sie endlich richtig angekommen ist, so ganz ohne Nachdenken in der Schule, dass die Zwänge dann wie früher wieder aufhören.
Oder dass es bald richtig viel schneit, und die ganzen Blätter endlich weg sind. Sagt sie selbst nämlich auch, dass sie sich schon auf den Winter freut.
Was hilft Deiner Tochter am meisten,um wieder sicherer zu werden und Zwänge abzubauen?
Was ihr sehr viel hilft, ist der TEACCH-Ansatz, der uns nach der Diagnose ans Herz gelegt wurde.
Weiters einfach, wenn wir ruhig bleiben, wenn wir sie so annehmen wie sie ist. Außerdem haben wir Regel-Pläne, gerade um die Sammlerei in Griff zu bekommen. Da steht drauf dass z.B. bei einem Klogang nur mehr zwei Stück Papier mitgenommen werden darf. Oder es darf am Tag nur mehr zehn Stück Plastik aufgehoben werden etc. In den Garten gehen wir mit Stoppuhr: Wenn sie 30 Min schafft, dürfte sie reingehen. Mittlerweile sind wir bei 1,5 Std und sie hat wieder Spaß im eigenen Garten. Spazierengehen etc. ist immer noch nicht möglich leider.
Hast Du ein paar Beispiele aus Eurem Alltag, bei dem der TEACCH-Ansatz Euch hilft?
Also am meisten zum Einsatz kommt bei uns der visuelle Wochenplan. Der wird gemeinsam mit unserem Mädchen am Sonntag vorbereitet. Da wird besprochen, was diese Woche ansteht und das Ganze mit Hilfe von Magnet-Bildern aufbereitet. Das sieht sie sich immer wieder am Tag an, weiß dann genau, was ansteht und somit ist es keine Überraschung und machbar für sie.
Schwierige Situationen wie z.B. das Trennen von der Mama, wenn ich wo hinfahren muss, sind dann mit mehreren Bildern aufgeschlüsselt. (1. Bild: Mama fährt, 2. Bild „Papa-Zeit“, 3. Bild „Mama kommt wieder“ etc.). So weiß sie jeden Schritt, was als nächstes passiert und dann funktionieren auch Trennungssituationen ohne größere Schwierigkeiten.
In der Schule haben sie auch ganz viele solcher Sachen, auch mit Gefühlen/Stimmung, Stempeln etc.
Und jetzt bin ich noch neugierig: wie hast Du Ellas Blog gefunden?
Eigentlich durch dein Buch. Das hab ich im Internet entdeckt, war so sehr auf der Suche nach einem Buch das nicht so wissenschaftlich ist, sondern von jemanden der so wie wir in dieser Situation jetzt ist. Und danach bin ich auf deinen Blog gekommen bzw. auf die Facebook-Seite und ich kann dir gar nicht genug danken. Es war so schön zu lesen, dass es so viele gibt, die solche Situationen kennen – man fühlt sich einfach oft so alleine mit allem.
Was ist Dir sonst noch wichtig zu sagen?
Ich kann jetzt noch gar keinen klugen Ratschlag für Eltern geben, da wir selbst ja noch ganz am Anfang unserer Reise mit unserem besonderen Mäderl stehen. Ich weiß nur, dass diese Reise sich garantiert lohnt. Wenn man es schafft, neben dem ganzen Alltagsstress, den der Autismus mit sich bringt, hinzuschauen und sich in diese Welt ein Stück weit mitnehmen zu lassen, dann sieht man selber auch die kleinen unglaublichen Dinge die täglich rund um uns sind, die wir aber oftmals einfach gar nicht mehr wahrnehmen.
„Everything has beauty, but not everyone can see.“ (Confucius)
Liebe Stefanie, vielen lieben Dank für diesen intensiven Einblick in Euer Leben. Ich sehe Dein „Blätterkind-Mädchen“ fast vor mir und finde sie klasse. Alles Gute für Eure Familie.
Zum Weiterlesen:
Wo ist denn diese Schule in Österrrich? Klingt ja sehr ? toll
Es ist so schön zu lesen wie ihr mit eurem Kind umgeht, Lösungen und Mitstreiter sucht ohne euer Blätterkind zu verbiegen. So wie ihr auf einen schnellen Winter wartet, freuen wir uns wenn der Sommer schnell vorbei geht.
Alles Gute für dich und deine Familie?
Hallo Stefanie
Ich sehe bei deinem Blättermädchen ganz viele Parallelen zu meinem Samuel (10)
Unser Weg ist ähnlich wie eurer.
Samuel geht in die 4. Klasse einer Grundschule i n Deutschland. Schade dass es solch Klassen wie eure nicht bei uns gibt. Würde uns vieles erleichtern und Samuel vieles ersparen.
Ganz liebe Grüße
Melanie
Dochh so was gibt es in Deutschland auch. Muss man aber mit leben können dass das Kind dann auf eine Schule mit Geistigen Schwerpunkt geht.
Mein Sohn (Frühkindlicher Autist) geht auf so eine Schule. Kleine Klasse mit 5 bis 9 Schüler Lehrer und Sonderpädagoge + Azubi und Praktikant. Die arbeiten auch mit Bilder und passen das lernen dem jeweiligen Kind an. Klasse 1 bis 4 gemischt so das die größeren Kinder die kleineren helfen und zeigen können so lernen die Kinder auch untereinander.
Liebe Stefanie. Ich würde mich freuen, wenn wir in Kontakt treten können. Mein Sohn ist auch momentan in der 4. Klasse.
Liebe Grüße, Silke
Meine Email Adresse: sky15069@gmail.com
Hallo….welche praxisorientierten Bücher kann man bzgl Teacch im Kindergarten empfehlen? LG Renate piuk
Wunderschöne Beschreibung, vielen Dank für den Einblick.
Ich wünsche Euch weiterhin viele wunderbare Momente.
Es tut gut zu lesen, wie liebevoll Ihr Euer Kind nehmt, wie sie ist.
Mich wundert immer wieder, welche Entschuldigungen Therapeuten finden, um das auffällige Verhalten unserer Kinder zu erklären. Im Nachhinein gesehen war doch sehr viel sehr auffällig bei unserem Sohn. Aber immer irgendwie erklärbar. Was zu einer sehr späten Diagnosestellung führte.
Vielleicht kann mir das irgendwann jemand erklären.
Mich würde auch interessieren wo diese Schule ist?