Aus dem Interview mit Nicole über das „Autismus Forum Schweiz“ wurde schnell ein vertrautes Gespräch. So viele Gemeinsamkeiten und Parallelen im Denken und Handeln mit unseren beiden Söhnen zu entdecken, war sehr wohltuend und inspirierend.
Nicole gründete vor etwa zehn Jahren das Autismus Forum Schweiz und schaffte damit eine Anlaufstelle für Erfahrungsaustausch, Hilfestellung und ein Netzwerk für Autistinnen, Autisten, deren Angehörige und Fachleute. Sie steht dem dazugehörigen Verein als Präsidentin vor und engagiert sich mit Kampagnen für Aufklärung im Bereich Autismus.
Nicoles Sohn ist Autist, 20 Jahre alt und hat einen hohen Unterstützungsbedarf. „Er spricht, bleibt aber oft stecken im Alltag und bei der Arbeit“, erklärt sie „so braucht er immer wieder Impulse, um weiterzumachen, was er angefangen hat.“
Die Regelschule besuchte er mit einer 1:1-Betreuung bis zur achten Klasse. „Die Qualität der Beschulung hat uns nicht überzeugt, sie war schlecht“, sagt Nicole, „deshalb meldeten wir ihn von der Schule ab und erreichten eine Einzelbeschulung. Das waren zwar nur zwölf Stunden, aber das zusätzliche Rahmenprogramm mit Sport, Chor und anderen Aktivitäten planten wir selbstständig dazu, damit er auch sozial eingebunden war.“
Aktuell wird Jonas in einem dualen System zum Haushaltspraktiker ausgebildet. In der Berufsschule ist er als Hospitant eingeschrieben. Er geht einen Tag pro Woche (Donnerstag) zur Schule. Nicole erklärt:
„An diesem Tag hat er elf Stunden Präsenzzeit, was für ihn ein Kraftakt ist. Davon ruht er sich am Freitag aus. Die anderen Tage arbeitet er (einige Stunden) in der Konfitüren-Manufaktur (Sozialunternehmung www.autpartners.ch), die ich eigens für ihn – und hoffentlich in Zukunft auch für weitere Mitarbeitende mit Autismus – gegründet habe.
Bei uns in der Schweiz braucht es neue Gesetze (subjektorientierte Finanzierung), die es möglich machen, dass Autistinnen und Autisten sich selbstbestimmt eine Arbeitsstelle suchen können und dafür die notwendige Betreuung erhalten.“
Jonas braucht viel Unterstützung und wohnt zuhause. „Das soll auch erstmal so bleiben. Irgendwann wünschen wir uns für ihn eine eigene Wohnung, in der er selbstbestimmt mit Unterstützung leben wird. Auch eine Wohngemeinschaft, z.B. inklusiv mit Studenten, ist denkbar. Aber im Moment geben wir ihm als Familie noch die sichere Grundlage für sein Leben. Damit ist er in alle familiären Prozesse eingebunden und wir auch in sein Leben“, erzählt Nicole. „Er steckt noch mitten im Prozess des Erwachsenwerdens und braucht diese Sicherheit, um sich in den nächsten Jahren weiter entwickeln zu können“
Nicole erzählt, dass ein Zimmer in einer Einrichtung für Jonas eine große Einschränkung von Freiheit und Lebensqualität bedeuten würde. Ausgefeilte Hilfesysteme, in die man sich einfügt, bedeuten doch auch immer Abhängigkeiten. Vorgegebene Strukturen bergen Vor- und Nachteile in sich. „Ich setze mich politisch dafür ein, dass selbstbestimmte Lebensformen besser unterstützt werden“, sagt Nicole.
Unterstützung bekommt die Familie über Assistenzleistungen. „Die zweieinhalb Stunden am Tag sind zu wenig“, sagt Nicole „die restliche Zeit bin ich für ihn da. Dafür habe ich meinen Beruf aufgegeben.“
Die Assistenten stellt Nicole ein, wickelt für sie die Lohnabrechnung ab und erstellt einen Einsatzplan für insgesamt sieben bis neun Unterstützer, die in Teilzeit ihren Sohn bei unterschiedlichen Aktivitäten begleiten. Das ist ähnlich wie in Deutschland die Organisation über das Persönliche Budget.
„Einer geht mit ihm regelmäßig in den Fittnessclub, mit einem anderen besucht er den Markt, andere gehen mit ihm schwimmen oder verrichten Arbeiten bei uns in der Konfitüren-Manufaktur.“ Auf dem Markt werden die Konfitüren von autpartners verkauft. Jonas schaut auf dem Markt gerne zu und zieht sich ins Auto zurück, wenn er Ruhe braucht.
„Außerdem besucht er den Chor. Das bedeutet für Jonas, dass er einfach ein Bad in der Menge nimmt, dabei nicht singt, aber glücklich sein Stimming macht“, erzählt Nicole und ich sehe sie durch´s Telefon schmunzeln.
„Viele Leute sind erstaunt, wie gut Jonas sich in den letzten Jahren entwickelt hat“, freut sich Nicole, „unser Assistenzmodell und sein Beschäftigungsplan mit der Familie als Rückzugs- und Ruheort haben sich bewährt. Wir sind kreativ und gut vernetzt, können individuell auf seine Bedürfnisse eingehen und Aktivitäten für ihn organisieren. Unser ganzes Setting lässt sich natürlich nur aufrecht erhalten, weil mein Mann für uns die Brötchen verdient. Auch ist er es, der mit Jonas den Chor besucht.“
Ich frage Nicole das, was ich selbst häufig gefragt werde: „Was ist, wenn Du diese Organisation nicht mehr leisten kannst?“ Und Nicole antwortet mir etwas, das mich sehr berührt und inspiriert:
„Ich habe viel Vertrauen in die gute Umgebung, in die Menschen, die uns kennen und die uns unterstützen. Sie wissen, wie wir denken. Und wenn ich nicht mehr da bin, dann wird es Menschen geben, die kommen und helfen werden. Ich habe Vertrauen in die Menschen und auch in die Assistenten, die für Jonas da sind. Sie sind überzeugt davon, dass der Weg der richtige ist und sie würden sofort helfen.“
Diese Ruhe, die Nicole trotz ihrer großen Aufgabe ausstrahlt und dieser innere Frieden sind spürbar. Sie sagt: „Früher habe ich mir viele Sorgen gemacht, heute bin ich glücklich, weil wir auf einem guten Weg sind. Ich sehe, wie gut sich Jonas aus der Sicherheit heraus, die wir ihm geben, weiterentwickelt.“
Danke für diesen wunderbaren Einblick in Euer Leben, liebe Nicole, und danke auch für Dein großartiges Engagement, mit dem Du auch anderen hilfst.
Das von Nicole gegründete Autismus Forum Schweiz findet Ihr HIER oder per Klick auf das Logo.
Mir sind die Tränen gekommen. Diese Sicherheit und diese Organisation die die Familie leistet ist berührend. Wow. Das sind Wege die Unterstützung finden sollten, auch für andere Familien die gewillt sind so einen guten Weg zu finden, denke ich dass es mehr Mentoring geben sollte, damit sie dies auch erreichen können…
Nicole und ihre ganze Familie leisten täglich einen enormen Kraftakt für ihren Sohn. Das Ergebnis ist, ein vertrautes Umfeld, in welchem Jonas sich gut entwickeln konnte und kann. Ohne diesen Kraftakt wäre Jonas entwicklungsmässig so zusagen auf der Strecke geblieben. Auf einer Strecke, auf der es kaum eine Entwicklungsmöglichkeit für ihn gegeben hätte. Es ist bedenklich, dass der Staat, der sich zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung nicht nur bekennt sondern gesetzlich verpflichtet ist, nicht willens ist, die Integration angemessen zu fördern und Lösungen anzubieten, welche eine gewisse Selbstbestimmung ermöglichen. Das muss sich ändern!
Das klingt super.
Bei uns sehe ich auch, wenn das Umfeld passt, ist so viel möglich.
Nur für das Umfeld müssen die Eltern kämpfen. Die Eltern suchen nach Lösungen und sorgen für die Umsetzung. Tag für Tag.
In jedem Mensch steckt Potential was sich nutzen lässt. Es muss nur gefunden werden. Aufgrund des Fachkräfte Mangels, wäre es doch eigentlich eine Option, bei jedem Menschen der da ist danach zu suchen.
Unser Kind findet jeden Fehler. Er könnte Unternehmen somit effizienter machen. Nur leider möchten die meisten Menschen nicht auf Fehler angesprochen werden.
Toller Artikel,
er spricht mir direkt aus der Seele.
Selbstbestimmung ist für unsere autistischen Kinder so enorm wichtig. In Deutschland gibt es noch so viele Hürde auf diesem Weg.
Sehr oft wird einfach über die Köpfe von behinderten Menschen entschieden und Ihnen dieses Recht zu entscheiden, wo sie leben möchten genommenen.
Es ist immer noch ein langer Kampf.
Danke für den tollen Artikel
Julia
Was ich hier gelesen habe, gefällt mir sehr gut. Seit einiger Zeit gehen meine Gedanken gür unseren Sohn in eine ähnliche Richtung. Ausschlaggebend war die Erkenntnis, dass Matthias sich trotz wiederkehrender Verhinderungspflege nicht wirklich mit einem Gruppenwohnen anfreunden kann; trotz dass es ihm in dem Zeitraum der Verhinderungspflege durchaus gefällt bkeibt sein Statement: Ich kann dich nicht fpr den Rest meines Lebens ins Wohnheim. Er ist 27 Jahre alt und fühlt sich in seiner Selbstbestimmtheit durch das Gruppenwohnen beschränkt. Lebensqualität bedeutet für ihn, nachts um 22 Uhr noch Tee zu kochen oder laut seine Musik zu hören und dazu auf dem Gymnastikball hüpfend durch sein Zimmer zu tanzen.
Nach der Werkstatt heimkommend seinen Vater fragen : „Und was arbeiten wir heute noch? Hecke schneiden? Ausasten oder Laub saugen? Oder zum Wertstoffhof fahren?“
Auch wenn Matthias in seiner Mitwirkung eingeschränkt ist, ist er mit Feuereifer dabei, sammelt etwa kleines Schnittholz auf.
Diese Lebensqualität möchten wir ihm gerne erhalten. Wir befürchten, dass er sonst einiges an erworbener Handlungskompetenz wieder verlieren wird. Wo ich momentan doch noch so viel Entwicklungspotential darüber hinaus sehe.
Leider sind wir nicht sehr mutig und ob wir uns einen Weg über das persönliche Budget zutrauen ist noch nicht klar. Oder ob ein ambulant betreutes Wohnen möglich ist? Fragen, Fragen, Fragen. Die bleiben erst mal; wir beobachten, hören uns um, sammeln Informationen und Erfahrungen. Ich wünsche mir eine Lösung, die Matthias glücklich macht.
All das begleitet von der nüchternen Erkenntnis, dass wir seine Zukunft am Ende nicht in der Hand haben oder sicher vorsorgen könnten. Und gerade das erleichtert mich zwischendurch sogar leise.
Die Hoffnung bleibt: Der Herr sorgt für die Seinen.
Ich wünsche allen hier alles Gute.
Kerstin