Vor sieben Jahren schrieb ich den folgenden Text. Niklas war damals 16 Jahre alt, er ging noch zur Schule und ich machte mir viele Gedanken darüber, wie die Zukunft aussehen wird.
Inzwischen hat sich viel getan, die Ängste und Sorgen sind wir als Familie aktiv angegangen und gestalten, was gestaltbar ist.
Das heißt freilich nicht, dass es nun keine Sorgen mehr gibt, aber wir haben die Erfahrung gemacht, dass es gut tut und manchmal sogar notwendig ist, Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Aber zunächst meine Gedanken von damals:
wer wird dich zudecken
wenn ich nicht da bin
wer wird sich Zeit nehmen
dich zu verstehen
wer wird dir ein Streicheln schenken
wenn du dich danach sehnst
wer wird dich zu mir bringen
wenn du mich brauchst
wer wird mich lehren
dich ein Stück loszulassen
wer kann mir zeigen
was du wirklich benötigst
wer schützt mich vor der Leere
die einkehren wird
wie kann ich die neue Zeit genießen
ohne mich zu sorgen
Menschen sagen, dass es normal ist. Du musst lernen, damit umzugehen. Er muss seinen eigenen Weg gehen, sich lösen. Du wirst das lernen, das haben andere auch gelernt. Du wirst sehen, dass es das Beste ist.
Sie sprechen von Kindern, die selbstbestimmt durch ihr Leben gehen – nicht von einem Kind, das dann der Hilfe anderer bedarf, Vertrauensvorschuss geben muss, immer und immer wieder enttäuscht aber auch beschenkt werden wird.
Auch das ist normal, mach dir nicht so viele Sorgen, höre ich wieder. Aber ich will es nicht hören. Nicht von diesen Menschen, die nicht wissen, wie es ist, nicht von denen, die professionelle Distanz haben, nicht von denen, die es auch schon so gemacht haben – sogar schon viel früher.
Was sind Floskeln, was normaler Prozess, was ist Egoismus, was natürliche Ablöse? Wann ist es vielleicht Notwendigkeit, weil ich nicht mehr kann? Fragen, Lebensfragen, Lebensabschnittsfragen bis es soweit sein wird, irgendwann, in ein paar Jahren…?
ich möchte es dann von dir hören
von dir lernen
du wirst es mir zeigen
und wir werden einen Weg finden
gemeinsam – indem wir einander auch ein Stück loslassen
mein kleines großes Kind
Wenn ich den Text heute lese, weiß ich und fühle vor allem, das sich vieles geändert hat und manches gleich geblieben ist.
Was ist gleich geblieben?
Die Sorge um Niklas, was sein wird, wenn wir Eltern nicht mehr da sind.
Ich denke, diese Gedanken und Gefühle kennen alle Eltern und vor allem Eltern behinderter Kinder. Ich glaube auch nicht, dass das andere Personen wirklich nachfühlen können. Es ist vom Verstand her nachzuvollziehen, aber nicht nachzufühlen.
Der Trugschluss
Was sich allerdings in all den Jahren als Trugschluss herausgestellt hat, ist zu meinen, dass diese Sorge genommen wird, wenn man zum Beispiel einen Heimplatz zum Wohnen gefunden hat.
Das System hat sich Besorgnis erregend entwickelt. In den letzten Monaten und Jahren habe ich immer wieder überlegt, darüber zu schreiben, wollte aber nicht den Teufel an die Wand malen (rw).
Es entwickelt sich allerdings rasant weiter, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene vor allem mit hohem Betreuungsbedarf und sog. herausfordernden Verhaltensweisen immer öfter keinen Platz in der Kita, in der Schule und auch nicht in Förderstätten, Werkstätten oder besonderen Wohnformen (ehemals Heime) bekommen. Sie binden einerseits zu viel Personal – Personal, das immer weniger vorhanden ist und sie stellen viele Mitarbeitende vor Herausforderungen, die sie nicht meistern können, weil sie nicht entsprechend ausgebildet sind oder nicht die notwendigen Rahmenbedingungen vorfinden, um mit bestimmten Verhaltensweisen umgehen zu können.
Ja, ich weiß, das will niemand hören. Und ich erinnere mich gut an die Zeit zurück, in der ich auch dachte, dass sich nach der Schule Wege auftun werden, auf die wir uns verlassen können. Dann werden wir es geschafft haben, dachte ich. Wir werden tolle Menschen finden, eine wertschätzende Einrichtung, die Niklas dann begleiten wird bis er ein alter Opa ist. Ja, so meine Gedanken damals. Aus heutiger Sicht naiv, aber auch verständlich, da es Kraft gibt, sich diesen Hoffnungen hinzugeben.
Was die Förderstätte angeht, ist es tatsächlich so, dass wir unglaubliches Glück haben mit der Einrichtung und den Menschen, die wir dafür gefunden haben. Niklas wird dort liebevoll begleitet, gefördert und wir erleben eine große Verlässlichkeit.
Das ist außerordentlich und heutzutage leider nicht mehr selbstverständlich, das ist uns sehr bewusst.
Nun kenne ich auch andere Familien, die tatsächlich gute Wege einschlagen, deren Kinder zufrieden sind und auf tolle Menschen treffen. Aber es gibt eben auch immer mehr Familien, die entweder keine Plätze finden (wie gesagt weder in Kita, Schule, noch im Erwachsenenbereich oder Wohnen) oder aus diesen Systemen wieder rausfliegen, weil es „nicht mehr leistbar ist“. Dann heißt es „sie müssen ihr Kind zurücknehmen“ oder „ihr Kind kann nicht mehr mehr kommen“.
Warum Loslassen nicht möglich ist
In dem obigen Text, den ich vor sieben Jahren geschrieben hatte, ist der Gedanke des Loslassens noch sehr präsent. Loslassen müssen, weil das eben der normale Lauf der Dinge sei und das alle Eltern bei ihren Kindern angeblich müssen.
Der Druck, dies angeblich auch tun zu müssen, die Hinweise anderer Personen „du musst dies“, „du solltest das“, es zermürbte mich und machte fast krank. Denn ich will meine Kinder nicht loslassen – alle beide nicht.
Inzwischen konnte ich eine neue Sichtweise dafür entwickeln: ich gebe Raum.
Vor allem was Niklas betrifft, ändert dieses Haltung enorm viel. Es geht nicht darum, ihn abzugeben, andere machen zu lassen, „mein Leben zu genießen“ (wie manche häufig so schlau beizutragen wissen), und Einrichtungen und Personen die Verantwortung zu übertragen.
Nein: es geht darum, den Raum zu öffnen, zu vergrößern, sich ein Netzwerk aufzubauen mit Menschen, die die gleichen Werte teilen und unsere Kinder begleiten. Aber wir sind auch noch in diesem Raum, so dass Distanz und Nähe in unterschiedlicher Ausprägung möglich sind – wann immer es gebraucht wird von beiden Seiten.
Darüber habe ich einen eigenen Beitrag geschrieben, den du HIER nachlesen kannst.
Selbstbestimmung und wie Niklas uns seinen Wunsch zeigte
Oben im Text steht auch, dass ich mir wünschte, dass Niklas uns zeigt, welchen Weg er gehen möchte. Und das tat er.
Zunächst überlegten wir selbst, wie die Alternative zu einem Wohnheim aussehen könnte. Denn darin sahen wir ihn überhaupt nicht mehr: zu viel Reizüberflutung, zu wenige Rückzugsmöglichkeiten, zu geringe Betreuungsschlüssel, zu wenig Selbstbestimmung.
Als Niklas in der Förderstätte begann, bemerkte er, dass einige seiner Kollegen dort auch wohnten und er wurde sehr nervös. Jeden Tag vergewisserte er sich bei uns aufs Neue, ob er auch wirklich abgeholt wird, um wieder nach Hause zu fahren. Er gebärdete, dass er dort nicht wohnen will und lieber seine eigene Wohnung möchte.
Jetzt, da ich den Text von vor sieben Jahren nochmal lese, bemerke ich, dass der Wunsch, er möge uns selbst zeigen, wie er sich seine Zukunft vorstellt, tatsächlich in Erfüllung gegangen ist.
Sein Wunsch und unsere Gedanken gingen Hand in Hand und so bauten wir in einem Stufenmodell seine selbstbestimmte Wohnform auf. Inzwischen haben uns viele Familien angesprochen und Niklas sogar besucht, um zu erfahren, wie das geht und was man beachten muss. Es gibt viele kreative Ideen dazu, es muss kein Einzelwohnen sein, um selbstbestimmter zu leben, es kann auch eine WG sein, vielleicht inklusiv oder mit mehreren Generationen oder oder oder. Der Fantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt, nur muss man seine Recht kennen, um auch umsetzen zu können, was man erreichen möchte.
Was du tun kannst
Ich weiß, es macht ein bisschen Angst, wenn ich schreibe, dass man sich nicht einfach so auf die vorhandenen Strukturen verlassen kann. Ich würde gerne etwas anderes schreiben, aber leider zeigen viele Erfahrungswerte aus meiner ehrenamtlichen Vereinsarbeit, der Einblick in politische Prozesse und die Entwicklungen in vielen Familien mit Kindern jeden Alters, dass es nicht „einfach so läuft“ oder man gar noch an die Hand genommen wird.
An dieser Stelle habe ich drei Tipps für dich:
Informiere dich über deine Rechte.
Dafür habe ich einen Audiokurs erstellt, der dich über das Bundesteilhabegesetz und das Persönliche Budget informiert. Für den Anfang hilft dir dabei der kostenlose Leitfaden von Ellas Blog.
HIER findest du weitere Informationen.
Vernetze dich mit anderen Familien in Selbsthilfegruppen, online oder im Forum plus von Ellas Blog, um dich auszutauschen, Inspiration zu bekommen und Erfahrungen zu teilen.
Hier geht`s zu weiteren Informationen über das Forum +plus+
Informiere dich über selbstbestimmtes Wohnen und das Bundesteilhabegesetz.
Lies weitere Beiträge zum Wohnen hier auf Ellas Blog und tausche Dich mit anderen Familien im Forum plus aus.
Ich wünsche dir, dass du Inspiration und Wissen auf dem Weg, den du für dich und deine Familie wählst, finden wirst.
Aus dem anfänglichen Schrecken und der gefühlten Ohnmacht kann sich auch viel Energie entwickeln, wenn man sich vernetzt und die Zukunft selbst in die Hand nimmt.
Durch das Bundesteilhabegesetz wurde die Selbstbestimmung von Autistinnen, Autisten und deren Familien deutlich gestärkt. Fordere diese Recht, wenn nötig, ein. Es wirkt sich in allen Lebensbereichen aus und muss verbindlich umgesetzt werden. Leider ist im Moment an vielen Stellen noch ein erhebliches Maß an Pionierarbeit dafür erforderlich. Aber es lohnt sich meistens. Ich hoffe, dir dafür etwas Mut und Energie mitgeben zu können.
Beratung und Unterstützung dazu findest du übrigens auch in den EUTBs (ergänzende unabhängige Teilhabeberatung).
Vielleicht sehen oder lesen wir uns dafür bei einem der Angebote auf Ellas Blog. ♥
Liebe Ella,
vielen Dank für Deine Gedanken und Deine Tips. Sie sind sehr hilfreich und wegweisend, sich durch den Dschungel an Informationen zurechtzufinden. Ich teile Deine Gedanken, die Sorge bleibt, auch wenn man in kleinen Schritten etwas bewegt. Loslassen ist nur punktuell möglich. Deshalb ist für mich meine eigene Selbstfürsorge immer wichtiger geworden sowie meine Berufstätigkeit.
Mein Sohn ist auch Autist, er hat den Weg ins Berufsleben auf dem 1. Arbeitsmarkt geschafft. Jedoch wird er es nicht alleine schaffen und wird immer auf die Hilfe seiner Familie angewiesen sein. Deshalb überlegen wir, ob es nicht bessere Lösungen für ihn gibt. Das Thema Wohnen ist noch in den Anfängen, deshalb lese ich gerne Deine Beiträge dazu.
Ich bin in dem Thema „autist@work“ engagiert. Wenn es bei Dir passt, können wir uns ja mal darüber austauschen.
In diesem Sinne meine besten Wünsche für Dich und Deine Familie.
Anke
WOW- liebe Silke – du sprichst mir mit jedem einzelnen Wort so aus der Seele… DANKE für dein Wirken!