Interview mit Kristina Meyer-Estorf: „Richtige Aufklärung und Diagnosen bei Autismus und ADHS sind wichtig.“

veröffentlicht im November 2019


Mit Kristina Meyer-Estorf unterhielt mich fast zwei Stunden lang am Telefon. Sie erzählte mir so viel aus ihrem Leben und über ihre Arbeit, dass es gar nicht so einfach ist, dies in einem Blogbeitrag zusammenzufassen.
Was mir besonders im Gedächtnis bleibt, ist ihre Herzlichkeit, ihr Humor und ihre Offenheit, wenn es darum geht, neue Wege zu beschreiten und das Beste aus Situationen zu machen.

©Foto von René Sievert: Kristina und ihr Hund Jack

Man kann nicht genug darüber aufklären, dass Autismus und ADHS keine psychischen Störungen sind, „sondern eine andere Art des Funktionierens in unserer Gesellschaft“, so Kristina.
Als selbständige Unternehmerin aus Hamburg erzählt sie mir, wie sie „aus ihrer autistischen Konstitution“, wie sie es selber nennt, mit hohem Durchhaltevermögen in dieser Gesellschaft eine Stärke machte. „Gerade Aufklärung über die Besonderheiten bei unauffällig wirkenden und sozial angepassten AutistInnen ist sehr wichtig“, betont Kristina.

Kristina bekam erst mit 23 Jahren, ihre Autismus-Diagnose. Sie beschreibt: „Hinzu kommt eine ruhige (hypoaktive) Form der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung. Mein Leben war eine Achterbahnfahrt….“
Als Kind war sie bereits motorisch auffällig gewesen, lief auf Zehenspitzen, mag bis heute nicht gerne barfuß laufen und hatte Koordinationsschwierigkeiten des Gleichgewichts. Daher merkte sie früh, dass sie irgenwie anders als Gleichaltrige war.
Kristina beschäftigte sich in ihrer Kindheit gerne mit sich selbst, ihren Kuschel- und Haustieren. „Auch Nähe konnte ich damals nicht zulassen“, erzählt Kristina. „Ich war langsam und tollpatschig.“

Kristina erzählt: „Im Alter von acht Jahren wurden bei mir geburtsbedingt (Sauerstoffmangel bei der Geburt) eine Entwicklungsstörung (minimale Celebrale Dysfunktion -MCD), einhergehend mit einer Wahrnehmungsstörung und einer Dyskalkulie (Rechenstörung) in einem Institut für Kindesentwicklung diagnostiziert. Das waren in den 90er Jahren die diagnostischen Vorläufer für ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen. Therapeutsch wurde lediglich aufgrund der Unauffälligkeit Psychomotorisches Turnen angeboten. Autismus wurde damals nicht diagnostiziert, dafür eine Wahrnehmungsstörung.“

Obwohl Kristina gerne alleine war, engagierte sie sich schon immer gerne auch für andere und war seit dem 12. Lebensjahr aktiv in der Jugendarbeit bei den christlichen Gemeindepfadfindern. „Dort gehörte ich trotz aller Tollpatschigkeit dazu. Ich war musikalisch und verträumt, das war dort in Ordnung.“
Parallel ritt Kristina leidenschaftlich gerne und trainierte so unbewusst  ihre körperliche Wahrnehmung. Das wurde ihr erst sehr spät bewusst.

Nach dem Abitur machte Kristina ein Freiwilliges soziales Jahr in zwei Kinderkurheimen als Praktikantin im erzieherischen Dienst mit seelisch belasteten Kurkindern. „Dort kam ich besonders gut mit denjenigen Kindern zurecht, die anders als alle anderen waren.
Ich begann zu reflektieren, warum das so war“
, erzählt Kristina „und spürte eine besondere Verbundenheit vor allem zu den Kindern, die eine ADHS-Diagnose hatten und unter anderem zurückgezogenes oder sogenanntes herausforderndes Verhalten zeigten.“

Die Diagnosen ADHS und Autismus wurden erst spät gestellt.

„Da ich eher zu den ruhigeren Mädchen und Frauen gehörte, war ich trotz aller Besonderheiten immer noch relativ unauffällig. Dennoch erkannte ein Psychiater, der mir über eine Selbsthilfegruppe empfohlen worden war, dass ich Autistin sein könnte“, erzählt Kristina weiter.
Sie wusste also lange nicht, was genau anders war mit ihr, erst im Kontakt mit ADHS-Kindern und einer Selbsthilfegruppe für Erwachsene kam sie ihrer eigenen Besonderheit auf die Spur und beschäftigte sich mit Autismus und ADHS im Kindes- und Erwachsenenalter. Das war im Jahr 1999.
Es dauerte noch weitere zehn Jahre bis Kristina die Autismus-Diagnose für sich selber auch annehmen konnte. „Erst als ich auf andere Autisten traf, die waren wie ich, konnte ich für mich einordnen, dass ich Autistin mit ADHS und Hochsensitivität bin.“

Kristinas Schul- und Bildungsweg ist voller Höhen, Tiefen und Umwege.

Nach der Grundschule war wegen ihrer Mathesschwäche nicht klar gewesen, ob Kristina eine Förderschule oder doch eher das Gymnasium besuchen sollte. Sie wiederholte eine Klasse, besuchte die Realschule, später das Aufbaugymnasium und schließlich studierte sie erst auf Lehramt für Grund-und Mittelstufe, wechselte dann aufgrund der Klassengrößen auf Sonderpädagogik, Schwerpunkte Verhaltensgestörten- und Lernbehindertenpädagogik, Psychologie und Diagnostik. Ihr Hauptunterrichtsfach war Deutsch.
Das zweite Fach sollte mit Kunst zu tun haben und so begann Kristina versuchsweise erst Industriedesign an der Kunsthochschule, wechselte dann auf Arbeit und Technik mit Schwerpunkt Nähen und landete dann endlich im dritten Fach Bildende Kunst, welches ihr sehr viel Freude bereitete. „Da waren keine Schnittzeichnungen erforderlich, mussten keine technologischen Formeln gelernt und lauten Maschinen bedient werden“, erzählt sie. Dort konnte Kristina sich in ihrer Kreativität völlig ausleben.  Diese Wechsel auch innerhalb eines Studiengangs passen sehr zur ADHS Diagnose.

„Im Gymnasium habe ich als Schülerin gemerkt, dass ich anders begabt bin. Ich habe meine Lernmaterialien abgezeichnet, meine Biobücher abgemalt und so den Stoff gelernt“, schildert Kristina. „Insgesamt verhielt ich mich sehr angepasst, war bodenständig, gut erzogen und freundlich. Ich habe mich auch immer unvoreingenommen für die Menschen interessiert. Mein Bedürfnis, mich in Gruppen zu äußern und Blickkontakt zum Gegenüber beizubehalten, war für mich aber sehr schwierig“, beschreibt Kristina.
„Eine Kommilitonin dachte, dass ich sie nicht ernst nehme, weil ich sie nicht anguckte. Ich musste mich auch viel für mein Verhalten rechtfertigen.“

Wegen der Offenlegung der ADHS Diagnose und der Inananspruchnahme eines Nachteilsausgleichs bei den Examensprüfungen an der Universität wurde Kristina als ungeeignet für den Lehrerberuf in ihrer letzten mündlichen Prüfung bewertet. „Meine sozial sehr ausgeprägten Kompetenzen, besonders die Empathie und professionelle Abgrenzung in Konfliktsituationen, wurden nicht bewertet“, berichtet Kristina.
,,Für mich war es eine sehr schwer aushaltbare Situation, zumal ich bis zum Examen schon viele Jahre im Sozialbereich, u.a. als Streetworkerin am Hamburger Hauptbahnhof und an einer Förderschule ehrenamtlich gearbeitet hatte“, erzählt sie weiter. „Wegen meiner Erfahrungen empfehle ich Studenten, die später verbeamtet werden wollen, sich bedeckt mit ihren Diagnosen zu halten. Umschreiben der ADHS-Autismus- Symptomatik, wenn es nötig ist , aber möglichst keine Diagnosen nennen.“

„Hinzu kommt noch die Schwierigkeit, dass bei bekannten psychiatrischen Diagnosen eine spätere Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) fast ausgeschlossen ist. Grund ist, dass ADHSler und Autisten oft gefährdet sind, aufgrund ihrer Symptomatik und Dysregulation der eigenen körperlichen Grenzen bzw. des hohen Energieverbrauchs, sich in der Gesellschaft mit ihrem Tempo anzupassen und Situationen lange auszuhalten und schneller in einen Erschöpfungszustand (bis zur Arbeitsunfähigkeit ) zu geraten. Dieses Risiko will im Falle einer Erwerbsunfähigkeit keine Versicherung auf sich nehmen.“

So kam es, dass laut der Aussage des Prüfungsausschusses Kristina als Lehrerin nicht verbeamtet werden würde. „Mir wurde gesagt, dass ich physisch und psychisch nicht in der Lage sei, eine Klasse zu führen. Ich hätte natürlich in Widerspruch gehen müssen, hatte damals aber nicht die Kraft dazu und habe mich nicht gewehrt“, erzählt Kristina weiter.

So suchte sie nach einem neuen Wirkungsfeld, absolvierte eine Coachingausbildung im wirtschaftlichen Bereich, versuchte es mit Theaterpädagogik und machte sich 2010 schließlich als ADHS-Coach selbstständig.
„Neben Einzel-Coachings arbeite ich auch als Assistentin über das Persönliche Budget und unterstütze andere, ihr Leben mit ihrer Diagnose zu meistern und Strukturen zu schaffen.“

Kristinas Weg in die Selbstständigkeit

Kristinas Unternehmen nennt sich „Turtle Steps“.
Mit dieser Namensgebung greift Kristina einerseits ihre Liebe für das Malen von Schildkröten auf, andererseits möchte sie damit ausdrücken, dass viele Menschen eine Menge Ressourcen unter ihrem Panzer versteckt haben (rw) und es wichtig ist, langsam und nachhaltig seinen Weg zu gehen – jeder in seinem eigenen Tempo.
Kristina nähte übrigens mal eine Schildkröte als Handpuppe, die an ein Kinderhospiz weitergeschenkt wurde. „Turtle“ wurde immer an das Kind weitergegeben, dass als nächtes sterben wird.
„Das rührt mich sehr“, erzählt Kristina, „zu wissen, dass meine kleine Handpuppe Trost und Halt in schweren Stunden schenken kann, ist wunderschön.“

Bild von Turtle
©Turtle von Kristina

Seit diesem Jahr hat Kristinas Arbeit noch einmal eine neue Ausrichtung genommen. Sie coacht Führungskräfte im Bereich Stressmanagement und vermittelt zwischen Arbeitgebern und Mitarbeitern, die unter anderem wie sie eine ADHS- oder Autismusdiagnose haben oder einfach nicht gut mit Stress und Veränderungen umgehen können.
„Ich spreche einerseits die Sprache der Menschen, die aus dem Spektrum sind und kann durch meine jahrelange Erfahrung im Konfliktmanagement kommunikativ die Brücke zum „nicht andersdiversen“ Gegenüber ziehen, dessen Sprache ich ebenfalls beherrsche. Daher gelingt es gut, zwischen den Beteiligten zu vermitteln und in den Firmen für den Umgang mit dem Anderssein zu sensibilisieren.“
Ein wichtiger Bestandteil von Kristinas Arbeit ist ihr Hund Jack. „Jack hilft Menschen, sich zu öffnen und zu kommunizieren. Es ist sehr hilfreich, wenn er dabei ist.“

Job und Ehrenamt im Dienst der Aufklärung

Kristina hat schon viel in ihrem Leben gemacht und initiiert. Neben ihrem beruflichen Werdegang war sie auch immer ehrenamtlich engagiert, hing als eins von fünf Gesichtern der Hamburger Selbsthilfegruppen seit 2015 als Plakat in den U-Bahnen mit dem Slogan ,,Es gibt mehr von Dir als Du denkst“, sie ist die Begründerin vom „ADHS-Autismus-Jobcoaching“ in Hamburg, hat „ADHS Hamburg e.V.“ als Initiatorin mitgegründet und ist Mitglied bei „ADHS-Deutschland e.V.“. Zudem hat sie bereits mehrere Fachartikel veröffentlicht.

Insgesamt ist Kristina Aufklärung besonders wichtig. „Es werden viele Fehldiagnosen gestellt,weshalb dann Hilfen ausbleiben, die viel früher greifen könnten. Auch ich hätte es leichter gehabt, wenn ich bereits als Kind meine Diagnosen erhalten hätte. Ich möchte weiterhin zur Aufklärungsarbeit beitragen, mein Wissen und meine Erfahrung gerne weitergeben und andere motivieren, trotz oder gerade wegen ihres Anderesseins mutige Schritte zu gehen.“

Zum Weiterlesen:

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  1. Wenn die staatliche Schule einen nicht nimmt, geht doch zu den freien Schulen. Ok, wird schlechter bezahlt, man ist aber freier in der Unterichtsgestaltung. Mir werden immer die kreativen Lösungen meine Freie-Schule-Lehrer in Erinnerung bleiben. Mir wäre meine Freiheit wichtiger als sicherer Beamtenjob. Sehr interessant wie sich Autismus und AHDS auswirken. Danke für den Beitrag. Hoffentlich ist die Welt bald inklusiver, dass es ok ist einen Nachteilsausgleich zu nutzen. Mir wurde auch gesagt, dass ich nicht gut genug für die öff. Verwaltung bin, weil ich einen Nachteilsausgleich wegen Hörschädigung nutzte. Schlimm genug, dass es nicht nur mir passiert. Gut, dass ich nach vielen Jahren Traurigkeit nicht allein damit bin.

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