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Gastbeitrag: Wie wir unser Leben den Bedürfnissen unseres Kindes anpassten – und nicht umgekehrt

veröffentlicht von Silke Bauerfeind im Juli 2017


Meine Frau und ich haben einen kleinen Autisten (5) und obwohl wir (vermeintlich) alles richtig gemacht haben, ging es unserem Sohn immer schlechter und schlechter.
Wie schlimm es um ihn stand, hatten wir nicht richtig begriffen, war er doch (scheinbar) fröhlich und lachte viel.
Inzwischen, ein Jahr später, wissen wir es besser.

Wir wissen, er hat nicht gelacht, sondern war in völliger Überforderung.
Er hat nicht gespielt, er war im permanenten Kompensationsmodus.
Und er hat keine merkwürdigen „autistischen“ Dinge getan, sondern er hat im Rahmen dessen, was er in seinem jungen Alter verstand, versucht, sich selbst zu schädigen.

Und alle mutmaßlichen Fachleute hatten es nicht anders wahrgenommen als wir damals, auch deshalb stellten wir unsere Einstellung gar nicht in Frage.
Offensichtlich ist unser Sohn besonders tief im Spektrum und hat für unsere Gesellschaft so selbstverständliche Dinge wie „Krippe ab dem zweiten Lebensjahr“ nicht nur nicht verkraftet, nein, er ist daran „zerbrochen“. Und integrativer Kindergarten hat dem ganzen die Krone aufgesetzt (rw), da wurde alles in Rekordzeit schlechter.

Patentrezept der Fachleute? Dem Jungen geht es gut, er ist nur unkonzentriert und braucht mehr Übung!

Hilfe kam von AutistInnen.
Vor einem Jahr war ich so verzweifelt, niemand konnte uns helfen, alles wurde immer schlimmer. Ich habe mir im Internet ein Forum von/für Autisten gesucht, weil ich mir sicher war, niemand anderes wird uns noch helfen können.
Und was ich dort für Antworten bekam… Meine Frau und ich waren absolut empört und wütend, was man uns vorwarf und mit was für weltfremden und unrealistischen Vorschlägen man meinte, uns helfen zu können…
Aber wir hatten genau diese Hilfe gesucht und nun wäre es ja absurd gewesen, sich mit den Antworten nicht auseinanderzusetzen.
Wir brauchten keine 24 Stunden, dann war uns klar, dass man es nur gut mit uns meinte. Und die unrealistischen und weltfremden Vorschläge – wir haben sie überdacht und überlegt, wie man sie dennoch umsetzen kann.

Unabdingbar war: meine Frau kündigte umgehend ihre Arbeit und wir nahmen unser Kind aus dem Kindergarten (selbstverständlich fehlt uns das Geld, aber es war ziemlich schnell klar, dass es keinen anderen Weg gibt und wir irgendwie mit dem auskommen müssen, was wir noch haben, schließlich geht es um die Gesundheit unseres Kindes).

Ein weiteres Mal stießen wir auf Ablehnung seitens der Fachleute, wir würden das Kind überbehüten, eine unrealistische „Wattewelt“ erschaffen, die alles verschlimmern würde. Spätestens mit Beginn der Schulpflicht würde es sich rächen, weil er sozialen Kontakt verlernen würde.

Auf der Suche nach Antworten klang all das, was eine Autistin uns erklärte, völlig plausibel. Und ab dem Moment klang plötzlich alles, was Fachleute uns bislang erzählt hatten, völlig absurd.

Sozialen Kontakt verlernen? Was erzählen die uns? Er hatte nie gelernt, was sozialer Kontakt ist, da gab es nichts zu verlernen!
In „Watte packen“? Ja selbstverständlich, irgendetwas ist gewaltig schief gelaufen in seinem Leben und er muss erstmal „in Watte gepackt“ werden, bis es ihm besser ging, er Wünsche äußern und seine Entwicklung wieder da ansetzen konnte, wo sie mal aufgehört hatte, ja rückläufig wurde.

Man versuchte es so darzustellen, als gäbe es in Deutschland eine Kindergartenpflicht und wir würden mit unseren Schritten, unbegleitet von Fachleuten (was nicht ganz richtig ist, aber dazu später mehr), unserem Kind schaden.
Man wurde nicht müde, zu betonen, wie wichtig es sei, dass es irgendwelche Therapiemaßnahmen geben würde.
Niemand wollte sehen, dass das Kind Ruhe und Erholung brauchte, Sicherheit, Geborgenheit und die Nähe zur Mutter, und genau das die „Therapie“ ist.

Heute, ein Jahr später, haben wir Unglaubliches erreicht.
Nicht in der Sicht von Außenstehenden, schon gar nicht aus der Sicht der betreffenden Fachleute. Aber aus unserer Sicht.

Von einer altersgemäßen Entwicklung kann man nicht sprechen. Aber wie denn auch? Wie sollte man ein Kind, das in den prägendsten zwei bis drei Jahren seines Lebens „zerbrochen“ ist, innerhalb eines Jahres dahin führen, wo andere in seinem Alter sind?
Das ist schlicht nicht möglich.
Aber wir können alles daran setzen, dass er diese für ihn so schlimme Zeit überwindet, wieder Vertrauen fasst in seine Eltern, seine Umwelt, sein Leben.

Schlafprobleme, ja, das kannten wir, und wie!
Viele wache Nächte voller Wut (auf beiden Seiten). Aber es dauerte nur wenige Wochen und plötzlich schlief er durch, zehn bis zwölf Stunden am Stück, jede Nacht (natürlich gibt es auch mal eine schlechte Nacht, aber die gibt es bei jedem).
Ganz offensichtlich war ihm eine große Last genommen worden. Keine Anforderungen des Kindergartens mehr. Kein Lärm. Keine Vorschriften. Nur Mama, die es zuvor offenbar viel zu wenig gab.
Und jeden Morgen ein neuer Tag, den es damit zu füllen galt, was ihm gut tat.

Aber was tut ihm überhaupt gut? Er spricht ja nicht, woher sollten wir es also wissen?
Immerhin wussten wir nun um den Unterschied zwischen „nicht sprechen“ und „non-verbaler Kommunikation“. Und wir hatten gelernt: nicht er muss lernen zu sprechen (oder Bildkarten zu nutzen oder irgendetwas anderes), nein, es ist an uns, seine Kommunikation zu lernen!
Eines Tages, wenn er merkt, dass er mit seiner Kommunikation an Grenzen stößt, dann können wir ihm Möglichkeiten aufzeigen, seine Kommunikation zu erweitern (Gebärden, Bildkarten, Sprache, was ihm am besten gefällt).

Wir lernen natürlich auch heute, ein Jahr später, immer noch viel. Machen uns Gedanken, was gut oder schlecht für ihn ist.
So unglaublich Vieles, was man als völlig normal hinnimmt, ist schlecht für ihn. Die einfachsten Dinge bedeuten für ihn bereits Stress.
Einkaufen gehen, länger als zehn Minuten, nicht möglich.
Mehr als zwei Besucher empfangen, nicht möglich.
Die Besucher länger als eine Stunde empfangen, nicht möglich.
Einen Spielplatz benutzen, auf dem bereits mehr als zwei andere Kinder spielen, nicht möglich.
Ihm Dinge auf klassische Weise beibringen, also mittels Erklären, nicht möglich.
Man kann ihm nur Hilfestellung geben, wenn Situationen andernfalls zu gefährlich werden würden, muss ihn ansonsten aber Autodidakt sein lassen, etwas anderes akzeptiert er nicht.

Seine Wahrnehmung (vor einem Jahr nur bei Extremreizen annähernd vorhanden) wird immer besser, er nimmt wieder Schmerz wahr, kalt und heiß, sauer und scharf usw.
Er hat sich inzwischen so weit der Realität genähert, dass wir endlich rausfinden können, was überhaupt seine Barrieren sind. Und auch er selbst merkt immer öfter, was ihm Probleme bereitet und versucht selbst, diese Barrieren zu vermeiden.

Dass er Probleme mit Menschen hat (und die fangen bereits an, sobald es mehr Menschen als Mama und Papa sind), war schnell klar. Dass es dabei aber insbesondere Bewegungen und auch bestimmte Geräusche sind, womit er Probleme hat, das merken wir erst in letzter Zeit.

Sicher gibt es noch mehr Barrieren, die wir mit der Zeit rausfinden und vermeiden können, um sein Leben zu verbessern. Was uns allerdings große Sorgen macht, das ist die Schulpflicht ab nächstem Sommer .
Welche Möglichkeiten gibt es für jemanden, der geistig noch nicht reif für die Schule ist und dessen größte Barriere laute Kinder und überhaupt andere Menschen sind?
In Deutschland: keine! Es ist nicht vorgesehen, so weit von der Norm abzuweichen. Da bleibt höchstens noch eine Schule für geistig Behinderte, aber weder würde er da hingehören, noch gäbe es Möglichkeiten, seine wichtigste Barriere zu umgehen.

Aber vielleicht gibt es doch eine Lösung. „Retter in der Not“ vor einem Jahr war für uns der Verein „White Unicorn e.V.“ (initiiert von Autisten und gemäß Satzung müssen auch mindestens 2/3 der stimmberechtigten Mitglieder AutistInnen sein).
Kennengelernt über das besagte Forum von/für Autisten, bekamen wir von dort per Mail Beratung. Mit jedem konkreten Problem konnte ich mich an den Verein wenden und bekam genauso konkrete und individuelle Lösungsansätze, passend zu unserem Sohn und unserer Situation.
Immer war wichtig: was könnte der Auslöser für ein bestimmtes Verhalten sein, um dann die Ursache zu beseitigen, niemals das Verhalten an sich.

Ein wichtiges Thema des Vereins: Schulkonzepte für Autistinnen und Autisten, weil es eben genau daran für eine Vielzahl an Autisten mangelt, wie in unserem Fall.
Und daher würde ich mich freuen, wenn diese Schulkonzepte bekannter werden und Unterstützung erfahren, als weiterer Schritt zur Inklusion.

***

Herzlichen Dank für diesen eindrücklichen Bericht. Ich wünsche Euch und Eurem Sohn alles erdenklich Gute und dass Ihr einen sehr guten Schulweg für ihn findet.

***

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wer hier schreibt

Silke Bauerfeind

Gründerin von Ellas Blog (2013), Buch- und Kurs-Autorin, Kulturwissenschaftlerin, psychologische Beraterin, Referentin. 

"Ich verbinde persönliche Erfahrung mit Wissen rund um Autismus, Teilhabe und Familienrealität. Mein Schwerpunkt liegt auf Autismus mit hohem Pflege- und Unterstützungsbedarf – Themen, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft zu kurz kommen"

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