Eltern im Spagat: Zwischen Funktionieren und Gefühlschaos

veröffentlicht im März 2025


Manchmal bekommen wir eine Rückmeldung, die uns zum Nachdenken bringt. Vor Kurzem sagte mir jemand nach dem Lesen meines neuen Buches: „Ich kenne dich ja schon eine Weile persönlich. Was mich beim Lesen erstaunt hat, war, dass du doch auch schwache und schwierige Momente hast, obwohl du immer so stark wirkst.“

Diese Worte haben mich berührt und gleichzeitig nachdenklich gemacht. Denn ich weiß natürlich, dass ich nach außen oft souverän und gefasst wirke. Doch in Wahrheit sind in mir sowohl Freude, Erschöpfung, Zweifel, Mut, Hoffnung und auch mal das Gefühl, nicht weiterzuwissen und zutiefst enttäuscht von anderen Menschen zu sein. Vielleicht geht es dir genauso?

Baum auf Wiese

©Quelle: pixabay, User Boenz, vielen Dank!

Warum wir oft stark wirken (müssen)

Gerade als Eltern autistischer Kinder stehen wir oft unter besonderem Druck: Wir müssen uns für unsere Kinder einsetzen, erklären, kämpfen und dabei immer „funktionieren“. Das lässt uns nach außen stark wirken, doch das bedeutet nicht, dass wir nicht genauso verletzlich sind. Es ist ein Spagat zwischen äußerer Kontrolle und innerem Gefühlschaos, zwischen dem Wunsch nach Stabilität und den unvermeidbaren Herausforderungen des Alltags.

Es gibt viele Gründe, warum wir nach außen stark erscheinen, selbst wenn wir es innerlich nicht immer sind. Gesellschaftlich wird Stärke oft als etwas Positives angesehen: Wer stark ist, scheint die Kontrolle zu haben, ist unabhängig, belastbar. Vor allem als Eltern autistischer Kinder stehen wir oft unter dem Druck, funktionieren zu müssen. Wir sind es gewohnt, Herausforderungen zu meistern, durchzuhalten, Pläne B, C oder D zu entwerfen, weil wir müssen.

Doch manchmal passiert es dabei, dass unsere eigenen Gefühle, Zweifel oder Unsicherheiten in den Hintergrund rücken. Wir gewöhnen uns daran, nicht zu zeigen, wenn es uns schlecht geht, und entwickeln Routinen, um trotz allem weiterzumachen.
Vielleicht schützt uns diese äußere Fassade auch. Wenn wir stark wirken, wird weniger hinterfragt, es gibt weniger Einmischung von außen. Doch manchmal führt es auch dazu, dass andere uns gar nicht zutrauen, dass wir Unterstützung brauchen könnten oder uns sogar mehr und mehr zumuten, weil sie der Meinung sind, dass wir das schaffen werden. Und es kann auch dazu führen, dass andere nicht so empathisch mit uns umgehen, wie es angebracht wäre.

Ein weiterer Aspekt ist, dass unser scheinbares Funktionieren oft zu Missverständnissen führt. Wenn wir uns zurückziehen, um (erneute) Enttäuschungen oder verletzende Reaktionen zu vermeiden, kann das schnell als Arroganz oder als falsch verstandene Souveränität wahrgenommen werden. Dabei steckt dahinter oft nichts anderes als der Versuch, uns selbst zu schützen.
Häufig verbirgt sich hinter dieser Fassade eine große Unsicherheit, die Angst, nicht gut genug zu sein, nicht alles im Griff zu haben oder als schwach zu gelten. Wir meinen, diese Unsicherheit nicht zeigen zu dürfen, weil wir glauben, dass andere dann an unserer Kompetenz als Eltern oder Bezugspersonen zweifeln könnten. Das führt dazu, dass wir noch mehr in die Rolle der „Starken“ schlüpfen, obwohl wir in Wirklichkeit genau wie alle anderen Momente der Zweifel und Überforderung erleben und uns ständig selbst reflektieren.

Dieses Spannungsfeld zwischen Außenwirkung und innerem Empfinden kann sehr belastend sein und gerade deshalb ist es so wichtig, es zu erkennen und darüber zu sprechen.

Was bedeutet stark sein eigentlich?

Ist Stärke das Fehlen von Emotionen? Oder liegt wahre Stärke vielleicht darin, all die Emotionen zu fühlen und trotzdem weiterzumachen?

Viele von uns haben ein Bild von Stärke im Kopf, das mit Durchhalten, Kontrolle und Widerstandskraft verbunden wird. Doch wirkliche Stärke zeigt sich nicht nur im „Funktionieren“, sondern auch darin, sich den eigenen Gefühlen zu stellen, sich verletzlich zu zeigen und anzunehmen, dass man nicht immer alles alleine bewältigen muss.
Gerade als Eltern autistischer Kinder wird uns oft signalisiert, dass wir stark sein müssen. Wir sind diejenigen, die sich für unsere Kinder einsetzen, Erklärungen liefern, Barrieren abbauen und im besten Fall auch noch geduldig, liebevoll und verständnisvoll bleiben – auch dann, wenn unser eigenes Nervenkostüm längst dünn geworden ist.
Wir halten durch, weil es keine Alternative gibt. Wir setzen uns mit Fachkräften und Systemen auseinander, kämpfen für Unterstützung, erklären immer wieder das Gleiche. Und wir tun es nicht nur für unsere Kinder, sondern auch für unser eigenes Sicherheitsgefühl. Denn wenn wir „alles unter Kontrolle“ haben, gibt es weniger Überraschungen und weniger Momente, in denen wir von plötzlichen Veränderungen überrollt werden.

Doch was ist, wenn diese Form der Stärke gar nicht unser natürlicher Zustand ist, sondern ein erlerntes Überlebensmuster? Was, wenn wir uns so sehr an das Funktionieren gewöhnt haben, dass wir vergessen, dass Stärke auch bedeuten kann, Hilfe anzunehmen, innezuhalten oder schlicht zu sagen: „Ich kann gerade nicht mehr.“
Stark sein heißt nicht, immer zu funktionieren. Es bedeutet nicht, dass wir nie zweifeln, nie erschöpft sind oder immer den richtigen Weg kennen. Wahre Stärke liegt vielleicht viel mehr darin, sich selbst Raum für Schwäche, für Emotionen und für das Eingeständnis, dass wir nicht immer die Antwort haben müssen, zu geben.

Fachkräfte und der Blick auf elterliche Stärke

Doch nicht nur wir selbst dürfen uns damit auseinandersetzen, was Stärke wirklich bedeutet – auch Fachkräfte, die mit uns Eltern arbeiten, sollten ein Gespür dafür entwickeln.

Wenn ein Elternteil ruhig, bestimmt und organisiert auftritt, könnte es echte Souveränität, aber auch eine Schutzstrategie sein, hinter der sich Überforderung, Unsicherheit oder ein unausgesprochenes Hilfegesuch verbergen.
Fachkräfte dürfen, ohne die Kompetenz der Eltern infrage zu stellen, genau hinschauen und reflektieren, ob sie vielleicht sogar selbst dazu beitragen, dass Eltern das Gefühl haben, besonders stark auftreten zu müssen. Vielleicht, weil sie befürchten, sonst nicht ernst genommen oder als überfordert abgestempelt zu werden.
Gleichzeitig gibt es aber auch Eltern, die tatsächlich eine innere Stärke entwickelt haben, mit der gearbeitet werden kann. Nicht jede ruhige und bestimmte Haltung ist eine Fassade. Es gibt Eltern, die durch ihre Erfahrungen und ihr Wissen souverän auftreten. Genau diese Stärke sollte von Fachkräften ernst genommen und respektiert werden, es ist eine wichtige Ressource für die weitere Zusammenarbeit.

Die Herausforderung liegt also darin, genau hinzusehen: Handelt es sich um eine echte, tragfähige Stärke, auf der man gemeinsam aufbauen kann? Oder ist das scheinbare Selbstbewusstsein ein stiller Hilferuf, der sich nur schwer in Worte fassen lässt? Diese Unterscheidung erfordert Sensibilität, Erfahrung und den Mut, die eigene Wahrnehmung immer wieder zu hinterfragen.
Offene, transparente und einfühlsame Kommunikation spielt hierbei eine zentrale Rolle. Statt vorschnelle Annahmen zu treffen, kann ein wertschätzendes Nachfragen helfen, herauszufinden, was Eltern wirklich brauchen. Ein offener, einladender Austausch gibt ihnen die Möglichkeit, ihre Sorgen und Bedürfnisse zu äußern, ohne Angst vor Bewertung oder Konsequenzen haben zu müssen.
Denn letztendlich geht es nicht nur um die Eltern selbst, sondern auch um ihre Kinder, die von einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Eltern und Fachkräften enorm profitieren können. Wenn Eltern sich verstanden und unterstützt fühlen, können sie ihre Energie gezielter für ihr Kind einsetzen, statt ihre Kraft darauf zu verwenden, eine unerschütterliche Fassade aufrechtzuerhalten.

Reflexionsfragen für Eltern und Fachkräfte

💡 Für Eltern:

Wann fühle ich mich wirklich stark und wann tue ich nur so?

Welche Situationen bringen mich dazu, eine Fassade der Stärke aufzubauen?

Wo könnte ich mir mehr erlauben, Unterstützung anzunehmen?

Auf wen möchte ich direkt zugehen?

💡 Für Fachkräfte:

Welche Haltung habe ich selbst gegenüber „starken“ Eltern und wie beeinflusst das meine Zusammenarbeit mit ihnen?

Wie erkenne ich, ob ein Elternteil wirklich souverän ist oder nur stark wirken muss?

Wie kann ich einen offenen, einladenden Austausch fördern?

Was möchte ich mir konkret für eine anstehende Begegung vornehmen?

Veränderung durch Verständnis

Die Rückmeldung, die ich am Anfang dieses Beitrag schilderte, hat mich nicht nur berührt, sondern auch erneut daran erinnert, wie oft wir nach außen hin ein Bild vermitteln, das nicht immer der ganzen Wahrheit entspricht. Trotz aller Selbsterkenntnis, geht es aber leider nicht nur darum, ob wir uns selbst erlauben, Schwäche zu zeigen, sondern auch manchmal darum, dass das System, in dem wir uns bewegen, keine andere Reaktion zulässt.

Wirkliche Veränderung kann nur dann stattfinden, wenn nicht nur wir unsere Haltung zu Stärke hinterfragen, sondern auch das Umfeld, das uns dazu zwingt, stark zu sein. Fachkräfte, Unterstützungsangebote und das gesamte System der Hilfen müssen sensibel dafür sein, dass Eltern nicht aus einer bequemen Position heraus handeln, sondern oft aus einem Zustand der permanenten Verantwortung. Ein Raum, in dem Eltern Unterstützung annehmen dürfen, ohne dass ihre Kompetenz infrage gestellt wird, wäre ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.

Weitere Impulse

In meinem neuen Buch gehe ich noch tiefer auf diese Themen ein – mit persönlichen Erfahrungen, praktischen Impulsen und neuen Perspektiven für Eltern, die sich zwischen Stärke und Erschöpfung bewegen

Zum Weiterlesen:
Argumentum ad parentem – was es bedeutet und wie wir damit umgehen können

Leitfaden für wertschätzende und unterstützende Zusamenarbeit

Zum Weiterlesen:

KOMMENTARE

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  1. Wieder eine sehr stimmige Zusammenfassung! Über das „Stärke-Ausstrahlungs-Dilemma“ habe ich auch schon oft nachgedacht. Danke, dass Du es wieder so gut formuliert hast!!

    1. Liebe Marion, herzlichen Dank für Deine Rückmeldung – ja, nicht so einfach und schwer zu erklären. Es freut mich, dass Du Dich zumindest teilweise wiederfinden konntest. LG Silke ♥

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Es ist immer wieder überwältigend, was wir als Eltern autistischer Kinder bedenken, organisieren und verarbeiten müssen. Neben viel Wissen und Erfahrungen, die du hier im Blog findest, ist eine solidarische Gemeinschaft unglaublich hilfreich. Das Forum plus ist ein geschützter Bereich nur für Eltern autistischer Kinder. Hier findest du außer praktischen Tipps viel Verständnis und Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen wie Du.

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