Der Zugang zur bestmöglichen medizinischen Versorgung sollte für alle Menschen gewährleistet sein, unabhängig von ihrem Verhalten oder ihrer Behinderung. Es ist wichtig, die Barrieren zu identifizieren und Lösungen zu finden, um sicherzustellen, dass niemand aufgrund dieser Herausforderungen von lebenswichtigen oder auch „nur“ Lebensqualität erhaltenden Operationen oder Nachsorgemaßnahmen ausgeschlossen wird.
Die Realität spricht leider nicht selten eine andere Sprache:
©pixabay, User geralt, vielen Dank!
„Ich musste mich erstmal setzen, als mir gesagt wurde, man könne mein Kind nicht operieren, weil es bei den notwendigen Behandlungen in der Nachsorge nicht kooperieren würde. Die bestmögliche medizinische Versorgung sei daher nicht möglich.“
„Mir wurde gesagt, dass man mein Kind in der Klinik nicht aufnehmen könne, weil es zu herausfordernd im Verhalten sei und die anderen Patienten gestört werden. Wir müssten einen anderen Weg finden.“
„Mein Kind muss mit den körperlichen Einschränkungen leben, eine Reha sei im Anschluss an eine Operation nötig, aber nicht möglich und damit würde das Ergebnis der Operation schließlich wieder zunichte gemacht. Da können man es gleich lassen.“
Das sind Zuschriften, die mich allein in den letzten Wochen erreichten und sie trafen bei mir einen Nerv, weil wir diese Erfahrung auch schon machen mussten: Wir sollten uns für Niklas mit der zweit- oder drittbesten Behandlungsmöglichkeit zufrieden geben, weil die bestmögliche bei ihm nicht möglich sei.
Schwierigkeiten bei uns und bei anderen Familien traten vor allem bei der Notwendigkeit von orthopädischen Eingriffen, Augenbehandlungen bzw. -operationen, Herzerkrankungen, Transplantationen, zahnärztlichen oder kieferorthopädischen Behandlungen oder optimaler Versorgung von Schnittverletzungen auf.
Bei diesen Behandlungen kann es notwendig sein, strikte Hygienemaßnahmen einzuhalten, sich zu schonen, Wunden in Ruhe heilen zu lassen, Materialien am Körper zu akzeptieren (Gips, Verbände, Fäden von Nähten, Augenbinden,…), physiotherapeutische Übungen gewissenhaft durchzuführen oder auch einen bestimmten Ernährungsplan einzuhalten, Folgeoperationen zu akzeptieren, eine Reha zu durchlaufen oder an psychotherapeutischen Nachsorgeeinheiten teilzunehmen (die Aufzählung ist nicht vollständig).
Dieser Beitrag konzentriert sich auf den Umstand, dass Behandlungen inklusive Nachsorge nicht möglich sind. Es gibt selbstverständlich weitere große Herausforderungen im Bereich der medizinischen Versorgung wie Vorsorge, Diagnostik, Therapie, Barrierefreiheit in Praxen und vieles mehr, wo großer Handlungsbedarf besteht.
Lassen wir mal offen, ob es tatsächlich keine optimale Behandlungsmöglichkeit gibt. Eltern und nicht zuletzt unsere Kinder sind in diesen Situationen damit konfrontiert, eine Verschlechterung des Gesundheitszustands hinzunehmen, sehen sich weiteren Risiken für Folgeerkrankungen gegenüber und müssen sich nicht zuletzt mit Schmerzen und einer verminderten Lebensqualität auseinandersetzen, um nicht zu sagen „zufrieden geben“.
Ich denke, es ist klar, dass das an Eltern nicht spurlos vorüber geht. Da ich keine Medizinerin bin und es den Rahmen sprengen würde, möchte ich hier nicht alle denkbaren medizinischen Möglichkeiten ausloten (darauf kommen wir weiter unten nochmal), sondern den Fokus auf die Folgen solcher Aussagen und Situationen legen, weil diese eine enorme Belastung für die Familien darstellen.
Was macht es mit uns, wenn notwendige medizinische Behandlungen tatsächlich nicht durchgeführt werden?
Und: wenn es dich und dein Kind betrifft und du dich in den beschriebenen Situationen wiedererkennst, möchte ich dir sagen: mit den Gefühlen, die damit einhergehen, bist du nicht allein. Viele andere Eltern gehen mit diesem Rucksack durchs Leben – auch ich.
Was ist eigentlich das Problem dabei?
Mir begegnen immer wieder ungläubige Blicke, wenn ich erkläre, dass bei Niklas oder anderen Menschen bestimmte Behandlungen nicht möglich sind. Vielen Personen kann man es nicht verübeln, weil sie es einfach nicht besser wissen und noch nie gesehen haben, dass Wunden von unseren Kindern manipuliert, Verbände abgerissen, Fäden selbst mit den Zähnen gezogen, Schmerzen häufig „weggerannt“ werden, anstatt im Bett zu bleiben, Köpfe an Wände geschlagen werden und und und.
Bei einigen Autistinnen und Autisten mag es möglich sein, die Einsicht in die Behandlung und Nachsorge zu wecken und das Verhalten entsprechend anzupassen. Bei vielen Autistinnen und Autisten ist dies allerdings nicht möglich, ohne sie zu fixieren oder mit Medikamenten über einen langen Zeitraum ruhig zu stellen.
Und will man das?
Ist das angemessen?
Muss man da halt durch, wie manche meinen, oder werden die Probleme dann nur noch größer?
Muss man sich vielleicht doch mit Kompromissen zufrieden geben?
All diese Fragen treten dann auf und sie zermürben, machen ein schlechtes Gewissen, schüren Wut und Verzweiflung.
Was es mit Eltern macht
Eltern wollen das Beste für ihre Kinder und autistischen Angehörigen. Dafür klären wir auf, rennen manchmal zu zig Ärzten, klären wieder auf, erzählen alles von vorne bis hinten etliche Male, um dann manchmal gesagt zu bekommen: Tut uns leid, es wäre zwar nötig, aber das geht bei ihrem Kind nicht.
Wir sind dann frustriert und vor allem sorgen wir uns um die Gesundheit und die Lebensqualität unserer Kinder. Uns schießen Szenarien durch den Kopf mit Folgeprobleme und Folgeerkrankungen, die eine Nichtbehandlung oder eine zweit- oder drittbeste Behandlung nach sich ziehen könnte.
Wir fühlen uns dabei hilflos und hinterfragen selbstkritisch, ob wir richtig handeln, wenn wir akzeptieren oder ob wir weitersuchen und weiterkämpfen müssen. Wann ist der Zeitpunkt für Akzeptanz gekommen, und wo ist es angemessen, weiter zu kämpfen?
Viele bekommen deshalb Schuldgefühle, weil sie verantwortlich sind und an Grenzen stoßen, die es ihnen nicht ermöglichen, das Beste für ihr Kind herauszuholen.
Wir werden auch traurig, weil wir nicht wissen, ob wir im Vorfeld schon Möglichkeiten versäumt haben oder etwas übersehen und dann kommt die Wut über die Situation, über Menschen, die mit Anschuldigungen und moralischen Vorträgen kommen oder Tipps geben, die vollkommen an der Realität vorbei gehen.
Wir verzweifeln, sind physisch und emotional erschöpft und haben das Gefühl zu versagen.
Schlimm ist es, wenn dann sogar von anderen Eltern autistischer Kinder Vorwürfe oder Tipps kommen, die mit dem eigenen Kind überhaupt nichts zu tun haben, weil das Autismus-Spektrum so vielfältig ist und man niemals von einem auf den oder die andere schließen kann. Auch das ist leider nicht selten der Fall.
Checklisten für Arztpraxen und Eltern
Wenn du möchtest, hole dir die Checklisten für Arzpraxen und Eltern, um medizinische Untersuchungen gut vorzubereiten. Diese Hilfestellung für dich findest du neben vielen anderen Merkblättern in der Schatzkiste von Ellas Blog.
Was können wir sonst noch tun?
Wie können wir mit der Angst vor den Konsequenzen einer unzureichenden medizinischen Versorgung, unserer Verzweiflung und Enttäuschung umgehen? Wie schaffen wir es, uns nicht mehr so alleine mit diesem Thema zu fühlen und wieder Hoffnung zu schöpfen?
Ich hoffe, dass dieser Beitrag dir schon ein klitzekleines bisschen weiterhilft, indem er dir zeigt, dass du damit nicht alleine bist. Du bist kein/e VersagerIn, wenn du das Bestmögliche für dein Kind oder deinen Angehörigen anstrebst, dies aber manchmal einfach nicht möglich ist bzw. nicht möglich zu sein scheint.
Ein paar Tipps habe ich noch für dich, auch wenn sie das eigentliche Problem nicht lösen:
Verliere nie die Hoffnung.
Versuche eine Balance aus Akzeptanz und Weitersuchen zu finden. Die Medizin entwickelt sich weiter und vielleicht gibt es schon bald eine realistische Lösung für euer Problem.
Es gibt wunderbare Ärztinnen und Ärzte, die sich auch auf kreative Wege einlassen und alles ermöglichen, was irgendwie geht. Versuche diese Menschen zu finden, z.B. über Empfehlungen anderer Familien.
Verurteile dich nicht für die Situation.
Du kannst nichts dafür. Ich bin sicher, dass du alles versucht hast, um deinem Kind zu helfen und auch weiterhin am Ball bleibst. Lass dir keine Schuldgefühle einreden, nicht von dir selbst und nicht von außen.
Das ist ein besonders schwieriges Kapitel, weil es uns im Innersten widerspricht, uns mit etwas abzufinden, was nicht das Allerbeste für unser Kind bzw. unseren Angehörigen ist. Vielleicht hilft es dir dennoch daran zu denken, dass es nicht nur schwarz und weiß, nicht nur gut und schlecht gibt, sondern manchmal unter Berücksichtigung aller Umstände etwas dazwischen existiert, was am ehesten verantwortbar ist.
Ich schreibe das nicht, weil ich selbst Weltmeisterin darin wäre, das bin ich bei weitem nicht, aber ich denke, dass es manchmal eine gute Haltung wäre, um mit sich und der Situation Frieden zu schließen.
Umgib dich mit positiven Menschen.
Suche Kontakt zu Personen, die wirkliches Verständnis haben, euch medizinisch und therapeutisch begleiten und dabei helfen, lösungsorientiert zu denken und die bestmöglche Lebensqualität zu ermöglichen. Bringe ihnen die Wertschätzung entgegen, die du dir von ihnen wünschst, denn ein tragfähiges Netzwerk ist eines der wichtigsten Dinge, die man sich aufbauen kann.
Umgib dich auch privat mit Menschen, die dir gut tun, die Verständnis haben, keine Urteile fällen und zuhören, ohne immer gleich einen „gut gemeinten“ Rat parat zu haben.
Nimm professionelle Hilfe in Anspruch und denke an dich.
Auch musst du an dich selbst denken. Vielleicht tut es dir gut, dich eine Weile therapeutisch begleiten zu lassen, um all diese vielen Gefühle zu sortieren und zu verarbeiten. Wische sie nicht weg, weil sie dich irgendwann wahrscheinlich wieder einholen werden. Das hilft auch dabei, zu akzeptieren, was nicht zu ändern ist, und den Fokus auf das Hier und Jetzt zu legen. Aus eigener Erfahrung kann ich dir sagen, dass das sehr gut tut, den Raum zu nutzen, der sich bei einer solchen Begleitung auftut.
Achte auch auf deine eigenen Gesundheit. Wir Eltern vergessen das leider allzu häufig. Du kannst nur weiter für dein Kind da sein, wenn du selbst gesund bleibst.
Recherchiere nach einem MZEB in deiner Region.
Medizinische Zentren für erwachsene Menschen mit Behinderung (MZEB) gibt es deutschlandweit. Dort ist die Wahrscheinlichkeit hoch, auf Personen zu treffen, die euch viel Verständnis entgegenbringen und Erfahrung mit der Behandlung behinderter Menschen haben. Recherchiere hier:
https://bagmzeb.de/mzeb-finden/
Vernetze dich mit anderen Familien.
Suche den Kontakt zu anderen Eltern und mache dich z.B. in Vereinen darüber schlau, welche Rechte deinem Kind zustehen. Vielleicht gibt es noch Möglichkeiten, an die du noch nicht gedacht hast.
Engagiere dich selbst, wenn du Ressourcen hast. Es ist ein gutes Gefühl und es bringt etwas, sich ehrenamtlich einzubringen, ggf. auch in der politischen Lobbyarbeit.
Komm ins Forum plus.
Wenn du möchtest, verbinde dich mit den Eltern im Forum plus. Auch dort hat dieses Thema Platz, du wirst verstanden und bekommst vielleicht weitere Tipps, die dir weiterhelfen. Dort habe ich auch mehr Persönliches darüber geschrieben, inwiefern das Thema uns bereits betroffen hat.
Mir kommt das irgendwie bekannt vor, als C. mir zusamnenklappte und von 0 auf 100 40,5 Grad Fieber bekam und nicht ansprechbar war! 116117 angerufen! Als ich von seinem Handicaps sprach, hiess es plötzlich fahren sie zum HA (30 km weg ohne Auto, mit Zug und Bahn) und wurde aufgelegt! Ich habe ihn dann versorgt und gepflegt, obwohl ich selbst eine Lungenentzündung hatte!
in der Tat hast du erreicht, dass ich mich nicht mehr alleine mit diesem Thema fühle. Mein Sohn musste sich auch schon mit Plan B oder C zufrieden geben, weil die beste Möglichkeit A nicht bei ihm gemacht wurde. Nun hat er eine krumme Schulter und Bewegungseinschränkungen. Mein Mutterherz blutet, wenn ich darüber nachdenke. Danke für deine Beiträge, die immer wieder zeigen, dass du eine von uns bist.
Manja
Auch wir haben schon die Erfahrung machen müssen, dass unser Sohn nicht behandelt wurde. So, wie der sich benimmt, geht das gar nicht. Es wäre zwar gut, wenn wir gleich was tun, aber da müssen sie sich eine andere Lösung überlegen, so geht das nicht. Solche Aussagen kamen da. Ich bin echt sprachlos, dass das offenbar keine Einzelfälle sind.
Und so wie du es schreibst, ist es ja nicht mal so, dass die Ärzte nicht wollen würden, sonden dass es manchmal tatsächlich einfach nicht geht und wir Kompromisse finden müssen. Aber es ist unglaublich schwer, das für sein Kind hinzunehmen.
Danke, dass du auch dieses schwierige Thema ansprichst.
Heiko
Eine Augen-OP konnte bei uns nicht gemacht werden, weil meine Tochter danach eine Zeit lang das Auge abgeklebt hätte lassen müssen. Das ist undenkbar, dafür hätten wir sie ins künstliche Koma versetzen müssen. Und dann geht genau das los, was du beschrieben hast: abwägen, was angemessen ist und sich ggf. mit etwas weniger Gutem zufriedengeben.
Das ist hart für alle, nicht zuletzt für meine Tochter. Ich glaube, dieses Gefühle kann kaum jemand nachvollziehen.
Ganz liebe Grüße an dich, Tatjana
Zunächst finde ich es gut, dass du das wichtige Thema Autismus und ärztliche Versorgung ansprichst.
Beim Thema Barrierefreiheit in Arztpraxen werden die Bedürfnisse von Menschen im Spektrum id.R. weder berücksichtigt noch sind sie überhaupt bekannt.
Was die MZEB’s für Erwachsene betrifft, wird der tatsächliche Bedarf von Autisten meiner Meinung nach nicht ausreichend gewürdigt, da als Zielgruppe nur Personen mit Lernschwierigkeiten und solche mit Mehrfachbehinderung sowie Merkzeichen akzeptiert werden. Viele Menschen im Spektrum haben auch ohne Merkzeichen und Lernschwierigkeiten erhöhten Unterstützungsbedarf. Darüber hinaus ist es in vielen Teilen Deutschlands praktisch unmöglich, als erwachsener Autist überhaupt eine Diagnose zu bekommen.