Andrea über ihren autistischen Sohn: „Er ist besonders und einzigartig, und so wie er ist, ist er richtig.“

veröffentlicht im Januar 2018


Bis zur Diagnosestellung verging einige Zeit und auch auf den geeigneten Schulplatz musste Jens eine Weile warten. „Jetzt fühlt er sich richtig wohl und hat die langersehnten Erfolgserlebnisse“, erzählt seine Mutter Andrea.
(Namen geändert)

Liebe Andrea, Du hast einen autistischen Sohn – wie alt ist er und welche Diagnose hat er?

Unser Sohn Jens ist acht Jahre alt und hat die Diagnose Asperger mit eingeschränkter Alltagskompetenz und ADHS.

Wann hast Du gemerkt, dass Dein Kind anders ist?

Jens ist mein viertes Kind und schon als Baby war er anders als seine Halbgeschwister. Er war sehr unruhig, hat wenig geschlafen und viel geweint. Er fühlte sich nur in meiner Nähe wohl und hat keinen anderen an sich ran gelassen.
Mit knapp einem Jahr begann er, sich für Automarken zu interressieren. Er zeigte auf die Marken und forderte lautstark zu wissen, wie diese heißen.
Als er anfing zu sprechen, waren es nicht Mama oder Papa, sondern Audi, BMW, Mercedes…..
Spielplätze wollte er nie, lieber ging er mit mir stundenlang durch die Straßen und wollte seine Automarken sehen. Nachdem er alle kannte, wollte er auch andere Marken wissen, egal ob von Lebensmitteln oder Elektrogeräten.

Wie sah der Weg zur Diagnosestellung aus?

Als er feste Nahrung verweigerte, machte ich mir doch etwas Sorgen und suchte das Gespräch mit dem Kinderarzt. Aber dieser tat es einfach als „das wird schon noch kommen“ ab, „ist eben nen Junge, die sind langsamer“.
Wir wandten uns ans SPZ (Sozialpädiatrisches Zentrum). Dort wurde er von Kopf bis Fuß gründlich untersucht, aber raus kam nicht wirklich was.

Wir bekamen die Empfehlung für einen Integrationskindergarten mit den Worten: „Da wird er schon alles lernen und aufholen.“
Gesagt getan. Wir fanden einen Kindergarten mit einer gemischten Gruppe von 20 Kindern im Alter von ein bis fünf Jahren. Die Eingewöhnung verlief problemlos. Er spielte zwar lieber alleine und summte ständig vor sich hin, aber daran schien sich keiner weiter zu stören. Das Essen war aber immer noch ein Riesenproblem.
Mit etwas über drei Jahren fing er dann endlich an, kleine Portionen „Richtiges“ zu sich zu nehmen. Käsebrot und Milch, was auch heute noch seine Hauptnahrung ist. Er probiert zwar mittlerweile immer mehr Sachen, aber ihn dazu zu bewegen, dauert Monate.

Bei den Gesprächen mit den Erziehern wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass er sich anders als normal verhält, aber in ihren Augen noch nicht so extrem, um handeln zu müssen. Immer wieder suchte ich Gespräche, weil mir dies und jenes aufgefallen war.
Er wurde aggressiv, wenn sich sein Rhythmus änderte, wenn spontane Ausflüge gemacht wurden, mit öffentlichen Verkehrsmitteln fuhr er nur sehr ungern, wenn sie voll waren, Geräusche, die er von sich gab, waren nicht mehr nur ab und zu, sondern irgendwann sein ständiger Begleiter.

Nun war er mittlerweile sechs Jahre alt und die Schuluntersuchung stand an. Hoffnung für mich, dass sie da genauer hinschauen und mir zuhören. Fehlanzeige.
Er bekam seine Bescheinigung, ohne dass sie sich wirklich mit ihm befasst hatten.

Schultafel

Er kam an dieselbe Schule, an der auch schon meine anderen Kinder waren. Ich suchte noch am ersten Elternabend das Gespräch mit der Klassenlehrerin und teilte ihr all die Dinge mit, die Jens nicht konnte und wo er Hilfe braucht. Angefangen beim An- und Ausziehen, beim Essen und Trinken (dass er immer daran erinnert werden muss zu essen und zu trinken), dass er sehr viel und teilweise laute Geräusche von sich gibt.
Sie machte mir Mut und meinte, dass wir das schon hinbekämen.
Keine zwei Wochen später wurde ich zum Gespräch eingeladen und auf autistische Züge bei Jens angesprochen.
Ich vereinbarte einen Termin mit einem Facharzt für Kinder-und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Dann suchte ich im Internet nach Informationen zum Thema Autismus.
Was ich da las, traf so ziemlich alles auf Jens zu. Viele Dinge hatte ich bei Jens einfach so hingenommen, weil es eben zu ihm passte, ohne zu wissen, dass es Anzeichen für Autismus sind.

Die Untersuchungen kosteten Jens unheimlich viel Kraft, aber er ließ es tapfer über sich ergehen. Nach vier Monaten teilte der Arzt uns die Diagnose mit: „Asperger mit eingeschränkter Alltagskompetenz und ADHS“.
Mit viel Infomaterial und dem Rat, uns an die Krankenkasse zu wenden, wurden wir entlassen.

Welche Stärken hat Jens?

Jens ist ein wissbegieriger Junge, der fremden Menschen erstmal mit Abstand begegnet. Aber wenn er sie in sein Herz geschlossen hat, bleiben sie da. Er versteht oftmals zwar nicht, warum da Wasser aus den Augen kommt, erkennt aber, wenn jemand traurig ist oder dessen Stimmlage sich verändert.
Er spielt Minecraft mit großer Begeisterung, schaut sich Videos an und stellt diese eins zu eins genauso dar. Jens ist Jens, er ist besonders und einzigartig, und so wie er ist, ist er richtig. Er braucht viel Hilfe im Alltag, aber wenn er einen mit seinen strahlenden dankbaren Augen anschaut, dann weiß ich, wofür ich das alles mache.

In welche Schule geht Jens und wie klappt es dort?

In seinem Bericht hatte der Arzt gefordert, dass Jens umgehend in eine Kleinklasse müsste.
Nun ging das Gerenne zu den Ämtern los. Jugendamt und Bezirksamt, um das zu fordern, was Jens braucht und hilft. Das Jugendamt unterstützte uns mit einem Einzelfallhelfer, der mit Jens einmal pro Woche Unternehmungen machen soll.
Die Schule versuchte zwar auf Jens einzugehen, aber er verweigerte immer mehr. Aus einer Ganztagsschule wurde am Ende nur noch bis 11.00 Uhr Unterricht und dann Abholen mit der Begründung, dass er nicht tragbar sei.
Die Suche nach einer speziellen Förderschule erwies sich als sehr schwierig. Wir schrieben Anträge und wurden vertröstet, dass es keinen Platz gibt, er aber auf der Warteliste steht.
Wärend die andern Kinder lesen schreiben und rechnen konnten, wurde Jens immer frustrierter, weil er das nicht so hinbekam. Er schreibt Buchstaben und Zahlen teilweise in Spiegelschrift.

Am Ende der zweiten Klasse kam dann endlich die ersehnte Nachricht, dass er an einer Förderschule mit Schwerpunkt Autismus einen Platz hat. Ich schaute mir mit Jens zusammen die Schule an und man erklärte uns, was genau ihn dort erwartet.
Er ist in einer Kleinklasse mit fünf anderen Kindern und vier Betreuern, davon zwei Lehrerinnen und zwei Erzieher mit Sonderausbildung Autismus. Es wird viel mit Bildern gearbeitet, was Jens entgegenkommt, da er sich Anweisungen schwer merken kann.
Der Tag ist durchstrukturiert und man arbeitet dort nach Montessori.
Auch wurde für ihn ein Fahrdienst beantragt, da die Schule weiter weg ist und Jens mit öffentlichen Verkehrsmitteln große Probleme hat.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten fährt er nun gerne mit seinem Busfahrer mit. Leider wurde uns nur die Hinfahrt bewilligt, was keiner verstehen kann. Nun kämpfen die Schule und wir darum, dass er auch die Rückfahrt bekommt. Denn es ist für Jens ein enormer Kraftakt, wenn er nach der Schule mit den Öffentlichen fahren muss.
In der Schule selbst fühlt er sich jetzt richtig wohl. Er hat endlich die langersehnten Erfolgserlebnisse, die ihm die Freude am Lernen wiederbringen.

Was ist Dir noch wichtig zu sagen?

Für Jens wünsche ich mir, dass er trotz seiner Ecken und Kanten von der Gesellschaft akzeptiert wird und er nicht ständig zu spüren bekommt, dass er anders ist.

Besten Dank, liebe Andrea, und alles Gute für Dich und Deine Familie :-)

Zum Weiterlesen:

Wie wir unser Leben den Bedürfnissen unseres Kindes anpassten und nicht umgekehrt

Zum Onlinekurs „Autismus und Schule“

Zum Weiterlesen:

KOMMENTARE

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  1. Das klingt alles sehr nach unserem Sohn, nur dass er schon vor Schuleintritt schreiben und lesen konnte.
    Trotzdem findet die Regelschule ihn nicht tragbar.
    Nun ist er zu Hause und Förderschulen mit Schwerpunkt Autismus gibt es hier in Oberbayern nicht :-(

  2. Freut mich sehr, dass Jens mit diesem Schulplatz das sonstige Schuldrama erspart bleibt.
    Ich wünsche Euch alles Gute. :)

    Was mich bei unserem Sohn so verblüfft hat, ist die Aussage von so vielen Menschen, dass es sich schon geben wird, dass er doch alles irgendwie hinbekommt.
    Warum gibt es diese unglaublich vorsichtige Aussage zur Diagnosik? Von Anfang an war klar, dass unser Sohn ein Problem hat. Von Anfang an hat allein mein Umgang ihm geholfen, aber wir hätten so viel Leid und Folgen verhindern können, wenn wir Gewissheit bekommen hätten. Denn ich bin kein Therapeut.

    Ich bin froh, dass es bei Euch so früh erkannt wurde.
    Unser Sohn hat sich bis 17 durch die Regelschule gekämpft.

  3. Bei meinem Enkel, war es auch fast so er konnte nicht reden, der Kinderarzt meinte wir sollen noch warten. Im SPZ wurde die Diagnose gestellt, das SPZ hat uns immer gut unterstützt, nur hatten wir leider das Pech, das mein Enkel nie einen Kindergarten besuchen könnte da wir keinen Platz fanden. Letztes Jahr dürfte er endlich in eine Vorschule (SEV), seit September geht er jetzt in die Schule, wo er sich wohlfühlt. Es ist eine Klasse mit 8 Kindern. Er kann inzwischen auch reden.

  4. War bei mir auch einen längeren Weg…meine Mutter hatte schon als ich Kind war was geahnt aber kein Arzt wollte ihr glauben. Hatte später 2x den Verdacht, der aber irgendwie nicht weiterverfolgt wurde (warum auch immer). Das kam erst heraus, als ich Arztbericht Kopien brauchte (für ein Termin). Schlussendlich bekam ich die Diagnose erst mit 29. Ich bekam dann das Buch von Tony Atwood empfohlen, und da hatte so viel gepasst: Aufmerksamkeitspanne die geringer ist, Koordination Schwierigkeiten, Mobbing, Schwierigkeiten mit Kommunikation, vor allem Smalltalk, usw. Es betrifft so viele Lebensaspekte, leider auch dem Beruf. Es ist unglaublich schwer eine Passende Stelle zu finden und das Bewerbungsgespräch ist eine unvorstellbar hohe Hürde…Gibt es da auch Erfahrungsberichte?

  5. Das kommt mir alles so bekannt vor – die Automarken, das schwierige Essen, die Unruhe…Wir wussten auch recht früh, dass unser Sohn anders ist, die Diagnose Frühkindlicher Autismus, was sich alle in seinem Umfeld seit Jahren dachten, haben wir erst vor 6 Wochen erhalten – nun ist er 11 Jahre alt. Zum Glück geht er auf eine tolle heilpädagogische Waldorfschule, wo er viel lernt und sehr gut aufgehoben ist. Vorher war er in einem Inklusionskindergarten, ist aber aus seinem ersten Kindergarten nach einem Jahr rausgeflogen, weil er als nicht tragbar galt (er war überfordert, der Kindergarten auch)… Nun erwarten wir mit großer Anspannung seine Pubertät…

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