Katrin im Gespräch über ihre Schwester und das GeschwisterNetz der Lebenshilfe

veröffentlicht im Juni 2017


SchwesternKatrin hat eine Schwester mit geistigen Einschränkungen, erzählt für „Ellas Blog“ aus ihrem Leben und gibt anderen Geschwistern und Eltern Tipps. Außerdem berichtet sie vom GeschwisterNetz, das sie initiiert hat.

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Liebe Katrin, Du bist sehr engagiert im Bereich „Geschwister behinderter Kinder“. Wie kommt das? Bist Du selbst ein solches Geschwisterkind?

Ja, meine große Schwester ist geistig beeinträchtigt.

Welche Einschränkungen hat sie?

Meine Schwester ist aufgrund eines Sauerstoffmangels bei der Geburt geistig beeinträchtigt, da sich ihre Nabelschnur um ihren Hals gewickelt hatte. Festgestellt hat man die Folgen dessen allerdings erst um den Zeitpunkt meiner Geburt, als sie selbst etwa drei Jahre alt war. Sie ist damals oft hingefallen, ohne sich dabei mit den Händen abzustützen. Die Ärzte begründeten dies zunächst mit meiner Geburt – also damit, dass sie eifersüchtig sei und Aufmerksamkeit einfordere. Nur weil unsere Eltern sehr beharrlich waren und ihnen zunehmend auch andere Dinge auffielen, konnte in der darauffolgenden Zeit festgestellt werden, dass meine Schwester geistig beeinträchtigt ist. Es ist schwierig, genau zu präzisieren, worin ihre Einschränkungen bestehen, da sie sich auch mit ihren 26 Jahren noch weiterentwickelt. Zudem habe ich gelernt, wertzuschätzen, was sie alles kann, anstatt den Fokus auf ihre Einschränkungen zu legen – auch wenn es nicht immer leicht ist.

Was ist besonders schön im Leben mit Deiner Schwester?

Besonders schön ist es, die Schwester meiner Schwester zu sein. Oft werde ich gefragt, ob ich mir nicht lieber eine „normale“ Schwester wünschen würde – aber was heißt das schon. Es sind besonders die vermeintlich kleinen Dinge, die ich an ihr und unserem Zusammensein schätze. Wenn sie mir beispielsweise schon zu Beginn der Woche schreibt, dass sie sich darauf freut, dass ich am Wochenende nach Hause kommen werde oder mir sagt, dass ich auf mich aufpassen soll und auch mal eine Pause machen sollte. Sie kümmert sich unglaublich gut um andere – sie ist da sehr sensibel und merkt schnell, wenn einen etwas bedrückt oder jemand Hilfe braucht.
Da ich nicht mehr Zuhause wohne, versuche ich so gut es geht, mir Zeit für sie zu nehmen. Wir gehen zum Beispiel unglaublich gerne zusammen ins Kino und gucken die neuen Bibi und Tina Filme oder fahren zusammen shoppen – alles, was Schwestern halt so machen. Vor einiger Zeit hat sie mir von ihrem ersten Kuss erzählt, das war für mich ein sehr besonderer Moment und ich war dankbar, dass sie diese Erfahrung mit mir geteilt hat.

Inwiefern musstest Du als Kind und Jugendliche Rücksicht auf Deine Schwester nehmen?

Ich habe als Kind nie bewusst wahrgenommen, welche Auswirkungen die Beeinträchtigung meiner Schwester auf mein Leben hatte – es war schließlich normal für mich, dass sie in bestimmten Bereichen mehr Aufmerksamkeit benötigte als ich. Ich habe gelernt, das zu akzeptieren und mich dabei, soweit es möglich war, einzubringen. Auch heute fällt es mir noch schwer, diese Frage zu beantworten, da ich mich als Schwester nie benachteiligt gefühlt habe. Ich denke, dass es meinen Eltern gut gelungen ist, da ein Gleichgewicht herzustellen und uns beiden gleichermaßen Aufmerksamkeit entgegen zubringen.

Gab es Situationen, die Du gemein und ungerecht fandest? Und wie bist Du damit umgegangen?

Ja es gab solche Situationen, aber nicht innerhalb meiner Familie. Ich bin immer sehr offen mit der Beeinträchtigung meiner Schwester umgegangen, da ich es nie als etwas Schlimmes empfand. Dass diese Ansicht nicht jeder teilte, wurde mir dann auf der weiterführenden Schule bewusst. Dort habe ich diese regelrechte Abneigung gegen Menschen mit einer Beeinträchtigung sehr deutlich von meinen Mitschüler*innen zu spüren bekommen. Ich habe viel mit meinen Eltern und einer Sozialarbeiterin darüber gesprochen, aber letztlich konnte ich die Auffassung von den anderen ja auch nicht ändern. Erst im Laufe der Jahre konnten sie ihre Meinung ändern und einige von ihnen arbeiten heute sogar in diesem Bereich.

Was hat Dir als Schwester am meisten geholfen?

Definitiv der Rückhalt meiner Eltern, aber auch die Werte und Ansichten, die sie mir vermittelt haben. Dass eine Beeinträchtigung nichts Negatives ist, sondern auch als Bereicherung angesehen werden kann. Sie haben mich stets mit einbezogen und mir vermittelt, was ich auch in meinem Studium gelernt habe: Vielfalt ist eine Bereicherung. Ich glaube, dass viel auch von der Einstellung abhängt. Das mag sich vielleicht alles so einfach daher gesagt und vielleicht auch wie durch eine rosarote Brille betrachtet anhören, aber letztlich ist es doch eine Frage der Perspektive: ist das Glas halb voll oder halb leer? Ich habe mich auch dank meiner Eltern dafür entschieden, dass das Glas halb voll ist.

Hast Du Tipps für Geschwister, die eine behinderte Schwester oder einen behinderten Bruder haben?

Seht euer Geschwister niemals als Belastung, sondern als Bereicherung. Hinterfragt nicht die Gründe, sondern akzeptiert die Dinge, wie sie sind. Sprecht mit euren Eltern und euren Geschwistern über alles, was euch beschäftigt und nehmt euch Zeit für sie. Und was für mich erst recht spät ein Thema wurde: Tauscht euch aus mit anderen Geschwistern. Ich weiß, dass es nicht immer einfach ist und dass es Tage gibt und geben darf, an denen das Glas auch mal halb leer ist – aber ihr seid damit nicht alleine und manchmal tut es gut, genau das auch mal von jemandem zu hören, der nicht Teil der Familie ist oder als Außenstehender versucht, Empathie zu zeigen.

Hast Du Tipps, die Eltern unbedingt berücksichtigen sollten?

Eltern sollten nie die Einschränkung ihres beeinträchtigten Kindes dominieren lassen und darüber hinaus die Bedürfnisse ihrer anderen Kinder in den Hintergrund stellen. Sie sollten versuchen einen guten Mittelweg zu finden, indem sie die Geschwister zwar einbinden, sich aber bewusst Zeit zu zweit bzw. zu dritt nehmen. Sie sollten – auch über Probleme – offen mit ihren Kindern sprechen und ihnen stets den Rücken stärken, sodass auch sie mit ihnen offen sprechen können. Es ist unglaublich wichtig, dass die Geschwister ihre eigenen Sorgen und Probleme nicht in den Hintergrund stellen (müssen), weil sie sie im Vergleich für unwichtig erachten. Und falls die Kinder andeuten, dass sie das Bedürfnis haben, sich mit anderen Geschwistern auszutauschen, dann sollten sie versuchen darauf einzugehen, ihnen Perspektiven aufzeigen und ihnen eben diesen Austausch ermöglichen.

Hat sich Deine familiäre Situation auf Deinen Berufswunsch ausgewirkt?

Als ich Kind war noch nicht, da wollte ich Bibliothekarin oder Biologin werden. Erst als ich über meine ehrenamtliche Arbeit bei der Lebenshilfe andere Betreuende kennengelernt habe, die bereits Sonderpädagogik studierten, hat sich für mich diese Option aufgetan. Vorher hatte ich nie darüber nachgedacht, aber da wurde mir bewusst, dass es genau das ist, was ich mal machen möchte. Heute studiere ich Förderpädagogik im Master und werde später als Lehrerin an einer Förderschule oder in der Inklusion arbeiten. Ich würde nicht sagen, dass die Beeinträchtigung meiner Schwester der primäre Grund dafür ist – aber wer weiß, ob ich ohne sie das Ehrenamt ergriffen und die anderen kennengelernt hätte?

Du hast das GeschwisterNetz ins Leben gerufen. Was ist das genau?

Das GeschwisterNetz ist eine Online-Plattform für erwachsene Geschwister von Menschen mit Beeinträchtigungen jeglicher Art. Es ist in Zusammenarbeit mit der Bundesvereinigung Lebenshilfe entstanden, die damals erwachsene Geschwister suchten, um eine Möglichkeit zum Austausch zu schaffen. Wir haben zusammen überlegt, welche Erwartungen und Wünsche wir an so ein Forum hätten und so ist schließlich das GeschwisterNetz entstanden. Wir haben damit einen Raum geschaffen, in dem Fragen gestellt, Meinungen ausgetauscht, Kontakte hergestellt und schließlich sogar Treffen organisiert werden können.

Du betreust selbst Ferienfreizeiten. Von wem sind die Angebote und an wen richten sie sich?

Ich arbeite jetzt schon seit einigen Jahren ehrenamtlich bei der Lebenshilfe und begleite und leite dort Ferienfreizeiten für Menschen mit Beeinträchtigungen. Zusammen mit meinem Freund, dessen Schwester das Down-Syndrom hat und der auch an der Entstehung des GeschwisterNetz‘ beteiligt war, hat unser Chef sich für dieses Jahr aber etwas besonderes überlegt und das erste Mal für Ende des Jahres ein Geschwister-Wochenende geplant. Genauere Informationen dazu folgen erst noch. Ich gebe dann gerne wieder Bescheid.

Ja, das wäre toll! :-)

Gibt es sonst noch etwas Wichtiges, das Du loswerden möchtest?

Ich hoffe, dass ich etwas dafür sensibilisieren konnte, dass auch Geschwister von Menschen mit Beeinträchtigungen wichtig sind und keinesfalls hinten anstehen sollten – denn leider werden sie oft (unbewusst) in den Hintergrund gestellt, dabei sind sie doch genauso wichtig, wie ihre Geschwister auch.

Danke, liebe Katrin, für das Interview. Ich freue mich, dass Du als kompetente Schwester in eigener Sache und für all die vielen anderen Geschwisterkinder für „Ellas Blog“ erzählt hast. Alles alles Gute für Dich und Deine Familie :-)

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