Ursprünglich wurde das Konzept der Neurodiversität aus der Motivation heraus entwickelt, Vielfalt neurologischer Denk- und Wahrnehmungsweisen nicht länger als Krankheit zu betrachten, sondern als Teil des menschlichen Seins.
Der Begriff Neurodivergenz wurde eingeführt, um Personen zu beschreiben, deren neurologische Funktionsweise von der als „typisch“ geltenden abweicht, ohne dabei automatisch von einer Störung oder Krankheit zu sprechen.
Soweit, so gut: Sprache ist wichtig. Sprache formt Haltung. Und die Idee, dass niemand sich mehr als „krank“ fühlen muss, nur weil er anders denkt, anders fühlt oder sich anders verhält, ist absolut unterstützenswert.
Aber genau hier beginnt mein inneres Stolpern. Denn wenn ich auf meinen eigenen Alltag schaue – auf das Leben mit einem autistischen Kind mit komplexer Behinderung, hohem Unterstützungs- und Pflegebedarf – dann frage ich mich: Wird mein Kind da eigentlich noch mitgedacht? Oder ist dieses neue Selbstverständnis, das viele heute für sich beanspruchen, eher für diejenigen gemacht, die relativ selbstbestimmt leben können?
Ich will das Konzept der Neurodiversität nicht schlechtreden. Im Gegenteil. Ich möchte es ernst nehmen und genau da, wo es gut klingt, aber nicht mehr alle erreicht, hinterfragen.
Was in Diskursen oft untergeht, ist die Realität derjenigen, die nicht allein durch ein neues Label mehr Teilhabe bekommen. Ich meine diejenigen, die keine Plattform haben, um über sich selbst zu sprechen, die rund um die Uhr begleitet, gepflegt oder unterstützt werden müssen.
Wer wird also wirklich gesehen? Und wer nicht?
Dieser Frage möchte ich in diesem Beitrag als Einladung zur differenzierteren Auseinandersetzung nachgehen.

Was heißt eigentlich neurodivers, neurodivergent und neurotypisch?
Der Begriff Neurodiversität beschreibt erst einmal etwas ganz Allgemeines: die Tatsache, dass menschliche Gehirne unterschiedlich funktionieren. Der eine denkt sehr logisch, die andere sehr bildhaft, manche nehmen Geräusche intensiver wahr, andere reagieren besonders empfindlich auf soziale Spannungen. Diese Vielfalt ist normal. Und genau das möchte der Begriff sichtbar machen: Unterschiede im Denken und Wahrnehmen sind keine Fehler, sondern Ausdruck menschlicher Diversität.
Neurodivergenz wiederum bezeichnet Menschen, deren neurologische Funktionsweise von dem abweicht, was in einer bestimmten Gesellschaft als „typisch“ gilt. Dazu gehören zum Beispiel Menschen im Autismus-Spektrum, mit ADHS, Tourette, Legasthenie, Dyskalkulie oder auditiver Verarbeitungsstörung. Auch weitere Erscheinungsformen werden hier und da eingeschlossen, je nachdem, wie weit man den Begriff fasst.
Und genau hier wird es spannend und meiner Meinung nach auch schwierig. Denn was als „typisch“ gilt, ist kein objektiver Zustand, sondern eine gesellschaftliche Konstruktion. In jeder Kultur, zu jeder Zeit gab (und gibt) es bestimmte Vorstellungen davon, was als „normal“ gilt. Wer zu viel redet, zu wenig Blickkontakt hält, sich schwer tut mit spontanen Veränderungen oder einfach einen anderen Zugang zur Welt hat, wird oft als „auffällig“ eingeordnet.
Aus dieser Unterscheidung entstanden die Begriffe „neurotypisch“ und „neurodivergent“.
Was wichtig ist: Diese Begriffe stammen nicht aus der medizinischen Diagnostik. Sie wurden geschaffen, um einen neuen Blick zu ermöglichen, nicht, um Diagnosen zu ersetzen. Gerade für Menschen, die ihr Leben lang das Gefühl hatten, irgendwie „nicht richtig“ zu sein, kann es entlastend sein, eine Sprache zu finden, die nicht gleich den Defekt in den Vordergrund stellt. Das ist für mich absolut nachvollziehbar.
Dennoch stellt sich für mich die Frage, wer eigentlich wirklich gemeint ist und für wen die Begriffe tatsächlich hilfreich sind. Wenn heute fast jede Eigenheit unter neurodivergent gefasst wird – von ADHS über Hochbegabung bis zu Synästhesie oder Sensibilität – dann stellt sich irgendwann die Frage: Wo fängt Neurodivergenz an und wo hört sie auf? Und was bedeutet das für Menschen, die ohne dauerhafte Unterstützung und Pflege gar nicht durch den Alltag kommen? Und melden sich diese Personen eigentlich dazu zu Wort? Können sie das überhaupt?
Wenn Vielfalt zu viel verwischt
Ich kann sehr gut nachvollziehen, warum die Idee der Neurodiversität für viele Menschen so befreiend ist. Endlich nicht mehr „falsch“, sondern eben „anders“. Endlich nicht mehr das Gefühl, angepasst werden zu müssen, sondern gesehen zu werden, wie man ist. Diese Perspektive hat vielen geholfen und tut es noch und das ist absolut begrüßenswert und ein großer Fortschritt.
Doch so sehr ich den Grundgedanken teile, so sehr irritiert mich, wie schnell Begriffe wie „neurodivers“ oder „neurodivergent“ heute verwendet werden, oft ohne Kontext, ohne Differenzierung, ohne Rücksicht auf den tatsächlichen Alltag der jeweiligen Person.
Gerade im Autismus-Kontext zeigt sich diese Spannung besonders deutlich. Der Begriff Autismus-Spektrum wurde unter anderem deshalb eingeführt, um die Vielfalt innerhalb der Diagnose abzubilden und das sog. Schubladendenken aufzuheben. Es umfasst sehr subtil (manchmal maskierte) bis stark ausgeprägte Formen.
Ein sprechender, hochbegabter junger Erwachsener, der sich als „neurodivergent“ beschreibt, gehört genauso zum Autismus-Spektrum wie ein Kind, das intensive Pflege, strukturierte Tagesbegleitung und Assistenz rund um die Uhr braucht. Beide haben eine Autismusdiagnose, aber ihre Lebensrealität könnte kaum unterschiedlicher sein.
Ich frage mich inzwischen, ob das Spektrum nicht inzwischen zu einem Begriff geworden ist, der zwar viele vereint, aber genau deshalb diejenigen verliert, die nicht selbst erklären können, was sie brauchen.
Natürlich sollen sich möglichst viele Menschen wiederfinden können. Aber nicht auf Kosten derjenigen, die auf andere angewiesen sind, um überhaupt mitgedacht zu werden.
Neurodivergenz oder Behinderung?
Autismus, ADHS, Legasthenie, Hochbegabung, Hochsensibilität, Dyspraxie, Tourette, Depression, Synästhesie, Trauma-Folgen – die Liste wird immer länger. Und mit jeder Erweiterung verliert der Begriff ein Stück seiner Schärfe. Das, was andere genauso beabsichtigen, empfinde ich als schwierig.
Ich verstehe, was dahintersteckt: Wer sich mit einer bestimmten Wahrnehmungsweise oder Reizverarbeitung nicht in der Norm wiederfindet, möchte das benennen dürfen, ohne gleich den Stempel „krank“ zu bekommen. Das ist menschlich. Und es ist gut, dass es dafür eine Sprache gibt.
Aber: Wenn alles unter dem Begriff „neurodivergent“ gefasst wird, wird es irgendwann schwierig, zwischen „anders sein“ und „behindert sein“ zu unterscheiden. Und genau das ist im Alltag entscheidend.
Viele Menschen lehnen inzwischen den Begriff „Behinderung“ ab, weil sie sich selbst nicht als behindert erleben. Auch das kann ich nachvollziehen. Nur frage ich mich: Wer spricht da eigentlich?
Oft sind es genau diejenigen, die trotz gewisser Einschränkungen weitgehend selbstbestimmt leben können. Das ist eine Perspektive, aber es ist eben nicht die einzige.
Was ist mit den Menschen, die sich sehr wohl als behindert sehen? Was ist mit denen, die gar keine Möglichkeit haben, sich sprachlich selbst zu positionieren? Wenn aus Rücksicht auf die einen der Begriff Behinderung für alle verschwindet, wir nur noch von „anders begabt“, „besonders“, „beeinträchtigt“ oder eben „neurodivergent“ sprechen, dann ist das keine Inklusion, sondern im Grunde eine neue Form der Ausgrenzung.
Denn wer nicht mehr benannt wird oder sogar kritisiert wird, wenn er sich selbst als behindert bezeichnet, wird auch nicht mehr berücksichtigt.
Sprache kann entlasten. Aber sie darf nicht verdecken, was ist. Und manchmal braucht es eben auch Begriffe, die unangenehm, aber notwendig sind, um konkrete Lebensrealitäten und Unterstützungsbedarfe sichtbar zu machen.
Wenn wir Behinderung sprachlich zu sehr abschwächen oder vermeiden, führt das paradoxerweise nicht zu mehr Teilhabe, sondern zu weniger. Denn wer nicht mehr klar sagen kann, was er oder sie braucht, bekommt auch schwerer Zugang zu Leistungen, Schutz oder Unterstützung.
Es geht nicht um Begriffe, sondern um Lebensrealitäten
Wenn ich auf die aktuelle Debatte schaue, sehe ich viele gute Entwicklungen. Es ist wichtig, dass neurodivergente Menschen sich als Teil einer vielfältigen Gesellschaft sehen können, und zwar mit all ihren Eigenarten, Stärken und Besonderheiten.
Und ja, viele dieser Eigenschaften sind im richtigen Umfeld eingebettet tatsächlich Stärken, z.B. autistische Kinder, die Muster schnell erfassen oder Menschen mit ADHS, die unerschrocken Neues ausprobieren. Das sind wertvolle Potenziale, aber sie entstehen nicht einfach so. Sie brauchen Unterstützung, Akzeptanz, geeignete Räume und manchmal auch viel Struktur und Schutz.
Stärkenorientierung allein reicht aber nicht.
Sie darf kein Zuckerguss über einer Realität sein, die anstrengend, fordernd und manchmal einfach ungerecht ist. Ich wünsche mir eine Begleitung, die Mut macht und Potenziale stärkt, aber auch aushält, dass nicht jeder Alltag „besonders begabt“ ist, sondern oft schlicht herausfordernd und per se auf eine Behinderung zurückzuführen, die Teilhabe erschwert.
Ich wünsche mir, dass wir uns trauen, Unterschiede stehenzulassen.
Nicht alles gehört automatisch zusammen. Nicht jede Form von Neurodivergenz bedeutet, braucht und will dasselbe. Wenn wir das ignorieren, nehmen wir den Menschen mit hohem Unterstützungs- und Pflegebedarf die Sprache, die sie brauchen, um für sich (oder durch andere) sprechen zu können.
Neurodiversität ist ein wichtiger Impuls, aber sie ist nicht die Lösung für alles.
Wenn du mit neurodivergenten Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen arbeitest oder lebst, dann weißt du längst: Es gibt keine Begriffe, die alles erklären. Aber es gibt Haltungen, die tragen.
Vielleicht ist es genau das, was bleibt: Weniger Etiketten, mehr echtes Interesse. Und den Mut, auch unbequeme Realitäten immer wieder sichtbar zu machen – mit Respekt, aber ohne Beschönigung.
Danke, dass du hier mitliest ♥
Zum Weiterlesen:
Mitgemeint ist nicht mitgedacht – wer spricht für die Unsichtbaren?
Liebe Silke, wie immer, dein Blog ist hervorragend! Aktueller über Neurodiversität/Neurodivergenz ist "hervorglänzend"….
Ich teile deine Meinung vollkommen!
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen!
Herzliche Grüße und mach weiter so!
Ulrike
[Mutter einer fast 21jährigen Tochter mit frühkindlichem Autismus und Syndrom]
Liebe Ulrike,
danke für Deinen Kommentar. Es freut mich sehr, dass Du dich in den Worten wiederfindest.
Beste Grüße, Silke ♥
Also, dass das auch mal jemand sagt – Hut ab!
Ich fühle mich sowas von gesehen und abgeholt von Deinen Worten. Hab vielen Dank dafür.
Viele Grüße
Martina
Liebe Martina,
das freut mich sehr. Es tut auch mir gut zu lesen, dass sich andere gesehen fühlen. Danke dafür.
Viele Grüße, Silke
Liebe Silke,
vielen Dank für diesen Beitrag. Ich dachte schon, dass nur ich so kritisch denke und das hinterfrage. Denn alle Welt redet von Neurodivergenz, als ob es der Weisheit letzter Schluss wäre.
Ich fühle mich mit meiner familie aber überhaupt nicht davon angesprochen, weil wir eine mehrfachbehinderte Tochter haben, die nicht einfach nur ein bisschen anders ist, sondern gravierende, existenzielle Probleme hat. Diese Schönfärberei bringt uns nicht weiter, sondern verhindert eher, dass wir die Hilfe bekommen, die wir brauchen.
Danke für Deine Arbeit
Sabine
Liebe Sabine,
danke für Deinen Kommentar und für Deine Meinung. Aus der Elternarbeit weiß ich, dass es vielen so geht, wie Dir – und auch mir.
Danke, dass Du sichtbar machst, dass es keine Einzelmeinung ist.
Alles Gute für Dich und Deine Familie
♥ Silke
Liebe Silke,
erst letzte Woche sagte wieder jemand zu mir: "ach Dein Sohn ist auch neurodivergent. Was hat er denn für eine besondere Stärke." Ich könnte heulen, weil die Aufklärung in dieser Richtung mit komplexer Behinderung einfach nicht greift. Die Leute verstehen es nicht, weil immer andere im Fokus stehen. Und das Schlimme daran, dieses Unverständnis wächst auch bei den Behörden und wir bekommen nicht mehr die Hilfen, die uns zustehen, weil alle Welt nur noch diese wunderbaren neuen Worte im Sinn hat. Ein gefundenes Fressen für diejenigen, die etwas zu bewilligen haben.
Danke für Deine Worte, Deine Arbeit, Deinen Mut. Ich hoffe, Du bekommst nicht allzu viel Gegenwind.
Beste Grüße Bob
Hallo lieber Bob,
ja solche Fragen kenne ich. Sie sind gut gemeint und die Leute wissen es einfach nicht besser – und genau das muss sich ändern.
Der Gegenwind wird natürlich kommen, aber das halte ich dann aus. Dabei helfen auch die positiven Rückmeldungen hier und per Mail.
Alles, alles Gute und danke für Deine Wertschätzung
Silke
Hallo Silke,
ich bin Autistin und ich würde mir niemals anmaßen, über andere im Spektrum aufzuklären, die ganz anders sind als ich. Ich mag Deine Arbeit, weil sie reflektiert und leidenschaftlich ist. Es ist sehr inspirierend. Und ich wünsche alles Gute
Gudrun
Liebe Gudrun,
ich freue mich über Deinen Kommentar – danke dafür. Deine Worte zeigen, dass auch Du sehr reflektiert bist.
Das „inspirierend“ nehme ich auch gerne mit :-) vielen lieben Dank dafür.
♥ Silke
„Viele Menschen lehnen inzwischen den Begriff „Behinderung“ ab, weil sie sich selbst nicht als behindert erleben.“
Nur weil viele Menschen den Begriff Behinderung inzwischen ablehnen, da sie sich selbst nicht als behindert erleben oder sehen, ist das für mich persönlich noch lange kein Grund den Begriff Behinderung ebenfalls abzulehnen.
Vielleicht haben diese Menschen ja auch keine „wirkliche“ Behinderung sondern allenfalls einige Einschränkungen oder Schwierigkeiten die ihnen „ein wenig“ zu schaffen machen. Da verstehe ich ja schon dass sie den Begriff Behinderung eher ablehnen.
Ich persönlich erlebe mich jedoch als behindert und möchte das auch zum Ausdruck bringen dürfen. Kein anderer kann nachempfinden wie ich mich erlebe oder wie ich mich fühle, das kann nur ich selbst.
(Du bist, was du fühlst, denkst und glaubst….Gelesen in „Die 8 Dimensionen des Menschen“)
Wenn es schon so schlaue "Sprüche" gibt die über Teile des Menschlichen Seins informieren, dann möchte ich auch davon Gebrauch machen dürfen und für meinen Teil des menschlichen Seins sprechen.
Zudem schreibt ja jeder was anderes was Teil des Menschlichen Seins ist. Die einen sprechen von den 4 Ebenen des Menschseins, andere von 5 Ebenen oder auch 12 Ebenen oder aber von 8 Dimensionen des Menschen.
Ich fühle mich zum Beispiel darin behindert keine Freude über einen Erfolg zum Ausdruck bringen zu können, oder aber tiefe Trauer wegen eines Verlustes empfinden zu können. Und ein positiver Glaubenssatz wie „Ich bin wertvoll“ gibt mir persönlich leider keine Kraft, auch wenn einige mir immer wieder solche Ratschläge erteilen.
Und ein negativer Satz wie „Ich bin nicht gut genug“ schwächt mich persönlich nicht. Also alles nicht Hilfreich.
Gewisse Einschränkungen in meinem Alltag behindern mich nun mal sehr wohl, auch wenn ich weitgehend selbstbestimmt leben kann. Dennoch ist jeder Tag eine neue Herausforderung für mich die es irgendwie gilt zu bewältigen und oft ist es leider auch frustrierend.
Mir wird ja leider immer wieder vorgeworfen dass ich den typischen Klischee Autisten bedienen würde, aber was nun mal Fakt ist ist nun mal Fakt. :)
Wer nun meint dass er mich dafür kritisieren muss, soll es von mir aus tun. Er hat das Recht dazu, aber ich habe auch Rechte und möchte davon Gebrauch machen dürfen.
Und Menschen die dies selbst nicht zum Ausdruck bringen können brauchen nun mal jemand Anderen der dies für ihn tut. Das Recht steht dem Betroffenen doch zu und das ist auch gut so.
Liebe Zarina,
ganz herzlichen Dank! Wie kraftvoll Deine Worte sind und wie selbstbewusst!
Einmal mehr ein wunderbarer und bereichernder Kommentar von Dir.
Ich wünsche Dir von Herzen diejenigen Menschen um Dich herum, die Dich genauso respektieren.
Herzlichst, Silke ♥
Ich finde es gut, dass wir heute auf einen sensiblen Sprachgebrauch achten. Dass wir neue Begriffe schaffen, um Veränderungen und neue gesellschaftliche Realitäten abzubilden.
Bei allen Chancen liegt darin aber auch immer eine Gefahr. Die Gefahr, dass bestimmte Begriffe sich verselbständigen und zur Ideologie werden. Dann haben sie nichts Verbindendes mehr, sondern etwas Ausgrenzendes und Trennendes.
Ich habe mir angewöhnt, Worte und Begriffe nicht zu wichtig nehmen, mich nicht darüber zu definieren. Sondern lieber zu fragen, was für eine tiefer liegende Idee steckt hinter einem Wort? Dann kann ich für diese Idee einstehen, ohne das Wort selbst benutzen zu müssen. Ich kann für Neurodiversität einstehen, ohne das Wort auszusprechen ‒ einfach nur durch stilles Handeln. Ich kann für Inklusion einstehen, ohne das Wort „an die große Glocke“ zu hängen.
Worte dürfen niemals zum Selbstzweck oder gar zu Kampfbegriffen werden. Worte sind so etwas wie Wegweiser, die auf eine tieferliegende Idee weisen. Sie sind nicht die Idee selbst. Sie sind nur Hilfsmittel, um eine Idee sichtbar zu machen, eine bestimmte Werthaltung auszudrücken. Die eigentliche Idee kann nur mit dem Herzen gelebt werden. Wenn wir uns das bewusst machen, laufen wir vielleicht weniger Gefahr, das Worte zweckentfremdet werden und die eigentliche Idee überstrahlen.
Lieber Dario, vielen lieben Dank für diesen wertvollen Gedankenimpuls – ich musste deinen Kommentar mehrfach lesen, weil so viel drinsteckt, was mich ebenfalls beschäftigt.
Gerade einer deiner letzten Sätze hat mich sehr berührt: „Die eigentliche Idee kann nur mit dem Herzen gelebt werden.“
Genau das trifft es für mich auch. Sprache ist wichtig, ja – aber wenn sie sich zu weit von gelebter Haltung entfernt, dann verliert sie an Bodenhaftung. Dann wird diskutiert, was gesagt wurde – nicht mehr, was gemeint war oder wie wir miteinander umgehen.
Herzliche Grüße
Silke