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Zwischen Forschung und Erfahrung – was neue Studien über Autismus verraten

veröffentlicht von Silke Bauerfeind im Oktober 2025


Essay: Über Genetik, Lebensrealität und die Notwendigkeit, Unterschiede wieder klar zu benennen.

In letzter Zeit liest man vermehrt Überschriften wie „Autismus ist keine einheitliche Störung“ oder „Forschende entdecken zwei Arten von Autismus“ oder „Neue Studie enthüllt den Autismus-Code“. So etwas bleibt natürlich hängen, besonders wenn man schon viele Jahre mit dem Thema zu tun hat. Ich bin in den letzten Tagen und Wochen häufig darauf angesprochen worden und deshalb gibt es heute diesen kleinen Beitrag, der ein bisschen Licht ins Dunkel bringen soll, aber auch die Fragezeichen dort lässt, wo sie immer noch hingehören und wie das bei einem Essay üblich ist, auch persönlich gefärbt ist.

DNA Struktur

Transparenz: Dieses Bild wurde mit dem KI-Tool DALL·E (OpenAI) erstellt und anschließend nachbearbeitet. Erstellt im Oktober 2025

Was die neue Studie wirklich untersucht hat

Viele Titel sind reißerisch, wecken Hoffnung, manchmal auch Empörung. Trotzdem lohnt es sich, bei dieser aktuellen Studie mal genauer hinzuschen.
Sie wurde am 1. Oktober 2025 in Nature veröffentlicht und stammt von einem internationalen Forschungsteam um Xinhe Zhang und Varun Warrier von der Universität Cambridge. Sie zeigt:
Autismus, der in der frühen Kindheit diagnostiziert wird, unterscheidet sich genetisch und entwicklungsmäßig von Autismus, der erst später im Leben festgestellt wird.
(Quelle: https://www.nature.com/articles/s41586-025-09542-6)

Das stellt die gängige Vorstellung infrage, dass es sich bei Autismus um eine einzige, einheitliche Störung handelt. Gerät damit die Bezeichnung Autismus-Spektrum wieder ins Wanken?
Die Forschenden analysierten Daten aus vier großen Geburtskohorten und genetische Informationen von mehr als 45.000 Personen.

Die Ergebnisse sind bemerkenswert:

  • Früh diagnostizierte Kinder (vor dem 7. Lebensjahr) zeigten häufiger allgemeine Entwicklungsverzögerungen, geistige Beeinträchtigungen sowie deutliche Auffälligkeiten in Sprache und Motorik.
    Sie hatten außerdem häufiger seltene, stärker wirkende genetische Varianten, sogenannte de-novo-Mutationen.
  • Später diagnostizierte Kinder und Jugendliche hatten dagegen oft eine unauffällige frühe Entwicklung, zeigten aber im Laufe der Zeit subtilere Verhaltens- und Wahrnehmungsunterschiede.
    Sie wiesen häufiger Komorbiditäten wie ADHS oder Depressionen auf und hatten genetische Risikoprofile, die eher mit diesen Begleiterkrankungen als mit frühkindlichem Autismus verwandt waren.

Die Forschenden betonen: Das Diagnosealter ist kein Zufall oder bloß ein Zeichen dafür, dass man „mildere Fälle“ später erkennt. Es scheint tatsächlich eine biologische Bedeutung zu haben.

Oder, wie es Professor Elliot Tucker-Drob von der University of Texas formulierte:
(Quelle: https://www.nature.com/articles/d41586-025-02825-y)

„Der Zeitpunkt der Autismusdiagnose ist nicht einfach ein Artefakt der Erkennung, sondern ein primäres Merkmal, das verschiedene Formen von Autismus voneinander unterscheidet.“

Autismus als Sammelbegriff – ein alter Gedanke bekommt neue Daten

Womöglich ist es doch wieder an der Zeit zu fragen, mit welcher Art von Autismus wir es zu tun haben, wenn es zum Beispiel darum geht, sich für oder gegen eine Therapie zu entscheiden, Bedarfe zu ermitteln und prägende Lebensentscheidungen mit Autistinnen und Autisten zu treffen.
Die Differenzierung, die so gerne als Schubladenken abgekanzelt wird, hat sicherlich auch einiges für sich. Vor allem werden Menschen wieder sichtbarer, die in Debatten rund um das Autismus-Spektrum und Neurodiversität so selten mitgedacht werden.

Mit dem Begriff Autismus-Spektrum wollte man ursprünglich genau das Gegenteil erreichen: Unterschiede anerkennen, Übergänge sichtbar machen und Schubladendenken vermeiden. Das war richtig und notwendig.
Aber in der Praxis hat diese Vereinheitlichung auch dazu geführt, dass reale Unterschiede verwischen.
Wer mit einem autistischen Erwachsenen lebt, der nonverbal ist, komplexe Behinderungen hat und rund um die Uhr Unterstützung braucht, lebt eine ganz andere Realität als jemand, der erst mit 35 eine Diagnose bekommt und sein Leben weitgehend selbstbestimmt führt, wenn auch mit Unterstützung.

Der Begriff Neurodiversität hat diese Verwischung noch verstärkt.
Er betont zu Recht die Gleichwertigkeit verschiedener Denk- und Wahrnehmungsweisen, aber er hat auch dazu geführt, dass die Stimmen derjenigen, die viel Unterstützung brauchen, seltener vorkommen.
Weil es schlicht mehr Menschen gibt, die keinen hohen Pflege- oder Assistenzbedarf haben, entsteht ein Ungleichgewicht. Vielleicht kann diese neue Forschung dazu beitragen, dass wieder mehr Bewusstsein und Sichtbarkeit für diese Gruppe entsteht.

Realität, Ideologie und Alltag

Familien erleben täglich, dass es einen Unterschied macht, ob ein Kind spricht oder nicht, ob es komplexe Sprache versteht oder nicht, ob es sich selbst versorgen kann, ob es im Alltag eigenständig handeln kann oder dauerhaft auf Assistenz angewiesen ist.
Zu hören, dass es für diese Unterschiede biologische Grundlagen gibt, kann entlastend sein.
Es bedeutet nicht, dass man Menschen in „schwere“ und „leichte“ Fälle einteilen sollte. Aber es bedeutet, dass wir aufhören können, so zu tun, als bräuchten alle dieselbe Art von Unterstützung, für deren Skala dann ein Wettlauf für das Ranking beginnt.

Wenn man anerkennt, dass manche genetische Varianten das Gehirn stärker beeinflussen als andere, dann ist es logisch, dass auch die Auswirkungen unterschiedlich sind. Manche Familien, deren Kinder einen sehr hohen Pflege- und Unterstützungsbedarf haben, fühlen sich inzwischen ohnehin mehr dem Themenfeld komplexe Behinderung oder Mehrfachbehinderung zugehörig als der sogenannten Autismus-Szene.
Dort werden ihre Herausforderungen oft ernster genommen, realistischer besprochen und weniger ideologisch diskutiert. Auch das sagt viel darüber, wie stark sich der öffentliche Diskurs von der Lebensrealität vieler Familien entfernt hat.

Was das mit der Neurodiversitäts-Debatte zu tun hat

Hier wird es spannend, denn genau an dieser Stelle stoßen wissenschaftliche Erkenntnisse und gesellschaftliche Diskurse aufeinander.
Ich habe in meinem Beitrag „Neurodiversität und Neurodivergenz – wer sich darin wiederfindet und wer nicht“ beschrieben, dass sich viele Familien von schwer beeinträchtigten Autistinnen und Autisten in dieser Bewegung nicht wiederfinden. Nicht, weil sie Vielfalt ablehnen, sondern weil ihre Realität oft gar nicht vorkommt.

Wenn in Diskussionen über Neurodivergenz vor allem die Stimmen derjenigen dominieren, die selbst sprechen, reflektieren und argumentieren können, dann entsteht ein verkürztes Bild von Autismus:
Eines, das von Selbstwahrnehmung, Identität und Rechten handelt, aber nicht vom täglichen Unterstützungsbedarf, von Pflege und von Familien, die Tag und Nacht begleiten.
Die neuen Studien bestätigen, dass diese Unterschiede nicht eingebildet oder gesellschaftlich „gemacht“ sind, sondern auch biologische Wurzeln haben können.

Wer nicht sprechen kann, wer keine Gefahr erkennt, wer nicht eigenständig essen, sich anziehen oder kommunizieren kann, braucht eine andere Art von Begleitung als jemand, der in sozialen Kontexten aneckt oder sich in einem beruflichen Umfeld überfordert fühlt und gemobbt wird.
Beides ist real, beides verdient Verständnis, aber es ist nicht dasselbe in unterschiedlicher Abstufung.

Diese neuen Erkenntnisse könnten langfristig auch dazu beitragen, dass man Autistinnen und Autisten, die existenzielle Unterstützung benötigen und sich nicht anpassen oder kompensieren können, diese Erwartungen endlich nicht mehr auferlegt.
Dass sie nicht weiter aus den Systemen gedrängt werden, weil ihre Förderung zu aufwendig oder zu teuer ist, sondern dass ihre Bedarfe als ebenso legitim gelten wie alle anderen und nicht gegeneinander aufgerechnet werden.
Und vielleicht tragen sie auch dazu bei, dass man endlich aufhört, nach „Schuldigen“ zu suchen (meist bei den Eltern), sondern versteht, dass hier andere Voraussetzungen vorliegen.

Zwischen Forschung und Alltag

Natürlich sind die neuen Erkenntnisse kein Freifahrtschein, um Autismus in zwei saubere Gruppen zu teilen.
Die Forschenden selbst warnen davor, die Ergebnisse zu verallgemeinern.
Sie weisen darauf hin, dass das Diagnosealter nicht nur biologisch bedingt ist, sondern auch von sozialen und kulturellen Faktoren abhängt, etwa davon, wann Eltern und Fachkräfte Auffälligkeiten wahrnehmen oder wie leicht man Zugang zu Diagnostik bekommt.

Trotzdem: Diese Studien bringen eine wichtige Richtung in die Forschung und sie ermutigen dazu, die hier genannten Gedanken offen zu äußern.
Sie helfen, die extreme Spannbreite im Spektrum besser zu verstehen, und sie eröffnen die Möglichkeit, künftig gezielter zu fördern, und zwar angepasst an unterschiedliche genetische und entwicklungsbezogene Hintergründe.
Für manche mag sich dies nach Rückschritt anfühlen, für mich sieht das anders aus und weil ich weiß, dass es vielen anderen Familien auch so geht, sehe in der weiteren Forschung (die natürlich nötig ist) eine Chance, wissenschaftlich zu unterstreichen, was viele Familien längst wissen: Autismus ist kein einheitliches Phänomen in verschiedenen Abstufungen, sondern zum Teil sehr verschieden.

Ich wünsche mir, dass diese Erkenntnisse auch in der Neurodiversitätsdebatte mehr Raum bekommen.
Nicht, um Unterschiede aufzureißen, sondern um Wirklichkeit abzubilden, ohne diejenigen zu sehen, die nicht nur (nach außen hin unsichtbar) neurodivers, sondern darüber hinaus auch ganz sichtbar komplex beeinträchtigt sind.

Einordnung und Grenzen der aktuellen Forschung

Natürlich sollte man diese Ergebnisse nicht überbewerten oder als endgültige Wahrheit verstehen. Auch die Forschenden selbst betonen, dass es sich um vorläufige Befunde handelt, die in den kommenden Jahren überprüft und ergänzt werden müssen. Dennoch liefern sie interessante Impulse, die den Blick auf Autismus erweitern können.

Die Studie zeigt Zusammenhänge, aber sie erklärt nur einen Teil der Unterschiede. Die genetischen Varianten, die mit dem Diagnosealter und den unterschiedlichen Entwicklungsverläufen in Verbindung stehen, machen nur einen kleinen Anteil aus. Der Großteil der Unterschiede bleibt offen und dürfte durch viele andere Faktoren beeinflusst werden, etwa durch Umweltbedingungen, durch familiäre und soziale Umstände, durch individuelle Entwicklungswege und auch durch ganz praktische Dinge wie den Zugang zu Diagnostik oder die Erfahrung der Fachkräfte, die diese Diagnosen stellen.

Auch methodisch gibt es Einschränkungen. Das Diagnosealter wurde häufig rückblickend berichtet, was natürlich Spielraum für Ungenauigkeiten lässt. Zudem stammen die untersuchten Daten überwiegend aus westeuropäischen Kohorten, was bedeutet, dass die Ergebnisse nicht einfach auf andere Regionen oder Kulturen übertragbar sind. Und auch der Punkt der Komorbiditäten spielt eine Rolle: Bei später diagnostizierten Autistinnen und Autisten traten häufiger zusätzliche Diagnosen wie ADHS oder Depressionen auf. Einige Forschende weisen darauf hin, dass genau diese Überschneidungen die genetischen Unterschiede mitprägen könnten und nicht umgekehrt.

All das zeigt: Diese Studien sind kein fertiges Modell, sondern eher ein Puzzlestück. Sie geben eine Richtung vor, kein Endergebnis. Aber genau das macht sie so wertvoll. Denn sie bringen Bewegung in festgefahrene Vorstellungen und laden dazu ein, neu zu denken: über Vielfalt, über Unterstützungsbedarf und darüber, wie wir über Autismus sprechen.

Ich finde, dass solche Ergebnisse nicht spalten, sondern den Diskurs beleben. Sie ermöglichen neue Gespräche zwischen Wissenschaft, Praxis und gelebtem Alltag. Und selbst wenn noch vieles offen ist, entsteht dadurch etwas sehr Wichtiges: ein differenzierteres Verständnis. Für mich ist das der eigentliche Fortschritt.

wer hier schreibt

Silke Bauerfeind

Gründerin von Ellas Blog (2013), Buch- und Kurs-Autorin, Kulturwissenschaftlerin, psychologische Beraterin, Referentin. 

"Ich verbinde persönliche Erfahrung mit Wissen rund um Autismus, Teilhabe und Familienrealität. Mein Schwerpunkt liegt auf Autismus mit hohem Pflege- und Unterstützungsbedarf – Themen, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft zu kurz kommen"

Zum Weiterlesen:

KOMMENTARE

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  1. Liebe Silke,

    aus deinen letzten Beiträgen klingt Enttäuschung und fast so etwas wie Verbitterung über bestimmte Entwicklungen. Gleichzeitig wirkt es so, als wenn du wieder mehr zu deinen Ursprüngen zurückgekehrt bist und falsche Hoffnungen hinter dir gelassen hast.

    Deine Sorge um die Verwendung des Wortes Neurodiversität teile ich, weil Autismus in bestimmten Kreisen längst keine Diagnose mehr ist, sondern ein identitätspolitisches Label. Den Neurodiversitätsbewegung hat auch Gutes erreicht, aber sie darf nicht zu abgehoben werden. Deshalb ist es wichtig, dass es immer wieder Stimmen gibt, die den Realitätsbezug annahmen. Du hast diese Ausgewogenheit immer gut hinbekommen.

    In diesem Sinne wünsche ich mir, dass du weitermachst auf deinem ganz eigenen Weg, der immer authentisch war; auf dem du dich nie von irgendeiner Seite hast vereinnahmen lassen.

    1. Hallo lieber Dario, jetzt bin ich wirklich ein Stück weit gerührt, denn Du hast das ziemlich gut erfasst: Enttäuschung, zum Teil Verbitterung und wenn ich das hier ergänzen darf, dennoch das Ringen um Sachlichkeit und Ausgewogenheit. Das Gefühl „zurück zu den Ursprüngen“, das hatte ich auch schon. Interessant, dass Du das so spürst, aber Du liest ja schon so viele Jahre lang hier mit und kannst meine Beiträge im Kontext erfassen. Ich denke Dir sehr für Deine Rückmeldung – auch zum Thema Diversität.
      Ganz herzliche Grüße, Silke

  2. Die Vertreter der Neurodiversitäts Bewegung betrachten Autismus wie mir scheint aus einem (völlig) etwas anderen Blickwinkel als es hier die Forschung tut.

    Und ich gebe dir recht dass dadurch ein eher verkürztes Bild von Autismus entsteht.

    Auf jeden Fall eine interessante Studie die ich persönliche sehr wertvoll finde. Auch wenn sich dieses für manche gerade nach einem Rückschritt anfühlen mag, für mich ist es allenfalls ein „kurzer Schritt zur Seite“ der nötig ist, um eben noch genauere Erkenntnisse über „das Gesamt-Bild“ zu erlangen.

    Dieser Erkenntnis sollte auf jeden Fall mehr Raum zu gestanden werden, denn deren Ergebnisse sind wertvoll und auch aufschlussreich.

    „Ich finde, dass solche Ergebnisse nicht spalten, sondern den Diskurs beleben. Sie ermöglichen neue Gespräche zwischen Wissenschaft, Praxis und gelebtem Alltag. Und selbst wenn noch vieles offen ist, entsteht dadurch etwas sehr Wichtiges: ein differenzierteres Verständnis. Für mich ist das der eigentliche Fortschritt. „

    Besser kann man es doch gar nicht sagen. :)

    1. Liebe Zarinka, auch Dir als langjährige Mitleserin besten Dank für Deine Meinung.
      Ich freue mich über Deine Worte, herzlichst Silke

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Es ist immer wieder überwältigend, was wir als Eltern autistischer Kinder bedenken, organisieren und verarbeiten müssen. Neben viel Wissen und Erfahrungen, die du hier im Blog findest, ist eine solidarische Gemeinschaft unglaublich hilfreich. Das Forum plus ist ein geschützter Bereich nur für Eltern autistischer Kinder. Hier findest du außer praktischen Tipps viel Verständnis und Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen wie Du.

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