In den letzten Wochen haben mich viele Nachrichten erreicht. Manche waren ruhig und sachlich, andere verzweifelt oder voller Müdigkeit. Fast alle hatten denselben Kern: die Sorge, wie es mit Unterstützung und der Eingliederungshilfe weitergeht.
Eltern erzählen mir, dass Abläufe komplizierter werden, Entscheidungen länger dauern, Zuständigkeiten unklar sind und der Druck wächst. Einige haben das Gefühl, plötzlich wieder erklären zu müssen, warum ihre Kinder genau die Leistungen brauchen, die seit Jahren offensichtlich sind.

Je mehr Rückmeldungen ich bekomme, desto deutlicher wird, dass es gerade nicht nur um einzelne Fälle geht. Viele spüren, dass sich im Hintergrund etwas verschiebt. Und diese Unsicherheit zehrt an den Kräften. Familien, die ohnehin jeden Tag weit über ihre Grenzen hinausgehen, brauchen Verlässlichkeit. Sie brauchen nicht die Sorge, dass Unterstützungsleistungen plötzlich wackelig werden oder dass Entscheidungen stärker vom Kostendruck bestimmt sind als vom tatsächlichen Bedarf.
Was mich dabei besonders berührt, ist der leise Unterton, der in vielen Nachrichten mitschwingt. Dieses Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. Dieses Misstrauen, das entsteht, wenn man jedes Jahr neu beweisen soll, dass der eigene Sohn oder die eigene Tochter wirklich Unterstützung braucht. Und dann diese Angst, dass eine große Reform oder politische Debatte am Ende genau die trifft, die am wenigsten Kraft haben, um sich dagegen zu wehren.
Viele von euch schreiben mir, dass sie nicht wissen, was sie noch einfordern dürfen, was zumutbar ist oder wo sie anfangen sollen, wenn ein Bescheid plötzlich anders ausfällt als erwartet. Manche fragen mich, ob sie vielleicht zu viel verlangen, obwohl es einfach nur um das Nötigste geht. Andere fühlen sich schon im Voraus schuldig, bevor sie überhaupt erklären, was sie brauchen. Und einige geben zu, dass sie kaum noch Vertrauen in die Verfahren haben, weil sie oft undurchsichtig und belastend sind und zum Teil ganz bewusst Recht gebeugt werde – die Eltern könnten ja klagen, wenn sie damit nicht einverstanden seien.
Für mich ist eines ganz wichtig: Teilhabe ist kein Bonus. Sie ist kein Geschenk und keine Nettigkeit. Sie ist ein Recht. Und dieses Recht darf nicht davon abhängen, wie gut ein Budget gerade dasteht oder ob eine Leistung in ein bestimmtes Schema passt.
Besonders Familien mit autistischen Angehörigen, die rund um die Uhr einen hohen Unterstützungs- und Pflegebedarf haben, merken sehr schnell, wenn sich in den Systemen etwas verschiebt, wenn Gespräche plötzlich anders laufen, wenn Fragen kommen, die früher nie gestellt wurden, wenn man spürt, dass Entscheidungen nicht mehr nur am Bedarf orientiert sind, sondern auch an Grenzen, die eigentlich gar nicht unsere Grenzen sein sollten.
Wir merken ganz genau, dass „der Wind anders weht“ und es ist entwürdigend, mit Themen zu konkurrieren, die nicht über der angemessenen Versorgung beeinträchtigter Menschen stehen sollten.
Genau an diesem Punkt stelle ich mir zunehmend eine Frage, die auch viele von euch aufwerfen: Woran misst sich eigentlich der Wert einer Gesellschaft, wenn gespart werden muss? Ist es wirklich ein Zeichen von Verantwortungsbewusstsein, ausgerechnet dort zu kürzen oder zu verschärfen, wo Menschen auf zuverlässige Unterstützung angewiesen sind? Oder zeigt sich nicht gerade in solchen Momenten, wie ernst es uns mit Würde, Solidarität und Anstand ist?
Gerade beim Thema Schule und Wohnen spüren das viele Familien besonders deutlich. Es ist nicht richtig, Eltern mit den Worten „Es gibt keine Alternative“ allein zu lassen, wenn eine Schule überlastet ist oder ein Wohnsetting nicht mehr passt. Es ist nicht richtig, betagte Eltern, die selbst längst älter als sechzig oder siebzig Jahre sind, vor die Tatsache zu stellen, dass ihre erwachsenen Kinder aus Wohnformen herausfallen.
Ich möchte mit all diesen Gedanken vor allem für etwas sensibilisieren, das mir sehr am Herzen liegt: Es gibt Versorgungsbausteine, die nicht verhandelbar sein sollten. Bausteine, die Anstand verlangen. Die Menschenwürde verlangen. Und die nicht einfach wegfallen dürfen, nur weil Systeme überlastet sind oder weil Zahlen auf einem Blatt Papier anders aussehen sollen. Zu diesen Bausteinen gehören eine verlässliche Tagesstruktur, eine passende Wohnform, Assistenz, die bleibt, und Verfahren, die nicht entmutigen, sondern begleiten und in denen geltendes Recht nicht vorenthalten wird.
Natürlich kenne ich auch die andere Seite. Ich weiß, wie überlastet viele Systeme sind und wie viel Personal fehlt. Ich weiß, dass Verfahren komplex sind und dass es politisch oft heißt, man müsse Leistungen neu denken. Aber all das darf nicht dazu führen, dass diejenigen, die im Alltag ohnehin am meisten tragen, allein gelassen werden.
Vielleicht bist du gerade selbst in einer Situation, in der du auf eine Entscheidung wartest oder einen Bescheid nicht verstehst. Vielleicht hast du das Gefühl, dass dir Signale gesendet werden, die dir Angst machen. Oder du bist schlicht erschöpft von all den Formularen, Gesprächen und Nachweisen.
Ich möchte dir sagen, dass du nicht allein bist. Viele Familien gehen gerade denselben Weg, und viele haben dieselben Sorgen. Und sie sind berechtigt. Aber sie bedeuten nicht, dass du aufgeben musst oder dass du dich mit einem weniger zufriedengeben sollst.
Wenn du magst, kannst du deine Fragen oder Erfahrungen im Forum teilen. Oft entsteht gerade in solchen Momenten ein Gefühl von Gemeinschaft, das ein bisschen trägt. Und manchmal wird aus einer einzelnen Frage eine wichtige Diskussion, die uns allen zeigt, dass wir nicht allein sind. Und manchmal entstehen wertvolle, kreative Ideen.
Appell für verlässliche Teilhabe / Textvorlage
Zum Schluss möchte ich noch etwas mitgeben, das ihr gerne weitertragen könnt, wenn ihr möchtet. Viele haben geschrieben, dass sie sich hilflos fühlen, wenn Entwicklungen in der Eingliederungshilfe oder in der Versorgung verunsichern. Deshalb hier ein Textbaustein, den du an Abgeordnete, Ämter, Träger oder andere Verantwortliche schicken kannst. Du kannst ihn gerne übernehmen, kürzen oder mit deinen eigenen Worten ergänzen und abändern.
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich bitte Sie darum, bei allen aktuellen und zukünftigen Entscheidungen zur Eingliederungshilfe und zur Unterstützung von Menschen mit Behinderung eine Sache nicht aus dem Blick zu verlieren:
Teilhabe ist ein Menschenrecht und kein optionaler Kostenpunkt. Sie darf nicht von finanziellen Engpässen oder verwaltungsinternen Grenzen abhängig gemacht werden. Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf und ihre Familien brauchen stabile, verlässliche Strukturen und Entscheidungen, die sich am tatsächlichen Bedarf orientieren.
Bitte nehmen Sie die Sorgen der Familien ernst, die derzeit spüren, dass Leistungen wackelig werden. Bitte lassen Sie Eltern nicht allein, wenn z.B. Schulen oder Wohnformen an Grenzen geraten. Und bitte setzen Sie betagte Mütter und Väter nicht der Angst aus, dass ihre erwachsenen Kinder aus vertrauten Wohnsettings herausfallen. Das widerspricht dem, was eine solidarische Gesellschaft ausmacht.
Ein weiterer Punkt ist besonders wichtig: Pflegende Angehörige tragen diese Gesellschaft in einem Ausmaß, das oft unsichtbar bleibt. Rund achtzig Prozent aller pflegebedürftigen Menschen werden von Angehörigen gepflegt, und dazu gehören auch pflegende Eltern von behinderten Kindern und Erwachsenen. Diese Familien sind keine Randgruppe. Sie sind eine stabilisierende Säule unseres Sozialsystems. Wenn man ihnen die Bedingungen verschärft, Leistungen reduziert oder Verfahren unnötig belastend macht, dann gefährdet man genau diese Säule. Statt Druck brauchen sie Anerkennung, Unterstützung und Verlässlichkeit.
Es gibt Versorgungsbausteine, die nicht wegbrechen dürfen. Dazu gehören sichere Wohnformen, passende Tagesstrukturen, das Recht auf Bildung, ausreichend Assistenz und Verfahren, die Menschen stärken statt entmutigen. Diese Bausteine stehen für Anstand, für Würde und für ein gesellschaftliches Selbstverständnis, das niemanden zurücklässt.
Ich bitte Sie herzlich, genau dafür einzustehen und Entscheidungen so zu gestalten, dass echte Teilhabe möglich bleibt, und zwar für alle Menschen, unabhängig vom Ausmaß ihres Unterstützungsbedarfs. Und ich bitte Sie, pflegende Angehörige nicht weiter zu belasten, sondern sie in ihrer unverzichtbaren Rolle zu stärken. Denn ohne diese Familien würde unser Versorgungssystem längst nicht mehr tragen.
Mit freundlichen Grüßen
Dein Name
Wunderbar auf den Punkt gebracht!! Mir laufen die Tränen, denn hier wird ausgesprochen, was so viele und auch ich als Mama eines autistischen Sohnes fühlen: das Eis, auf dem wir gehen, wird immer dünner.
Liebe Lisa, danke für Deine Nachricht hier… und ich freue mich, dass Du Dich gesehen fühlst durch den Beitrag. Du hast Recht mit dem Eis….
Herzlichst Silke