Selbsthilfe wird immer wichtiger in Zeiten, wo Ressourcen wegbrechen und eklatanter Mitarbeiter- und Fachkräftemangel herrscht. Ich freue mich riesig, euch mit Thomas einen sehr engagierten Gesprächspartner vorstellen zu dürfen. Er ist Autist, aktuell stellvertretender Vorsitzender von „autismus Bayern e.V.“ und betreibt selbst einige Webauftritte. Aber lest selbst…..

Hi, Thomas magst du dich kurz selbst vorstellen, bitte? Wer bist du und was hast du mit dem Thema Autismus und Selbsthilfe zu tun?
Hallo Silke, schön, dass wir uns heute zum Thema Selbsthilfe austauschen können. Mein Name ist Thomas Schneider, ich bin selbst Autist und seit meiner Autismus-Diagnose im Jahre 2015 in der Autismus-Selbsthilfe aktiv.
Seit 2016 schreibe ich auf meiner Webseite über Autismus aus der Innensicht und seit Anfang 2019 etwa betreibe ich eine Online-Plattform zur Vernetzung der Autismus-Selbsthilfe. Aber die meiste Zeit stecke ich aktuell in unseren Landesverband, um das Thema Autismus auf Landesebene politisch voranzubringen.
Was bedeutet „Selbsthilfe“ für dich persönlich?
Für mich bedeutet Selbsthilfe, mit anderen in Austausch zu treten, sich in den Denkmustern und Verhaltensweisen wiederzuerkennen, aber auch Impulse zu finden, den eigenen Alltag besser bestreiten zu können und den „eigenen Autismus“ besser zu verstehen.
Selbsthilfe bedeutet für mich aber auch, selbst aktiv zu werden und für die Verbesserung der Lebensqualität aller einzutreten. Dies bietet noch einmal einen ganz anderen Zugang, Dinge anzupacken und Selbstwirksamkeit zu erleben.
Welche Missverständnisse begegnen dir häufig, wenn du über Selbsthilfe sprichst?
Ich denke, dass Selbsthilfe gedanklich oftmals nur mit Selbsthilfegruppen in Verbindung gebracht wird, die sich in klinisch, sterilen Räumen treffen und sich in einem Stuhlkreis sitzend über Themen austauschen. Diese Gruppen gibt es natürlich und je nach Kontext mag das auch das richtige Setting sein, aber die Selbsthilfelandschaft ist weitaus individueller als man auf den ersten Blick meint.
Ich kenne nämlich auch Selbsthilfegruppen, die sich vielmehr als Stammtische verstehen, sich in einem Café oder Restaurant treffen und gemeinsam einen schönen Abend verbringen wollen. Gesellige Autisten sprengen vielleicht die Vorstellungskraft, aber auch Autisten wünschen sich Sozialkontakt und können absolut gesellig sein – sofern die Rahmenbedingungen passen und die Gruppe entsprechend kompatibel zusammengestellt ist.
Dasselbe gilt natürlich auch für Gruppen, die sich hauptsächlich aus Eltern oder Angehörigen zusammensetzen. Klar, geht es auch mal um die Probleme oder die Steine, die einem mal wieder in den Weg gelegt werden, aber hauptsächlich geht es doch darum, positive Erfahrungen zu sammeln, sich auszutauschen und einmal verstanden zu werden, ohne sich ständig rechtfertigen zu müssen.
Das größte – nennen wir es einfach mal – Missverständnis begegnet mir allerdings innerhalb der Selbsthilfearbeit – also ganz Allgemein der Selbstvertretung unserer Interessen in der Gremienarbeit.
Ich glaube, dass hier noch sehr häufig Selbsthilfe oder Selbstvertretung mit Laienarbeit verwechselt, ja missverstanden wird und entsprechend auch weniger anerkannt wird. Dabei ist gerade eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe aller Beteiligten – und dazu zählen selbstverständlich auch die Vertreter der Angehörigen und der Betroffenen – enorm wichtig, um das bestmögliche für alle erreichen zu können.
Dabei wäre es ein großer Fehler, die Expertise der Selbsthilfe zu unterschätzen oder gar herabzuwürdigen. Experten in eigener Sache sind Experten. Und so sollten sie auch betrachtet werden.
Gibt es etwas, das du dir früher gewünscht hättest – etwas, das dir in der Selbsthilfe begegnet ist, aber viel zu spät?
Verständnis. Recht viel mehr gibt es da aus meiner Sicht nicht zu sagen. Verständnis und das Wiedererkennen in Anderen war eine der wichtigsten Säulen im Prozess meiner – anfänglichen – „Selbstdiagnose“ über die klinische Abklärung und bis hin zur Selbstakzeptanz.
Verständnis durch andere und die Erkenntnis, zwar anders zu sein, aber zugleich gut zu sein, wie man ist, ist meiner Ansicht nach die Basis dafür, sich selbst akzeptieren zu können.
Was war der kleinste Schritt, der für dich eine große Wirkung hatte?
Der erste Schritt auf dem Weg zu meiner Autismus-Diagnose. Ohne diesen kleinen ersten Schritt wäre ich heute nicht der, der ich bin und hätte auch nicht den Blick auf mich selbst, den ich heute dadurch haben kann.
Wie hat sich deine Vorstellung von Hilfe und Unterstützung im Lauf der Zeit verändert?
Ich weiß nicht, ob sich meine Vorstellung diesbezüglich tatsächlich verändert hat.
Ich glaube, es ist wichtig, Hilfe und Unterstützung nicht nur in den großen Dingen zu suchen oder zu erkennen. Hilfe und Unterstützung findet man ganz oft in kleinen Dingen oder Gesten und häufig auch an Orten, an denen man es gar nicht vermutet hätte. Gerade diese kleinen Impulse sind enorm wichtig, denn sie geben uns die Kraft weiterzumachen und sind die Leuchtfeuer auf unserem Weg, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Insbesondere in Zeiten, in denen es immer häufiger vorkommt, dass notwendige Hilfen verweigert werden, der Zugang erschwert wird oder die Bürokratie einen Stein nach dem anderen in den Weg legt. Die kleinen Hilfen und die Personen auf unserem Weg. sind dabei oftmals die wertvollsten Bausteine, um Schritt für Schritt die „große Unterstützung“ überhaupt erlangen zu können.
Was war das Wertvollste, das dir jemand aus der Selbsthilfe einmal gesagt oder geschrieben hat?
Dass sich jemand, der sein ganzes Leben mit sich selbst gehadert hat, aufgrund meiner Berichte aus der Innensicht nun selbst besser verstehen kann. Wenn mir Autisten mitteilen, dass ich ihnen „aus der Seele spreche“ und Angehörige mir schreiben, dass sie ihr Kind, ihren Partner, etc. nun besser verstehen können, dann ist das für mich die wertvollste Rückmeldung, die ich bekommen kann. Denn das zeigt mir, dass es mir zumindest in einigen Fällen gelungen ist, meinem ganz persönlichen Anspruch gerecht zu werden. Nämlich als Brückenbauer und Dolmetscher zu fungieren.
Wo siehst du die größten Potenziale, wenn wir Selbsthilfe neu denken – gerade mit Blick auf Autistinnen und Autisten und ihre Familien?
Gerade in dieser schwierigen Zeit ist es wichtiger denn je, dass die Selbsthilfe gestärkt wird und ihr ein ganz anderer Stellenwert beigemessen wird. Eine starke Selbsthilfe bietet nicht nur den Autisten und ihren Angehörigen einen geschützten Raum und Rückhalt, sie kann und sie sollte auch als starker Partner angesehen werden.
Wenn nicht die Selbsthilfe, wer sonst könnte einen derart authentischen Einblick in die Lebensrealität von Autisten und Familien mit autistischen Kindern oder gar in die Innensicht von Autisten selbst bieten? Das größte Potenzial liegt doch darin, die Erfahrungen aller Beteiligten als Wissensschatz zu betrachten und diese enorme Expertise z.B. in Form eines Wissensspeichers für Fachkräfte zugänglich zu machen.
Gerade wenn es darum geht, Autismus – und dabei meine ich das gesamte Spektrum und alle Blickwinkel – realistisch einem breiten Teil Gesellschaft näherzubringen, kommen wir meiner Meinung gar nicht umhin, diese Expertise anzuzapfen. Aus je mehr Blickwinkeln wir das Spektrum betrachten, desto stimmiger wird das Gesamtbild und desto besser können wir die Personen, die in ihrem beruflichem Kontext mit Autisten zu tun haben, auf den Umgang mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum vorbereiten.
Die Selbsthilfe ist eine der Säulen, die unsere Gesellschaft tragen und wir sollten ihr auch nicht weniger als das beimessen.
Was hilft dir, dranzubleiben, wenn du das Gefühl hast, dass dein Engagement zu wenig gesehen wird?
Die Tatsache, dass es nicht um mich geht und es in unserer Gesellschaft so viele Menschen gibt, die davon abhängig sind, dass sich jemand für ihre Interessen einsetzt und zumindest versucht, ihnen eine Stimme zu geben.
Wenn du einem Menschen, der gerade erst anfängt, sich mit Selbsthilfe zu beschäftigen, etwas Kurzes mitgeben dürftest – was würdest du sagen?
Es ist nicht entscheidend, wie viel du einbringen kannst – wichtig ist, dass du dich einbringst. Jeder Beitrag ist wertvoll und wichtig. Selbst kleine Beiträge können Großes bewirken, wenn es nur genügend Menschen gibt, die sich gemeinsam für eine Sache einsetzen.
Wenn ihr glaubt, dass das was ihr macht, einen positiven Einfluss auf andere haben kann, dann macht es. Nur agiert nicht gegeneinander. Am Ende schadet das nur allen und bindet die ohnehin knappen Ressourcen. Ich sage immer „es ist genügend Autismus für alle da“.
Lieber Thomas, ich danke dir sehr für dein großartiges Engagement und dass du diese wichtigen Gedanken und deine Erfahrung mit uns teilst. Vielleicht führt es ja dazu, dass sich die eine oder der andere nun auch gerne engagieren möchte – das wäre klasse.
Danke und alles Gute für dich!
Hier nochmal die Website von Thomas und die Selbsthilfeplattform, die er initiiert hat.
Schreibt ihm gerne über seine Seite, wenn eure Gruppe oder dein eigenes Engagement dort noch fehlt.