Immer wieder höre ich von Familien, deren Kinder als unbeschulbar gelten und dann zuhause bleiben. Lediglich ein paar Stunden pro Woche kommt im Idealfall ein Lehrer nach Hause. Wie kann das sein? Kinder haben doch nicht nur eine Schulpflicht zu erfüllen, sondern auch ein Recht auf Bildung.
Für einige ist nach einem häufig langen Leidensweg die web-individualschule mit Sitz in Bochum eine absolut lohnende Alternative.
Der Schulleiterin Sarah Lichtenberger durfte ich ein paar Fragen stellen.
Sarah ist 37 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder. Seit 12 Jahren leitet sie die web-individualschule in Bochum.
Hier werden via Internet im 1:1 Kontakt täglich psychisch und physisch erkrankte Kinder beschult, die von der Schulpflicht befreit oder dauerhaft krank sind.
„Unsere Team besteht aus Lehrern, Psychologen, Sozialpädagogen und Erziehungswissenschaftlern. Unsere Lehrer sitzen alle in dem Bürogebäude in Bochum“, erklärt Sarah.
Wie läuft der Unterricht ab? Gibt es einen Stundenplan, Klassenlehrer, Pausen und Ferien wie in normalen Schulen?
Unsere Lehrer melden sich täglich via Skype bei ihren Schülern, besprechen die Inhalte des Tages und versorgen die Schüler mit Material.
Muss man pünktlich sein oder ist es egal, wann man den Computer zuhause anschaltet?
Es gibt feste gemeinsam vereinbarte Zeiten am Tag. Wir achten sehr auf den Tagesablauf des Schülers und versuchen die Schulzeit möglichst passend zu integrieren (Therapien, Medikamente usw).
Gibt es Unterrichtseinheiten, die mehrere Schüler gleichzeitig ansehen?
Wir unterrichten nur im 1:1 Kontakt.
Schreibt Ihr auch Klassenarbeiten?
Da wir täglich die bearbeiteten Materialien zurückbekommen und wir so regelmäßig sehen welche Fortschritte der Schüler macht, sind Klassenarbeiten nicht notwendig.
Welche Abschlüsse kann man machen?
Wir bieten den Förderschulabschluss, den Hauptschulabschluss nach Klasse 9&10 sowie den Realschulabschluss an.
Haben Eure Schüler auch Kontakt untereinander? Sind sie manchmal vor Ort?
Zu Gesprächen o.ä. bekommen wir manchmal Besuch. Die Schüler lernen aber zu Hause, in der Klinik oder in einer Einrichtung. Wenn unsere Schüler da sind, wird auch mal gekickert oder PlayStation gespielt!
Besuchen viele AutistInnen die Schule? Welche Erfahrungen macht Ihr mit autistischen SchülerInnen?
SchülerInnen, bei denen eine Diagnose aus dem Autismus-Spektrum gestellt wurde, haben wir inzwischen viele. Für sie gilt zunächst einmal, wie für alle unsere SchülerInnen, dass kein Mensch allein über eine Diagnose verstanden werden kann.
Ein individueller Zugang und die Berücksichtigung der persönlichen Vorlieben, Ängste und Vorerfahrungen sind hier besonders wichtig. Viele autistische SchülerInnen haben vorher im Schulsystem Misserfolge erlebt, manchmal inhaltlich, vor allem aber bezogen auf das „Drumherum“ im normalen Schulalltag. Die Flut an Reizen, viele soziale Situationen, aber auch uneindeutige Aufgabenstellungen und Missverständnisse können dazu beitragen.
Hier ist es dann besonders wichtig, einen sicheren Rahmen zu bieten, der es ermöglicht, sich (wieder) als erfolgreich zu erleben und lernen zu können, ohne allzu viel Ballast nebenher tragen zu müssen.
Allerdings ist es auch wichtig, nicht zu versuchen, die „perfekte Welt“ ohne Unvorhersehbarkeiten, Missverständnisse, herausfordernde Aufgabenstellungen und so weiter zu gestalten.
Zum einen wäre das nicht möglich: Es passieren einfach Fehler, egal wie gut die Absichten der Beteiligten sind. Vor allem aber wollen wir auch auf das Leben „nach der Schule“ mit vorbereiten. Und dazu gehört, dass der Schonraum, den wir bieten können, zeitlich begrenzt ist. Es ist daher wichtig, dass unsere SchülerInnen die Erfahrung machen können, dass sie kompetent mit ihren Schwierigkeiten umgehen können.
Praktisch bedeutet das, einen offenen Umgang miteinander zu pflegen und gemeinsam zu überlegen, wie mit welcher Schwierigkeit umgegangen werden kann.
So lässt sich dann individuell entscheiden, wie durch eine Kombination von individuellen Nachteilsausgleichen, einer abgestimmten Lernstruktur und gemeinsam dosierten Anforderungen ein erfolgreicher Lernrahmen gestaltet werden kann.
Gibt es Biografien bei Euren Schülern, die sich häufig wiederholen? Welche Probleme hatten Eure Schüler in normalen Schulen?
Wie schon gesagt, ist Autismus individuell sehr unterschiedlich. Besonders häufig sind Schwierigkeiten mit zu vielen und zu starken Reizen und unklare Aufgabenstellungen und Strukturen. Hinzu kommen leider oft intensive Mobbingerfahrungen.
Auch der Wunsch, „dazu zu gehören“ und das Gefühl, „anders“ zu sein können einen hohen Belastungsgrad ausmachen. Andere SchülerInnen haben es über lange Zeit geschafft, nach außen hin „gut zu funktionieren“, der Preis dafür war aber eine ständige Überlastung, die schließlich nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Gerade für diese SchülerInnen kam dann oft hinzu, dass ihnen wenig Verständnis entgegen gebracht wurde, weil sie nach außen „ruhig und unanstrengend“ wirken, weshalb ihre Belastung nicht ernstgenommen oder schlicht übersehen wurde.
Gibt es Erfahrungswerte darüber, was die Schüler nach einem Schulabschluss bei Euch in ihrem Leben weiter machen?
Es gibt noch immer viel Kontakt zu unseren ehemaligen Schülern. Einige haben ihr Abitur gemacht und studieren, andere machen ihre Ausbildung.
Zu unseren Ehemaligen gehören Dachdecker, Sozialarbeiter, Tierpfleger usw.
Warum muss man eigentlich von der Schulpflicht befreit sein, kann aber andererseits staatlich anerkannte Abschlüsse bei Euch machen?
Die Schule erfüllt nicht die Schulpflicht. Das Kind muss von der Schulpflicht befreit sein, oder aber für die Dauer der Beschulung krankgeschrieben sein. Die Prüfung findet in unserer Kooperationsschule statt, somit ist der Abschluss staatlich anerkannt.
Welche Möglichkeiten haben Eltern, sich für ihre Kinder einzusetzen? Was ist, wenn das Jugendamt die Kosten nicht übernimmt?
Es ist auch für mich unvorstellbar wie so viele Kinder jahrelang unbeschult zu Hause sein können! Seit 13 Jahren höre täglich verzweifelten Eltern am Telefon zu und bin erstaunt wie viele Kinder keine schulische Förderung erhalten. Wir haben seit einigen Jahren einen Förderverein, sammeln Spenden und stellen nun das dritte Stipendium zur Verfügung. Das ist nicht viel, aber ich habe das Gefühl etwas getan zu haben.
Wie ist es für Dich persönlich, an der Web-Schule zu unterrichten? Wie unterscheidet sich das Verhältnis zu Deinen Schülern im Vergleich zur Regeschule?
Der Kontakt zu den SchülerInnen ist viel intensiver. Durch den 1:1-Unterricht erlebt man sich gegenseitig unmittelbarer. Das ist oft ein Vorteil, weil man individueller auf die Interessen und Bedürfnisse der SchülerInnen eingehen kann. So ist kein Unterricht wie der andere, langweilig wird es nie. Besonders große Freude bereitet es, mitzuerleben, wie die SchülerInnen ihr Selbstvertrauen und die Freude am Lernen zurückgewinnen.
Nicht unterschätzen sollte man, dass 1:1-Unterricht auch besondere Anstrengung mit sich bringt: In einer 30köpfigen Klasse kann man sich auch mal gedanklich rausziehen, im 1:1-Kontakt geht das nicht. Das macht den Unterricht fordernder und intensiver, man schafft mehr in der gleichen Zeit.
Vielen Dank, liebe Sarah, für das eindrückliche Interview. Ich wünsche Dir und allen Beteiligten – Lehrern, Mitarbeitern und nicht zuletzt den SchülerInnen – eine tolle Zeit an der web-individualschule. :-)
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Auch positive Entwicklungen kosten Kraft
Ich denke das ist sicher die ideale Lösung für viele im Autismusspektrum! Genial! Weiss jemand ob es etwas ähnliches in der Schweiz gibt?
Eine sehr gute, tolle Idee. Ich kenne einen 18 jährigen Autisten der seit März zu hause ist, weil es für ihn keine Unterbringung in einer für ihn geeigneten Einrichtung gibt. Zu hause beschulen ist eine Möglichkeit, aber er braucht Eine 1 zu 1 Betreuung. Ist Da was bekannt…Ist auch das möglich und wird gefördert.
Auch wenn überwiegend Kinder mit Autismus dort sind, ist diese Schule für alle Kinder und Jugendliche geeignet, die nicht ins Regelschulsystem „passen“!