Gastbeitrag von Maria, Autistin: „Was heißt schon…?“

veröffentlicht im Mai 2020


Gastbeitrag von Maria:

Liebe Leserinnen und Leser von „Ellas Blog“,
in letzter Zeit habe ich meine alten Beiträge noch einmal gelesen und festgestellt, dass man auch missverstanden werden kann, wenn man (als Autist) meint, sich klar auszudrücken.

Quelle: pixabay, User geralt

Als ich einmal in einem meiner Schulthemen etwas darüber schrieb, bei der „Aufklärung“ zweideutige Ausdrücke zu berücksichtigen, meinte ich tatsächlich die Aufklärung, die im Bio-Unterricht stattfindet, und nicht die über die Autismus-Diagnose. Man kann tatsächlich mit 9 Jahren über die Entstehung von Kindern bis ins Detail Bescheid wissen und mit 15 Jahren „Tante Rosa“ für eine lästige Verwandte halten. Vor allem, wenn man es in der Familie gewohnt ist, das Kind beim Namen zu nennen (RW).

Nun, damals wusste niemand, wie das eine oder andere Missverständnis einzuordnen ist und wo die Ursache liegt. Ich habe manche höflich gemeinte/diplomatische Formulierungen wie Vokabeln gelernt, ohne zu wissen, warum ich nicht intuitiv erfasse, wie sie gemeint sind (Einladung zu einer Pflichtveranstaltung …). Jetzt als offizielle Autistin habe ich im Kontakt mit anderen Betroffenen erneut das Gefühl, „Vokabeln“ lernen zu müssen. Viele Begriffe fülle ich mit völlig anderen Bedeutungen oder überhaupt nicht.

Empathie/Mitgefühl: Ich kann gar nicht sagen, ob ich welches habe. Ist das eigentlich dasselbe? Ich stehe dazu, dass ich nur mit- oder nachempfinden kann, was ich aus eigenem Erleben kenne. Es gibt eine Menge tragische Situationen, bei denen ich mir über den Verstand vorstellen kann, wie die Betroffenen sich fühlen, aber das heißt noch lange nicht, dass ich es „mitempfinde“, auch wenn ich ausdrücken kann, dass ich versuche nachzuvollziehen, wie sie sich fühlen.
„Es tut mir leid, das zu hören!“ passt nach meiner Erfahrung immer. Meine Mutter hat es schon im Kindergarten aufgegeben, mir zu erklären, warum sie friert, wenn ich ihrer Meinung nach zu dünn angezogen bin. Meinen Neffen frage ich, ob er friert, und wenn er „Nein“ sagt, ist die Sache für mich erledigt. Damit, dass er etwas anders empfindet als ich oder seine Eltern, kann ich leben. Das Beispiel hinkt vielleicht (RW), aber ich hoffe, Ihr versteht, was ich meine.
Entsprechend kann ich mit dem Begriff „fremdschämen“ nichts anfangen. Mir ist es nicht peinlich, wenn ein anderer etwas falsch macht! So ist es auch mit emotionalen Sachen. Übrigens finde ich es meinerseits nicht besonders „empathisch“, noch mehrfach nachzufragen und nachzubohren, wenn der andere deutlich gesagt hat, dass alles in Ordnung ist, keine Probleme vorliegen ect.

Kompensieren: Wenn es bedeutet, mit seinen Stärken seine Schwächen auszugleichen, dann kompensiere ich bewusst und gerne. Wenn sich jemand schwer tut zu telefonieren und lieber E-Mails und WhatsApps verschickt – kompensiert er oder sie dann schon? Oder jemand, der dazu steht, dass Massenveranstaltungen nicht sein Ding sind (RW) und sich nach dem Weihnachtsessen mit den Kollegen verabschiedet und nicht mehr mit auf den Weihnachtsmarkt geht … oder als extremer Morgenmensch schon vor der Arbeit oder bevor der Partner aufsteht, den halben Haushalt erledigt hat, wenn man genau weiß, dass man nach der Arbeit oder der gemeinsamen Unternehmung froh ist, wenn man es schafft, die Spülmaschine anzustellen. Anstrengend sind in solchen Situationen nur die Diskussionen, nicht die „Problemlösung“ als solche.

Durch die Corona-Krise habe ich ein neues Wort gelernt: „systemrelevant“. Ob es mir gefällt, ist auch noch eine gute Frage. Man kann nur systemrelevant sein oder auch nicht, solange das System besteht.
Und ich bin mit meiner beruflichen Tätigkeit, die ich nach wie vor jeden Tag ausübe, nicht systemrelevanter als eine Mutter, die sich um ihr Kind kümmert.

Viele Grüße „Maria“

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KOMMENTARE

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  1. Ist das nicht eher andersrum, die Mutter friert und deshalb soll sich das Kind warm anziehen, obwohl es nicht friert und es auch objektiv nicht zu kalt für kurze Hosen ist?

    Was Empathie betrifft : Empathie ist nicht deckungsgleich mit Mitgefühl.
    Empathie kann auch genutzt werden, um anderen Menschen zu schaden. Dazu fallen mir Heiratsschwindler und Mobbing ein.
    Wenn mir aber jemand sagt, dass es ihm schlecht geht und er Schmerzen hat, obwohl ich es ihm nicht von alleine angemerkt hätte und ich ihn frage, ob ich ihm helfen kann (und es tue) und ihm gute Besserung wünsche –
    Dann hab ich sicher keine Empathie bewiesen, aber Mitgefühl schon.
    Liebe Grüße

  2. „Meine Mutter hat es schon im Kindergarten aufgegeben, mir zu erklären, warum sie friert, wenn ich ihrer Meinung nach zu dünn angezogen bin.“

    Bei mir ist es heute mein Mann (aber auch schon mal z.B. der Nachbar) der mir erklären möchte warum er zu schwitzen anfängt wenn er sieht wie ich mich im Frühjahr oder auch im Sommer kleide. (Als ich noch Kind war, waren es meine Eltern oder Geschwister und andere aus dem Umfeld).

    Er ist der Meinung dass meine Kleidung nicht der Jahreszeit entsprechend passend ist, dass ich also aus deren Sicht viel zu warm gekleidet bin und daher schwitzen müsste.

    Die meisten Menschen in meinem Umfeld verstehen einfach nicht dass ich Temperaturen anders wahrnehme (Winter wie Sommer) als dies bei ihnen der Fall ist. Deshalb nervt es mich manchmal wenn ich gefragt werde ob ich denn nicht schwitzen würde so wie ich gekleidet bin.

    Sie selbst schwitzen in diesem Augenblick auf keinen Fall denn sie sagen mir immer dass doch eine schöne angenehme Temperatur bestehen würde und man sich daher ihr entsprechend kleiden muss.

    „Nein, wenn ich schwitzen würde hätte ich ja andere Kleidung an.“ Oder „ist dir nicht kalt? Wenn ich sehe wie du rumläufst fange ich an zu frieren“.

    „Nein, wenn mir kalt wäre würde ich mich natürlich anders kleiden.“

    Ich kleide mich so wie ich es für mich persönlich am angenehmsten finde und nicht wie andere es gerne hätten nur weil bei diesen Menschen ansonsten „das eigene Temperaturempfinden“ aus den Fugen zu geraten scheint und sie zu schwitzen oder zu frieren anfangen. :)

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