Gastbeitrag von Maria, Autistin: Das ganze Leben ist ein Quiz

veröffentlicht im Februar 2019


Quelle: pixabay, User: Tumisu

… oder: Stellt Euch vor, Ihr seid unmusikalisch, aber in eine Gesellschaft hineingeboren, in der man singt!

Die Voraussetzungen sind grundsätzlich gegeben: Ihr seid fähig, Euch Texte und Melodien zu merken und Noten zu lesen. Zunächst seid Ihr auch bereit, mehr zu üben, Euch jemanden zu suchen, der mit Euch übt oder an dem man sich orientieren kann.
Aber trotzdem trefft Ihr trotz aller Mühe nicht immer jeden Ton. Mit ein bisschen Glück steht die Familie hinter Euch, und Ihr findet Freunde, die zu Euch halten. Manchmal solche, die selbst den einen oder anderen schiefen Ton singen, keine Lust dazu haben, Probleme mit den Stimmbändern haben, sich leicht erkälten oder es faszinierend finden, dass Ihr Euch sozusagen zum Ausgleich mehr als andere mit dem Hintergrund der Lieder, Dichter und Komponisten befasst.
In so einer Situation kann man nur beschließen, das Beste daraus zu machen, dass man nicht perfekt ist, wie immer das für einen persönlich aussehen mag.

Vielleicht geht das Beispiel dem einen oder anderen zu weit.
Es reicht schon, wenn das Umfeld eine Sprache spricht, die Ihr Euch bemüht zu lernen, die Euch aber nicht liegt. „Möchtest Du das nicht so und so machen?“ kommt bei mir etwa so an, wie wenn man mir die Anweisung auf Englisch gibt: Ich verstehe es, muss aber erst einmal umschalten auf die andere Sprache.
Ein direktes „Ich möchte, dass Du das so und so machst!“ kommt schneller und effektiver zum Ziel.
Die diplomatische Variante habe ich tatsächlich wie eine Vokabel gelernt, ebenso, dass sich hinter einer „Einladung“ eine Pflichtveranstaltung verbergen kann.
Dass „Diplomatisch“ eine Fremdsprache ist, habe ich nie wirklich geglaubt, dazu habe ich das Wort zu spät im Leben in einem eindeutigen Zusammenhang gelernt. Aber manchmal kommt es mir so vor.

Daher könnt Ihr Euch, zur Überschrift passend, vorstellen, das ganze Leben sei tatsächlich ein Quiz.
Ihr könnt Verhaltensmuster und Benimmregeln auswendig lernen, aber sobald es kein Richtig und kein Falsch gibt, oder sobald eine Person eine Anweisung gibt und die nächste sie relativiert oder das Gegenteil sagt, seid Ihr unsicher.
Ihr könnt aus mehreren Möglichkeiten, wie bei einem Quiz, die richtige wählen oder falsch liegen. Manchmal könnt Ihr Euch durch Nachfragen einen 50-50-Joker schaffen oder in Form einer neutralen dritten Person einen Telefonjoker. Naheliegend wäre ein Ausschlussverfahren über den Verstand, aber so eindeutig ist die Situation nicht immer.
Ich springe z. B. natürlich nicht aus dem Fenster, nur weil man mir das sagt, aber ein „Morgen kommen wir alle in roten Pullis!“ glaube ich durchaus und bin irritiert, wenn ich die einzige bin. Bei wichtigeren Dingen habe ich die Erfahrung gemacht, dass es am besten ist, ich lese mir alles von der Arbeitsanweisung bis zu den Spielregeln in Ruhe durch, zumal ich nicht einschätzen kann, wo die berechtigte Nachfrage aufhört und wo das Nerven des anderen anfängt.

Ich hoffe, Ihr könnt Euch nun ein Bild machen (RW), wie es im Kopf einer Autistin oder eines Autisten aussehen kann.

LG „Maria“

***

Weitere Gastbeiträge von Maria:

Maria als Autistin über ihre Schulzeit: „Wichtig sind vor allem Kommunikation und Geduld“.

Maria: „Meine Diagnose sollte nicht wichtiger oder interessanter als andere Wesensmerkmale sein.“

Zum Weiterlesen:

KOMMENTARE

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  1. Liebe Maria,
    vielen Dank für Deinen Beitrag.
    Wie immer sooo schön erklärt…
    „Ein direktes „Ich möchte, dass Du das so und so machst!“ kommt schneller und effektiver zum Ziel.“
    „Ich springe z. B. natürlich nicht aus dem Fenster, nur weil man mir das sagt, aber ein „Morgen kommen wir alle in
    roten Pullis!“ glaube ich durchaus und bin irritiert, wenn ich die einzige bin.“
    In diesen 2 Sätzen, finde ich meinen Sohn wieder.

  2. Vielen Dank, das ist exakt genau das was ich auch fühle.
    Ich suche immer jemanden der mir etwas bestätigt.
    Es ist oft schwer selbst zu entscheiden was richtig und was falsch ist.
    Der Telefonjoker ist dann die Lösung wenn niemand da ist der bestätigen kann..

  3. Das ist ein guter Vergleich mit dem Quiz. Ich hätte den Satz: Warum machst Du es nicht so oder so? auch eher als Angebot einer Alternative und nicht etwa als Anweisung, es doch bitte anders zu machen, verstanden. Auch Ironie oder das Gegenteil zu ssagen von dem, was man meint, finde ich irritierend. Oder, wenn Leute einen einladen, dann aber wegen akuter Grippe absagen, und ich nie weiß, ob sie nur eine Ausrede benutzen, und ob die Einladung je ernst gemeint war etc. Wie in einem Land mit einer Bevölkerung mit anderer Mentalität, die man nie ganz durchschaut. Ich sage auch oft, gäbe es doch eine Grammatik für gutes Benehmen. Es ist wie beim Erlernen einer Fremdsprache, man kann sie zwar gut beherrschen,aber ganz wird man sie doch nie verstehen und lernen. Oft ziehen sich Leute zurück, oder ich werde nicht gemocht, und ich weiß gar nicht, warum. „Für den diplomatischen Dienst würde ich Dich jetzt nicht gerade vorschlagen“, hat mir ein Freund mal wohlwollend gesagt. Bei richtigen Quizsendungen sagen NTs auch oft: Ich rate mal aus dem Bauch heraus; und dann stimmt es auch noch. Wie die das machen, und wie man „mit dem Bauch“ rät, habe ich bisher noch nicht rausgefunden. Ich sage immer, mir fehlt das dritte Auge und der sechste Sinn, und es gibt offenbar noch eine geheime Welt hinter der sichtbaren, auf einer feinstofflichen Ebene , die mir verborgen bleibt, zu der andere aber den Zugang haben.

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